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Veröffentlicht am 01.07.2023

Tolle Ideen und Ansätze, aber Schwächen im Schreibhandwerk

Der mexikanische Fluch
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Mexican Gothic (wenn ihr mich fragt, der treffendere Titel) hat mich schon neugierig gemacht, als es 2020 im Original erschien und ich hatte mir sehnlichst gewünscht, dass es übersetzt werden würde. Als ...

Mexican Gothic (wenn ihr mich fragt, der treffendere Titel) hat mich schon neugierig gemacht, als es 2020 im Original erschien und ich hatte mir sehnlichst gewünscht, dass es übersetzt werden würde. Als dann die Ankündigung von Limes kam, war ich Feuer und Flamme und hatte dementsprechend hohe Erwartungen, als ich das Buch endlich in den Händen hielt. Vielleicht zu hohe Erwartungen?

Viktorianische Gothic Vibes in den Bergen Mexikos
Das Buch startet vielversprechend. Protagonistin Noemi, eine junge Frau aus der Oberschicht von Mexiko-City, die Partys liebt und ihre Unabhängigkeit mit einem Studium sichern will, wird von ihrem Vater im Austausch für die Erlaubnis studieren zu dürfen zu ihrer Cousine Catalina geschickt. Diese hat den Erben einer Familie von ehemaligen britischen Kolonisten geheiratet und lebt nun in deren Landhaus irgendwo in den Bergen Mexikos. Noemi soll untersuchen, was es mit dem seltsamen und beunruhigenden Brief auf sich hat, den Catalina ihnen schickte und in dem sie von Vergiftungen und einer bösen Präsens im Haus berichtet.

Wir haben hier also ein klassisches Setting der Gothic Literatur: Ein altehrwürdiges Herrenhaus, das schon bessere Jahre gesehen hat, in dem etwas Unheilvolles vor sich geht und eine junge Frau, die diesem Spuk auf den Grund geht. Besonders wird diese auf den ersten Blick klassische Schauergeschichte durch zwei Aspekte.
Zum einen das Setting. Wir befinden uns in Mexiko der 50er Jahre. Die blutigen Kämpfe der Revolution sind erst seit ca. 20 Jahre vorbei und die Folgen der Revolution noch deutlich spürbar. Diese werden auch in diesem Buch thematisiert, wenn auch nicht mit Fokus darauf, denn dadurch, dass das Herrenhaus und seine Bewohner, von der eingeheirateten Catalina abgesehen) britisch sind, hat das Buch doch sehr viele viktorianische Vibes, trotzdem ist Mexiko in vielen Details und in der Denk- und Lebeweise der Protagonistin präsent und ist Teil des Konflikts auf den das Buch hinausläuft.

Neuinterpretation der Schauerliteratur-Heldin
Der zweite Unterschied zur klassischen Gothic Literatur ist Protagonistin Noemi selbst. Waren Heldinnen früherer Schauerromane, der Zeit bedingt, in denen sie entstanden sind, Frauen, die dem Gesellschaftsbild des 19. Jahrhundert entsprachen und zumeist einen Mann an ihrer Seite benötigten um das Rätsel des Spukhauses zu lüften, kommt Noemi sehr gut alleine zurecht. Zwar bekommt auch sie Hilfe von einem männlichen Charakter, trotzdem ist das Machtverhältnis in dieser Freundschaft ganz anders, als in den großen Gothicromanen. Das ist insoweit wichtig, da Emanzipation ein zentrales Thema des Buches ist und dem/der Leser/in immer wieder in verschiedenen Formen begegnet. Sei es durch Noemi, die statt zu heiraten lieber studieren möchte, oder dem Kampf gegen die Doyles, die frauenunterdrückenden Zustände des 19. Jahrhundert und zuvor am liebsten in Stein gemeißelt auf ewig sähen. Dieser Aspekt des Romans hat mir sehr gut gefallen, auch weil Silvia Moreno-Garcia ein gutes Gespür dafür hat, dieses leider weiterhin hochaktuelle Theme so mit ihrer Geschichte zu verknüpfen, dass es allzeit präsent ist, aber trotzdem nicht im historischen Setting irritierend wirkt. Man kann nämlich zu jeder historischen Epoche feministische Romane schreiben, ohne dass es weit hergeholt oder unrealistisch wirkt, man muss es nur, wie hier, geschickt anstellen.

Es wirkt, wie ein Debütwerk*
Während Setting und Themen des Romans mich also überzeugen konnten, muss ich leider auch anmerken, dass der Plot und manche Figuren schwächeln. So bekommen wir zwar ein gutes Bild von den Antagonisten, dem gegenüber bleiben aber Noemi selbst, Catalina, Francis und auch andere Nebenfiguren etwas blass. Ein Umstand, der besonders aufgrund der Tatsache, dass wir ohnehin nur eine überschaubare Anzahl an Figuren haben, schade ist. Wenn ich schon meinen Roman, einem Kammerspiel ähnlich, auf wenige Orte und Figuren begrenze, müssen letztere einfach besser ausgearbeitet sein.
Auch dramaturgisch ist noch Luft nach oben. So dauert es zum Beispiel ziemlich lange, bevor die ersten unheimlichen Ereignisse im Haus beginnen und auch Noemis “Ermittlungen” drehen sich ein Großteil des Buches im Kreis. Im letzten Drittel hingegen wird dann so viel an Informationen und Ereignisse gestopft, dass man kaum hinterherkommt. Der Spannungsbogen und das Erzähltempo sind hier also nicht ausgeglichen. Dies mag auch mit ein Grund sein, warum die Auflösung in meinen Augen etwas wirr war. Ich mochte die kreative Idee, doch sie wirkte nicht in allen Punkten ausgereift und lässt am Ende Fragen offen, die ich als eher unbefriedigend, denn als “Offenes Ende” empfand.
Insgesamt wirkte das ganze Buch mehr wie ein Debütwerk, als wie der sechste Roman der Autorin auf mich. Das Schreibtalent und die kreativen Ideen sind da, keine Frage. Im Schreibhandwerk ist aber noch Raum für Verbesserungen.

Fazit:


Der mexikanische Fluch bietet eine interessante Mischung aus viktorianischen Gothic-Vibes und mexikanischer Geschichte. Silvia Moreno-Garcia gelingt es geschickt, Themen wie Emanzipation in die Schauerromantik einzubinden und präsent zu halten. Das Buch punktet mit einem atmosphärischen Setting und einer interessanten Neuinterpretation der Schauerliteratur-Heldin. Allerdings offenbart es auch Schwächen in Bezug auf den Plot und die Ausarbeitung einiger Figuren, was das Gesamtwerk mehr wie ein vielversprechendes Debüt denn wie das Werk einer erfahrenen Autorin wirken lässt. Trotzdem bleibt “Der mexikanische Fluch” ein lesenswertes Buch und ich werde bestimmt auch noch weitere Bücher der Autorin lesen.

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Veröffentlicht am 01.07.2023

Von Vampiren und (Aber)Glaube

Totenbraut
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Nina Blazon ist eine Autorin, die ich schon seit Längerem gerne lese. Ascheherz, Faunblut, Der dunkle Kuss der Sterne, Rabenherz & Eismund und Der Winter der schwarzen Rosen konnten mich schon verzaubern. ...

Nina Blazon ist eine Autorin, die ich schon seit Längerem gerne lese. Ascheherz, Faunblut, Der dunkle Kuss der Sterne, Rabenherz & Eismund und Der Winter der schwarzen Rosen konnten mich schon verzaubern. Nun konnte ich ein weiteres Blazon Buch von meinem SUB befreien und war mehr als gespannt.

Eine Reise ins historische Serbien voller Aberglauben und Folklore
Mit Totenbraut verließ ich nun erstmals die fantastische Faunblutwelt von Nina Blazon und tauchte ein ins historische Serbien des 18. Jahrhunderts. Doch auch wenn wir dieses Mal keine fantastische, magische Welt haben, müssen wir auf Blazon Talent für Atmosphäre und Kreativität nicht verzichten, denn statt Magie und Zauberwesen, erweckt die Autorin eine kleine Dorfgemeinschaft anschaulich zum Leben. Ein Dorf irgendwo im Nirgendwo von Serbien, in dem die Leute stark von ihren Traditionen, Gebräuchen und Aberglauben geprägt sind. Es ist eine Zeit und ein Ort, der uns aus unserer modernen Sicht fast ebenso fantastisch vorkommt, wie die Faunblutwelt und den die Autorin mit demselben feinen Gespür für die richtigen Worte Leben einhaucht. Wie so oft, wenn ich Blazons Bücher lese, arbeitete mein Kopfkino auf vollen Touren und ich konnte mir sowohl das bedrückende, schroffe Anwesen der Vukovićs als auch das kleine Dorf im serbischen Grenzland lebhaft vorstellen.

Das sich dieser Ausflug ins 18. Jahrhundert so authentisch anfühlt, liegt auch an der hervorragenden Recherchearbeit der Autorin, die man von der ersten, bis zur letzten Seite an spürt. Insbesondere was die Gebräuche, die Auslebung des orthodoxen Glaubens und den Aberglauben der ländlichen Bevölkerung dieser Region und dieser Zeit angeht, merkt man, dass Nina Blazon sich intensiv damit beschäftigt hat. Sicherlich ist nicht alles zu hundert Prozent historisch korrekt, aber das erwartet man von einem Roman auch nicht. Die Autorin hat sich künstlerische Freiheiten rausgenommen, verfälscht aber nichts und schafft es so den/die Leser/in tief in diesen Schauplatz, dieses Dorf, dass erstarrt und gefangen von der Angst und dem Aberglauben ist, eindringen zu lassen. Dabei verknüpft sie geschickt ihre fiktive Geschichte, mit realen Überlieferungen und bezieht, wie man im Nachwort erfährt, sogar einen realen historischen Fall von unerklärlichen Todesfällen mit ein.
Das Ergebnis von all dem ist, dass sich Totenbraut wie eine Zeitreise liest und einen als Leser/in ziemlich schnell in den Bann schlägt und auch nicht mehr so schnell loslässt.

Vampirismus im 18. Jahrhundert
Kommen wir zur Handlung des Buches. Gleich vorweg: Wer eine temporeiche Erzählung sucht, in der dramatische Ereignisse Schlag auf Schlag kommen und in der in kurzer Zeit viel passiert, wird mit Totenbraut nicht glücklich werden. Auch Liebhaber von den typischen Vampirromanzen werden hier nicht fündig, denn Totenbraut ist weder besonders romantisch (es gibt zwar eine Liebesgeschichte, aber die ist zurückhaltender), noch temporeich. Stattdessen bekommen wir eine Story, die sich langsam entfaltet, von der man lange nicht weiß, wo sie hinführt und die ihren dramaturgischen Höhepunkt im Hintergrund aufbaut. Doch das heißt nicht, dass das Buch langweilig wäre, auch wenn ich zugeben muss, dass einzelne Szenen etwas gekürzt hätten werden können, mein einziger Kritikpunkt. Der Großteil der Spannung wird von den vielen Geheimnissen aufrecht gehalten, die das Landgut und seine Bewohner umringen. Wie ein Puzzle setzt sich das Gesamtbild für den/die Leser/in erst Stück für Stück zusammen, noch dazu kann der Plot mit einigen Wendungen noch überraschen, als man schon dachte hinter das Geheimnis gekommen zu sein.

Worum es bei all den Geheimnissen geht, verrät ja schon der Klapptext des Buches: Vampire. Doch reden wir hier von echten Blutsaugern oder sind sie nur Einbildung, eines angsteschüttelten Dorfes? Mit dieser Frage spielt die Autorin die gesamte Handlung über. Normalerweise ist das etwas, was ich gar nicht mag (Ich will echte übernatürliche Wesen und mich nicht ständig fragen müssen, ob sie real sind oder nicht), doch Nina Blazon webt ihre Geschichte aus Aberglauben und Realität, Mystik und Historie so geschickt, dass es mich bei diesem Buch ausnahmsweise mal überhaupt nicht gestört hat. Doch ob die Vampire Serbiens nun real sind oder nicht, verrate ich euch nicht, dass müsst ihr schon alleine herausfinden, nur so viel sei gesagt: bis zum Schluss des Buches sind beide Optionen durchaus plausible und möglich.

Fazit:


Nina Blazon bleibt eine meiner liebsten Autorinnen. Auch ohne Fantasywelt schafft sie es durch die Magie ihrer Worte und eine spürbar gründliche Recherche ihr Setting des historischen Serbiens lebendig und authentisch wirken zu lassen und erschafft eine Atmosphäre, die den/die Leser/in in ihren Bann zieht.

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Veröffentlicht am 01.07.2023

Interessante Idee, aber Schwächen in der Umsetzung

Trees 1
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Diesen Comic habe ich zufällig in der Bibliothek entdeckt und ohne großartig zu wissen, worum es geht, mitgenommen. Ob mir diese Überraschungslektüre zugesagt hat, erzähle ich euch jetzt.

Die stumme Bedrohung
Von ...

Diesen Comic habe ich zufällig in der Bibliothek entdeckt und ohne großartig zu wissen, worum es geht, mitgenommen. Ob mir diese Überraschungslektüre zugesagt hat, erzähle ich euch jetzt.

Die stumme Bedrohung
Von einen Tag auf den anderen tauchen überall auf der Erde seltsame säulenartige Gebilde auf. Schnell ist klar: Sie stammen von Aliens, doch entgegen aller Erwartungen passiert nach dem Erscheinen, der als Bäume getauften Gebilde erstmal gar nichts. Weder zeigen sich die Aliens, noch kommunizieren sie und auch die Bäume scheinen nichts weiter zu tun, als stumm und teilnahmslos in der Landschaft zu stehen. Die Menschen arrangeren sich also mit ihnen, mehr oder weniger, udn wie sie das tun, das ist das Hauptthema dieses ersten Comicbandes.

“Sie stehen auf der Erdoberfläche. Wie Bäume. Üben still Druck auf die Welt aus. Als sei niemand hier.”
(Trees: Ein Feind von Warre Ellis und Jason Howard, Cross Cult, S. 10, Panel 1-4)

Der Autor setzt auf viele verschiedene Handlungsstränge. So begleiten wir ein Forscherteam in Norwegen, die Freundin eines Gangsters in Italien und einen jungen Künstler in China, dazu kommen immer wieder kurze Episoden im Rest der Welt, wie z.N New York oder Somalia. Ich mochte den globalen Blickwinkel, der es dem/die Leser/in ermöglicht, den Umgang der Menschen mit den Bäumen aus verschiedenen Teilen der Welt zu betrachten und zu sehen, wie diese auf unterschiedlichen Ebenen das Leben der Menschen verändert haben und auch Einfluss auf die (politischen) Machtgefüge nehmen. Dadurch wird “Trees: Ein Feind” mehr zu einer Geschichte über die Menschheit an sich, als über Aliens. Ellis setzt sich intensiv mit gesellschaftlichen Themen auseinander und beleuchtet unterschiedliche Perspektiven auf die Bäume. So finden wir in den unterschiedlichen Handlungssträngen u.a. einen wissenschaftlicher, einen politischer, einen künstlerisch/liberalen und einen opportunistischen Blick auf die ominösen Aliengebilde. Diese Herangehensweise verleiht dem Comic eine gewisse Tiefe und regt zum Nachdenken an, macht die Story aber auch schwer verdaulich. Man muss sich konzentrieren, um der Handlung zu folgen, der Comic ist definitiv nichts für eben mal zwischendurch.

In den vielen Handlungssträngen liegen aber auch die Tücken dieses Comics. Die Wechsel zwischen diesen sind nämlich sehr abrupt und auch sehr schnell. Dadurch wirkt der Comic stellenweise unruhig, unstrukturiert und verwirrend. Es fällt schwer, eine Bindung zu den einzelnen Charakteren aufzubauen, da man so schnell zwischen ihnen hin und her springt. Hat man sich in einer Szene orientiert, ist man auch schon fast durch, da bleibt nicht viel Raum zum näheren “Kennenlernen” der Figuren. Ein ruhigerer Erzählfluss und eine bessere Strukturierung der Handlungsstränge hätten dem Comic gutgetan, um dem/die Leser/in eine stärkere emotionale Bindung zu ermöglichen.

Der Zeichenstil des Comics ist in Ordnung, war aber für mich kein Highlight. Ein typischer amerikanischer Stil, der zwar ausdrucksstark in Mimik und Gestik ist, jedoch manchmal etwas eintönig daherkommt. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Handlungsstränge optisch besser voneinander zu unterscheiden gewesen wären. Durch den gleichförmigen Stil, grade auch in der Farbgestaltung kann es schnell zu Verwechslungen kommen, wenn man sich fragt, wo und bei welcher Figur man gerade ist. Ein klareres visuelles Unterscheidungsmerkmal zwischen den verschiedenen Handlungssträngen hätte dazu beigetragen, dass die schnellen Szenewechsel nicht so verwirrend sind.

Fazit:


Insgesamt konnte Trees: Ein Feind zwar mit seiner Idee und den gesellschaftskritischen Themen punkten, um wirklich Spaß zu machen war mir der Comic aber zu unruhig und verwirrend erzählt, wodurch eine emotionale Bindung zu den Charakteren und der Geschichte mir nicht möglich war. Da ich alle drei Bände aus der Bibo habe, werde ich in die nächsten mal reinschauen. Gekauft hätte ich sie mir aber nicht mehr.

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Veröffentlicht am 26.05.2023

Kein Endzeitroman, aber eine berührende Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt.

The Violence – Wie weit wirst du für deine Freiheit gehen?
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Als ich mit dem Lesen von diesem Buch begann, war ich voller Freude und Skepsis zugleich. Freude, weil der Klapptext eigentlich sehr vielversprechend und spannend klang. Skepsis, weil ich immer noch Gänsehaut ...

Als ich mit dem Lesen von diesem Buch begann, war ich voller Freude und Skepsis zugleich. Freude, weil der Klapptext eigentlich sehr vielversprechend und spannend klang. Skepsis, weil ich immer noch Gänsehaut von dem letzten, als feministisches Highlight gepriesenes Pandemiebuch (aka Die andere Hälfte der Welt oder auch mein Hassbuch 2022) hatte. Ich war also sehr gespannt. Hält dieses Buch, was es verspricht, oder erwartete mich das nächste Debakel?

Alle 11 Minuten wird weltweit eine Frau oder ein Mädchen von ihrem Partner oder ihrer Familie getötet (Quelle: Statistisches Bundesamt)
In Deutschland werden jede Stunde 13 Frauen Opfer von Gewalt (Quelle: ZDF Heute), jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben mindestens einmal phyische und/oder sexuelle Gewalt, etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner (Quelle: BMFSFJ). Die Täter sind im Großteil der Fälle nicht etwa der Perverse, der nachts im Busch lauert, sondern Ehemänner, Partner, Expartner. In mitunter groß angelegten Kampagnen bringt man schon kleinen Mädchen bei, sich vor dem bösen Fremden zu schützen (Stichwort Stranger Danger), dabei liegt die größte Gefahr für Frauen und Mädchen meist im eigenen zu Hause. Das Perfide: Viele Täter geben sich nach Außen als liebevolle und fürsorgliche Familienmenschen aus. Sie manipulieren und beherrschen ihre Familie bis hin zur absoluten Kontrolle. Da nach außen hin diese Täter oft als nette, ja sogar häufig als in der Gemeinschaft hoch anerkannte Menschen angesehen wird, werden die Zustände hinter verschlossenen Türen nicht erkannt und für die Opfer wird es immer schwieriger aus diesem Käfig aus Gewalt auszubrechen, da sie a) immer weiter isoliert werden und b) man ihnen mitunter einfach nicht glaubt.

"Das ist unter Missbrauchstätern eine Standardtaktik. Sie bringen dich dazu, deiner eigenen Wahrnehmung zu misstrauen, überzeugen dich, dass du dich falsch erinnerst oder dir ohnehin niemand glauben würde. Sie wollen, dass du denkst, du wärst verrückt, irrational, hilflos. Sie isolieren dich vor jedem, der dir helfen könnte, bist du niemanden mehr hast, dem du dich anvertrauen kannst. Sie wollen dich zum Schweigen bringen."
(The Violence: Wie weit würdest du für deine Freiheit gehen? von Delilah S. Dawson, Heyyne, 2023, S.395f.)

Genau in solch einer Situation befindet sich auch Chelsea zu Beginn des Buches The Violence. Nach außen hin führt sie mit ihrem Mann David die “perfekte” Ehe, haben ein großes Haus, zwei Kinder und Chelsea gibt die perfekte Hausfrau. Doch David ist ein Trinker, aber auch wenn er nicht trinkt, tyrannisiert er seine Familie, beherrscht sie, kontrolliert sie, misshandelt sie. Er schlägt und würgt Chelsea und macht auch vor seiner ältesten Tochter Ella nicht Halt. Dazu kommt noch eine narzisstische und egoistische Mutter.
Diese ersten 200 Seiten im Buch sind daher emotional schwer zu ertragen. Beim Lesen empfand ich Wut, Hass und Zorn, denn ich weiß ganz genau, dass die Autorin hier nicht im Geringsten übertreibt, sondern dass es solchen Abschaum wie David wirklich gibt. Hunderte, Tausende Davids, die tagtäglich ihre Frauen und Partnerinnen misshandeln. Das erste Drittel des Buches war daher eine Achterbahnfahrt der negativen Gefühle für mich, wobei ich betonen möchte, dass das für mich kein Kritikpunkt ist, im Gegenteil. Ein Buch, das mich emotional so abholt, in der ein oder anderen Weise macht immer etwas richtig. Aber man sollte wissen, worauf man sich einlässt, daher erzähle ich euch davon, denn abgesehen von der emotionalen Belastung, ist die Autorin auch nicht allzu zimperlich bei der Darstellung von physischer Gewalt und ja ein Hund stirbt und es wird auch genauer geschildert wie, da das ein Wendepunkt der Handlung ist. Es ist eine kurze einmalige Szene, wer aber mit dem Tod von Tieren bez. der Schilderung von dessen Tötung gar nicht konfrontiert werden möchte, sei hiermit gewarnt.

Der Weg in die Freiheit
Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem Chelsea das Violence Virus nutzen kann, um sich und ihre Töchter zumindest vorübergehend aus dem Griff ihres Ehemannes zu befreien, und ab hier beginnt der Kampf zurück zu sich selbst und in die Freiheit und das nicht nur für sie, sondern auch für ihre Tochter Ella und ihre Mutter Patricia, sodass wir in diesem Buch miterleben, wie drei Generationen von Frauen sich aus der Spirale von männlicher Macht und Gewalt zu befreien versuchen.
Die Schilderung dieses Prozesses ist die große Stärke des Buches. In einem emotionalen Vorwort berichtet die Autorin Delilah S. Dawson, dass sie selbst ein Opfer häuslicher Gewalt war und dass The Violence auch eine Form der Aufarbeitung ist. Man merkt deutlich, dass die Autorin ihre eigenen Erlebnisse verarbeitet, sowohl die Gewalt, als auch die Therapie und Heilung danach, wodurch sie die emotionalen Aspekte dieser Entwicklung sehr authentisch wiedergibt. Die Beschreibungen der Gewalt und ihrer Auswirkungen auf die Opfer sind erschreckend realistisch, aber auch einfühlsam dargestellt. Dadurch wird dem Leser bewusst, wie tiefgreifend und langanhaltend die Spuren von häuslicher Gewalt sein können.

“Ist okay. Es ist nicht deine Schuld.”
Chelsea lässt den Kopf hängen. “Es ist meine Schuld. Ich habe es zugelassen.”
[…] Es ist nicht deine Schuld. Es ist etwas, das dir zugestoßen ist, nicht etwas, das du verursacht hast. Das wäre, als würdest du sagen, du hast zugelassen, dass ein Fels auf dich runtergestürzt ist. Du hast nicht darum gebeten. Wenn Missbrauchstäter ihre Spielzüge ankündigen würden, gäbe es keine Opfer. […] Du bist nicht schwach. Du musst dich selbst nicht kleinmachen. Du darfst Gefühle haben. Du darfst wütend sein. Du darfst Platz für dich beanspruchen. Du darfst irrational und laut und hässlich sein. Du musst dich selbst nicht beschneiden. Nie wieder."

(The Violence: Wie weit würdest du für deine Freiheit gehen? von Delilah S. Dawson, Heyyne, 2023, S.396.)

Besonders beeindruckend ist der authentische Entwicklungsprozess der Hauptcharaktere. Es ist inspirierend zu beobachten, wie sie ihre Ängste und Traumata überwinden und allmählich wieder zu sich selbst finden. Diese Entwicklung ist glaubwürdig und gut durchdacht, was dem Leser ermöglicht, sich mit den Charakteren zu identifizieren und mit ihnen mitzufühlen. Es ist ermutigend zu sehen, wie sie Stärke und Mut finden, um sich aus der Gewaltspirale zu befreien.

"Mach dich niemals kleiner, nur um jemanden zu gefallen, der sich groß fühlen will."
(The Violence: Wie weit würdest du für deine Freiheit gehen? von Delilah S. Dawson, Heyyne, 2023, S.355.)

Was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat ist, dass das Buch zwar in Form von David und seine Kumpanen zeigt, wie Frauen unterdrückt und misshandelt werden, das Buch aber auch positive Männerfiguren hat. In vielen Büchern, die sich Feminismus auf die Fahne geschrieben haben, geht es nur darum, wie schlecht und böse die Männer sind (hust Die andere Hälfte der Welt), aber das hat mit Feminismus dann nicht mehr viel zu tun. Die Autorin vermittelt hingegen die wichtige Botschaft, dass Feminismus nicht bedeutet, dass alle Männer schlecht sind. Indem sie Charaktere einführt, die als Unterstützung und Hilfe für die Opfer auftreten und das ganz ohne Retter in weißer Rüstung Klischee, sondern als Unterstützer und Zuhörer, unterstreicht sie die Bedeutung von Solidarität und gegenseitigem Respekt zwischen den Geschlechtern. Das fand ich große Klasse.

War da nicht noch etwas mit einem Virus?
Doch “Moment”, denkt ihr euch jetzt vielleicht, “Du hast uns jetzt schon so viel über das Thema häusliche Gewalt im Buch erzählt, aber gab es da nicht noch eine Pandemie und ein Virus, dass alle in Killermaschinen verwandelt?” Ähm ja, die gibt es und immer wieder spielt die Pandemie auch eine wichtige Rolle in dem Buch, aber ganz ehrlich? Mit minimalen Änderungen hätte die gesamte Geschichte auch ohne das Virus funktioniert. The Violence ist in erster Linie ein Buch, dass das Thema häusliche Gewalt aufarbeitet, und das macht es auch sehr gut, als apokalyptischer Endzeitroman überzeugt es hingegen weniger, denn dafür erscheint das Virus zu unausgereift bez. die ganze Pandemie rückt nie so richtig in den Fokus und bekommt dementsprechend auch kaum Hintergrundinfos, sodass das Violence Virus stets nur ein Nebendarsteller bleibt. Da ich gänzlich ohne Erwartungen an das Buch herangegangen bin, hat mich dieser Aspekt weniger gestört, aber wer Lust auf einen richtigen Endzeitroman hat, neugierig auf das Virus ist und wie die Pandemie sich auf die Gesellschaft auswirkt, oder einfach die Welt brennen sehen will, wird mit diesem Buch nicht glücklich werden.
Dazu kommen durch die mangelnde Ausarbeitung des Virus auch einige Logikfehler und hin und wieder sind Dinge ziemlich überzogen dargestellt. Aber auch hier muss ich sagen, dass mich die Emotionalität des Buches gnädig gestimmt hat. Ich kann euch keine genaue Begründung liefern, aber was mich bei anderen Romanen an unrealistischem Verhalten und Löchern ohne Informationen auf die Palme gebracht hätte, hat mich bei The Violence nicht so gestört. Ja manches ist unrealistisch bis albern, trotzdem hat es für mich persönlich funktioniert und ich habe das Buch wirklich gerne gelesen und denke auch, dass es bei mir noch eine ganze Weile nachhallen wird.

Fazit:


The Violence ist ein Buch, dass einen vor allem emotional mitnimmt. Es ist eines jener Bücher, die dich erst auf die Palme bringen und Wunden in dein Herz reißen, um dann fein säuberlich ein wohltuendes Pflaster draufzupacken. Als Manko sind einige Logikfehler, Überzeichnungen und die Tatsache, dass das Virus und die Pandemie nur Hintergrund sind, zu nennen, was ich aber in diesem Fall nicht ganz so eng sah, da mir das Buch nach Beenden einfach ein gutes Gefühl gegeben hat.

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Veröffentlicht am 26.05.2023

Aus dem Leben eines Uhus

Strix
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Auf dieses Buch wurde ich durch Zufall aufmerksam, als ich durch die Randomhouse Vorschau stöberte. Die simple, aber doch irgendwie fesselnde Darstellung der Eule machte mich neugierig und als ich erfuhr, ...

Auf dieses Buch wurde ich durch Zufall aufmerksam, als ich durch die Randomhouse Vorschau stöberte. Die simple, aber doch irgendwie fesselnde Darstellung der Eule machte mich neugierig und als ich erfuhr, dass dieses Buch ein “wiederentdeckter” Klassiker von 1920 ist, war meine Neugierde endgültig geweckt.

Leben und Kampf eines Uhus
Der dänische Autor Sven Fleuron erzählt in diesem Buch die Lebensgeschichte, der großen und mächtigen Eule Strix Bubo. Ein Uhu Weibchen, das in den Wäldern der Fjorde ihr Revier hat. Die Geschichte beginnt, als Strix gerade auf dem Höhepunkt ihrer Kraft ist und ihn ihrem Wald gefürchtet und geachtet ist. Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise in das Leben der Eule Strix und zeigt uns die Welt aus ihrer Sicht.

"Sein Kopf ist größer als der einer Wildkatze, vorne flach abgeschnitten, so daß er das schönste Gesicht bildet. Der Schnabel ist stark und gekrümmt, und die Schneiden sind so scharf wie eine Rosenschere. Sie behandeln einen Braten meisterhaft, zerlegen ein Stück Wild im Handumdrehen. Ritsch, ratsch. […] Sie ist so groß, daß sie im Morgen- und Abendlicht, wenn sie über die Waldeswipfel herangleitet, einer kleinen Wolke gleicht – einer schwarzen und an den Rändern sonderbar zerfransten Wolke. Ihr Körper ist wie der einer Gans, und ihre Stärke gibt einen Königsadler in nichts nach. […] Die Dämmerung hat sie mit ihrem Pfeffer und Salz überstreut und die Nacht hat ihr mit schwarzem Pinsel über Flügel und Rücken gestrichen. Über die Mitte der dicken breiten Brust läuft ein weißlicher Strich […] Das ist das einzige, was wirklich hell ist an ihr, so etwas wie eine Erinnerung an den Glanz des Tages, an das Licht der Sonne – ganz willl sie sie doch nicht lassen."
(Strix: Die Geschichte eines Uhus von Svend Fleuron, Diederichs, 2023, S.8ff.)


Was an dieser Textpassage direkt auffällt, ist der Stil Fleurons, der dieses Buch seine ganz eigene Stimmung verleiht. Auf der einen Seite haben wir diese metaphernreiche, fast schon lyrische Sprache, in der alles Natürliche, sei es der Wald, der Wind, die Nacht oder die Dämmerung eine Seele und ein Wesen hat. Eine Sprache, in der die Natur und die Wildnis stark romantisiert wird. Auf der anderen Seite haben wir hart dazu im Kontrast stehend einen ungeschönten Realismus, was den Überlebenskampf und das Jagdverhalten von Raubtieren, zu denen Strix ohne Zweifel gehört, angeht. Die Beschreibungen von Jagd und Tötung sind pathoshaft und stellenweise auch brutal. Eine Jägerin zu sein und Beute zu ergreifen wird nicht simpel als Strix Art der Nahrungsbeschaffung geschildert, nein, es ist ihr ganzes Wesen.

Interessant ist, dass sich diese Glorifizierung des Rechts des Stärkeren jedoch strikt auf die Wildnis und Natur beschränkt. Svend Fleuron macht überdeutlich, dass der Mensch nicht in diese Rechnung gehört. Seine Überlegenheit wird nicht als naturgegeben, sondern als zerstörerisches Eindringen in die natürliche Ordnung dargestellt. Während der Autor Strix eine gewisse Freude an der Jagd zuspricht, weil es ihrer Natur entspräche, wird die Jagd des Menschen als eigennützige und im Sinne der Trophäenjagd sinnlose Brutalität dargestellt. Ich möchte an dieser Stelle jetzt kein Essay über die Jagd an sich schreiben, finde aber, dass dieser Punkt das Buch sehr interessant und ambivalent macht. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Svend Fleuron selbst leidenschaftlicher Jäger war.

Aktueller denn je
Neben dem Eingreifen des Menschen ins Leben der Tiere in Form der Jagd spielt noch ein weiteres Thema eine wichtige Rolle: die Bedrohung des Lebensraums durch die Ausbreitung der menschlichen Bevölkerung. Der Autor zeigt, wie Strix Lebensraum immer wieder durch Abholzung, Landwirtschaft und Städtebau bedroht ist und wie schwer es für urtümliche Tiere, wie Strix es ist, sich an diese Veränderungen anzupassen. Immer wieder muss Strix vor den Menschen fliehen und sich neue Reviere suchen, doch der Mensch dringt unaufhaltsam auch in den hintersten Fjord vor. Diese Botschaft, die in Form von Strix beständiger Suche nach der letzten Wildnis ein zentrales Thema des Buches ist, ist aktueller denn je, da die Ausbreitung der bald acht Milliarden Menschen weiterhin in nahezu ungebremsten Tempo den Lebensraum zahlreicher Tiere zerstört. So liest man zwar ein hundert Jahre altes Buch, aber trotzdem werden Leserinnen und Leser dazu gebracht, über die Bedeutung von Umwelt- und Naturschutz nachzudenken. Die Geschichte von Strix ist ein Sinnbild für den Kampf, den viele Tiere tagtäglich führen, um in einer sich verändernden Welt zu überleben.

Letztendlich habe ich abgesehen, von den zuvor bereits erwähnten manchmal übertriebenen Glorifizierung des Jagdverhaltens von Strix nur einen weiteren Kritikpunkt: Einige Passagen, insbesondere die Beschreibung des “Alltagslebens” von Strix, sind zu langatmig und wiederholend. An manchen Stellen scheint der Autor zu sehr in die Beschreibung der Handlung vertieft zu sein, anstatt die Spannung aufrechtzuerhalten.

Fazit:


Insgesamt ist “Strix” ein faszinierendes Buch, das aufzeigt, wie wichtig es ist, den Lebensraum der Tiere zu erhalten und zu schützen. Der Kontrast zwischen der poetischen Sprache und des ungeschönten Überlebenskampfes der (Raub)tiere macht das Buch auf mehrere Ebenen interessant, wenngleich der Pathos an manchen Stellen zurückgeschraubt werden könnte und andere Passagen wiederum etwas mehr Schwung vertragen hätten.

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