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Veröffentlicht am 20.01.2024

Vier Frauen, die einst unzertrennlich waren

Das mangelnde Licht
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Im Jahr 2019 besucht die Ich-Erzählerin des Romans, Keto, eine Ausstellungseröffnung in Brüssel. Hier werden die Fotografien ihrer Freundin Dina gezeigt, die zwanzig Jahre zuvor Selbstmord begangen hat. ...

Im Jahr 2019 besucht die Ich-Erzählerin des Romans, Keto, eine Ausstellungseröffnung in Brüssel. Hier werden die Fotografien ihrer Freundin Dina gezeigt, die zwanzig Jahre zuvor Selbstmord begangen hat. Gemeinsam mit Nene und Ira waren sie seit ihrer Kindheit in Tbilissi lange Zeit ein unzertrennliches Quartett. Keto wandert von Foto zu Foto und taucht dadurch in die Vergangenheit ein. Sie erinnert sich an den Beginn ihrer Freundschaft, überwiegend unbeschwerte Schuljahre und die zunehmend schmerzhafte Zeit als junge Erwachsene, in welcher ihr Land in Krieg und Chaos stürzt, sich familiäre Tragödien ereignen und sie alle konsequenzenreiche Entscheidungen treffen müssen.

Für mich ist "Das mangelnde Licht" der dritte Roman von Nino Haratischwili und ich freute mich auf eine spachgewaltige, berührende Lektüre. Gleich auf der ersten Seite, in welcher sich Keto an eine Szene mit ihren drei Freundinnen aus dem Jahr 1987 zurückerinnert, verrät sie in einem Nebensatz, dass Dina Selbstmord begangen hat. Anschließend springt die Geschichte zur Ausstellungseröffnung in Brüssel. Dieser Abend bildet die Basis, um anhand von Dinas Fotos immer wieder in die Vergangenheit zu springen, in welcher die Schicksale der vier Frauen, die einst Freundinnen waren, chronologisch erzählt werden.

Die Autorin nimmt sich Zeit, die vier Protagonistinnen und ihre Familien vorzustellen, die in Tbilissi aufgewachsen sind. Ketos Mutter ist früh gestorben, sie ist mit ihrem Bruder bei ihrem Vater und ihren beiden Großmüttern aufgewachsen. Dieser wird als junger Erwachsener Teil der organisierten Kriminalität und gerät damit in einen Konkurrenzkampf zu Mitgliedern aus Nenes Familie. Diese hat für Nene strategische Heiratspläne, die nicht zu deren eigenen Wünschen passen. Auch Dina findet sich aufgrund ihrer Gefühle zwischen feindlichen Fronten wieder. Ira kann das Geschehen nur hilflos beobachten und schwört, eines Tages einzugreifen.

Der Roman wirkte schnell eine Sogwirkung auf mich aus. Die Autorin schreibt mit einer klaren, feinfühligen Sprache, während ich zusah, wie die Protagonistinnen die unbeschwerten Tage hinter sich lassen und sich einer grausamen Welt stellen müssen. In dieser werden ihre eigenen Wünsche immer wieder überhört und sie müssen schwere Entscheidungen treffen, um zum einen die zu schützen, die sie lieben, und sich zum anderen nicht selbst zu verlieren. Ein großer Teil des Dramas spielt sich innerhalb der Familien und Liebesbeziehungen ab, gleichzeitig wird die Handlung von der politischen Situation in Georgien beeinflusst, in welche ich Einblicke erhielt.

Es gibt in diesem Roman einige wirklich heftige Szenen, die für mich schmerzhaft zu lesen waren. Gleichzeitig bleibt immer ein Funken Hoffnung bestehen, dass den Protagonistinnen ein Befreiungsschlag und Selbstverwirklichung gelingen, auch wenn ich von Beginn an wusste, dass es für Dina kein gutes Ende gibt. "Das mangelnde Licht" ist ein eindringlich geschriebener, dramatischer Roman, der mich mitfühlen ließ und dessen Erzählweise mich beeindrucken konnte.

Veröffentlicht am 13.01.2024

Den Spuren bis zum Anfang folgen

Lichtungen
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Lev reist gemeinsam mit Kato seit sechs Wochen durch Europa. Doch nun hat er ihr eröffnet, dass er zurückmuss. Überraschenderweise teilt sie ihm kurz vor der Abfahrt mit, dass sie mitkommen wird. Mit dieser ...

Lev reist gemeinsam mit Kato seit sechs Wochen durch Europa. Doch nun hat er ihr eröffnet, dass er zurückmuss. Überraschenderweise teilt sie ihm kurz vor der Abfahrt mit, dass sie mitkommen wird. Mit dieser kurzen Episode beginnt das Kapitel "Neun" von Iris Wolffs neuem Roman Lichtungen. Dieser Romananfang ist das Ende der Geschichte, und gleichzeitig ist es das auch nicht.

Ich war ehrlicherweise kurz irritiert, als es im Kapitel "Acht" ein Wiedersehen zwischen Lev und Kato gibt, die sich seit fünf Jahren nicht gesehen haben. Dann habe ich aber schnell geschaltet und mich auf diesen rückwärts erzählten Roman eingelassen. Kato ist eine Straßenkünstlerin, die in diesen fünf Jahren mit Tom in Europa unterwegs war, während Lev in der rumänischen Heimat im Sägewerk gearbeitet und Postkarten von ihr erhalten hat. Ihre Einladung, nach Zürich zu kommen, nimmt er an und macht auf dem Zwischenstopp bei seinem Großvater Ferry in Wien Halt, den er dort noch nie besucht hat.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Lev, der sich seiner rumänischen Heimat verbunden fühlt. Seine Vorfahren stammen aus Rumänien, Siebenbürgen und Österreich, einer Zuteilung zu einer Gruppe verweigert er sich. Ich erhielt nicht nur Einblicke in seine persönliche Geschichte, sondern auch in die Situation in Rumänien vor und nach der Revolution, wo sich immer mehr Menschen entschließen, das Land gen Westen zu verlassen.

Die einzelnen Kapitel sind dicht und intensiv erzählt. Sie schildern wegweisende Situationen in Levs Leben. Dabei werden zahlreiche Fragen aufgeworfen und Andeutungen gemacht, deren Auflösung in der Vergangenheit und damit den nachfolgenden Kapiteln wartet. Warum ist der Großvater nach Wien gegangen? Was hat es mit dem Unfall auf sich, den er erwähnt? Und wer ist Camil, nach dessen Verschwinden Kato lange nicht gemalt hat? Die Lücken zwischen den Kapiteln sind oft mehrere Jahre groß, sodass es auch lebensverändernde Momente gibt, die nicht erzählt werden und die sich aus dem Danach und Davor erschließen.

Das Cover zeigt eine Amsel. Es könnte eins der Bilder von Kato sein, welche sie auf Grundlage der Melodien gemalt hat, die Camil gesammelt hat. Kato war für mich der interessanteste Charakter des Romans. Sie hat mit ihrer künstlerischen Begabung und Intelligenz Wege gesucht und gefunden, um ihre Neugier zu stillen und sich selbst zu verwirklichen. Sie ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Lev, dennoch harmonieren die beiden gut miteinander und ich erhielt mit der Zeit ein gutes Verständnis für die Art ihrer Beziehung zueinander.

Aufgrund der Kürze der Einblicke hatte ich stets das Gefühl, nur eine Weile zu Gast sein zu dürfen und nicht vollends in die Geschichte eintauchen zu können. Insgesamt habe ich Lev und Kato aber sehr gern durch rund 30 Jahre ihres Lebens und den Wandel, der um sie herum in dieser Zeit geschieht, begleitet. Die rückwärts gerichtete Erzählweise macht den Roman dabei zu etwas Besonderem. Ein Buch für alle, die Lust haben, den Spuren in Levs Leben bis zu ihren Anfängen zurück zu folgen.

Veröffentlicht am 03.12.2023

An Silvester noch alle ToDos schaffen

Kleine Probleme
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Lars ist ein Autor, der seit dem Schritt in die Selbstständigkeit jedoch noch kein einziges Buch geschrieben hat. Etwas Großes soll es werden, ein Lebenswerk, das Ende des Jahres abgabebereit ist. Doch ...

Lars ist ein Autor, der seit dem Schritt in die Selbstständigkeit jedoch noch kein einziges Buch geschrieben hat. Etwas Großes soll es werden, ein Lebenswerk, das Ende des Jahres abgabebereit ist. Doch jetzt ist der 31. Dezember, kurz nach Mittag, und das Buch ist genauso wenig fertig wie all die anderen ToDos, die sich im Laufe des Jahres angesammelt haben. Als seine Frau ihm schreibt, dass ihr Flieger sich verspätet und er vor der Silvesterparty noch einige Dinge erledigen soll, stellt er eine Liste auf: 13 Punkte will er bis Mitternacht abarbeiten. Jetzt aber wirklich. Dass er bis 13 Uhr nur auf die Liste gestarrt hat ist allerdings kein guter Anfang...

Die allermeisten werden es kennen: Unangenehme Aufgaben schiebt man gerne mal vor sich her. Auch wenn ich selbst die meisten Dinge zügig erledige, steht ein Fahrrad mit plattem Reifen in meinem Keller, an dem ich auf dem Weg zur Waschmaschine jedes Mal mit schlechtem Gewissen vorbeihusche. Das Problem bei Lars ist jedoch deutlich ausgewachsener. Nicht nur arbeitet er seit Jahren an einem Roman, den er nicht mal richtig begonnen hat, bei ihm scheitert es an den grundlegendsten Aufgaben wie putzen und Nudelsalat machen. Doch an Silvester trifft ihn die Erkenntnis: Jetzt oder nie.

Der rund 200 Seiten umfassende Roman ließ mich Lars' Gedankenstrom folgen. Als ehemaliger Philosophiestudent macht er sich nicht plötzlich an die Arbeit, sondern reflektiert intensiv seine Situation und sinniert auch mal über Arbeit und Leben im Allgemeinen. Für mich grenzte es geradezu an ein Wunder, dass er bei all dem Denken überhaupt etwas geschafft bekommt. Er ist ein tragikomischer Charakter, der zum Scheitern geradezu verdammt zu sein scheint. Gleichzeitig hegte ich die Hoffnung, dass er doch noch irgendwie die Kurve kriegt. Ihm zuzuschauen ist amüsant, auf Dauer jedoch auch etwas ermüdend. Schließlich nimmt Lars' Kampf gegen den eigenen Schweinehund geradezu spektakuläre Züge an, die Schwung in die letzten Seiten bringen.

"Kleine Probleme" berichtet überspitzt, unterhaltsam und mit einer guten Portion schwarzem Humor von den Anstrengungen des Abarbeitens gefühlt nie enden wollender ToDo-Listen. Vorsicht ist geboten, wenn ihr dieses Buch in den letzten Tagen des Jahres lest - die könnten danach weniger entspannt werden, als ihr dachtet!

Veröffentlicht am 26.11.2023

Auf der Suche nach Mara

Die Bibliothek im Nebel
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Im Jahr 1917 flieht der Bibliothekar Artur aus Sankt Petersburg, nachdem die Geheimpolizei seinen Onkel, seine Tante und seine Cousine aus ihrem Haus verschleppt hat. Ein Bekannter verschafft ihm eine ...

Im Jahr 1917 flieht der Bibliothekar Artur aus Sankt Petersburg, nachdem die Geheimpolizei seinen Onkel, seine Tante und seine Cousine aus ihrem Haus verschleppt hat. Ein Bekannter verschafft ihm eine Schiffspassage nach Deutschland, wo er in Leipzig ein Manuskript abliefern soll. Artur hofft vor allem, dort Mara wiederzubegegnen, für die er noch immer Gefühle hat. Doch sie hat sich drei Jahre zuvor während eines Urlaubs an der Côte d'Azur gegen ihn und für ein Leben in Leipzig entscheiden.

Die Koffer, welche die Familie dort am Urlaubsende für das nächste Mal zurückgelassen hatte, findet 1928 die elfjährige Liette auf dem Dachboden des Hotels. Darin mach sie eine Entdeckung, die ihre Neugier weckt. Im Jahr 1957 begibt sie sich als Hoteldirektorin gemeinsam mit dem ehemaligen Journalisten Thomas Jansen auf die Suche nach Mara - angeblich, weil diese die Alleinerbin der Villa auf dem Nachbargrundstück ist, dessen Bibliothek Liette seit ihrer Kindheit fasziniert. Doch eine gefährliche Person ist den beiden auf den Fersen.

Das Buch spielt ingesamt auf drei Zeitebenen, sodass ich eine Weile brauchte, um in der Geschichte anzukommen. Ich erfuhr zunächst nur das Nötigste über die Charaktere und merkte schnell, dass es über diese einiges zu erfahren gibt. Was ist zwischen Artur und Mara vorgefallen? Was ist aus dem Fund geworden, den Liette auf dem Dachboden gemacht hat? Und wieso will sie Mara unbedingt ausfindig machen? Das sind nur einige Fragen, die ich mir bald stellte.

Mit jedem Kapitel erhielt ich neue Puzzlestücke. So erfuhr ich zum Beispiel, wie Artur und Mara sich kennenlernten und folgte den Spuren, die Mara in Frankreich hinterlassen hat. Bald wird klar, dass alle drei Zeitebenen eng miteinander verwoben sind und ich das große Ganze verstehen muss, um alle Antworten zu erhalten. Es gibt viele Zeitsprünge, dafür bleibt die Zahl der Charaktere übersichtlich, sodass ich den Überblick behalten konnte.

Auf allen Zeitebenen gibt es gefährliche Personen, welche die Wege der Charaktere kreuzen. Es kommt zu hochspannenden Szenen, in denen es um Leben und Tod geht, dazwischen jedoch auch längere ruhige Phasen, in denen der Fokus auf Rückblicken und der Suche nach Mara liegt. Diese bleibt als Figur am wenigsten greifbar. Gleichzeitig bilden die Fragen nach ihren Geheimnissen und der Motivation ihres Handelns den Kern des Romans. Die Neugier, hier endlich Antworten zu erhalten, ließ mich weiterlesen, bis meine Geduld in den letzten Kapiteln endlich belohnt wurde.

"Die Bibliothek im Nebel" bietet eine Handlung, die sich über mehrere Jahrzehnte und von Russland über Deutschland bis nach Frankreich erstreckt. Wer Lust hat, tief in einen Roman einzutauchen und zahlreiche Geheimnisse Stück für Stück zu lüften, der ist hier genau richtig. Ein intensives Leseerlebnis, das mir sehr gut gefallen hat.

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Veröffentlicht am 18.11.2023

Wien in den Stunden vor der Mobilmachung

Die Inkommensurablen
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Der Bauernknecht Hans Ranftler trifft am Morgen des 30. Juli 1914 in Wien ein. Er ist gekommen, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch um einen Termin zu bitten. Sie ist spezialisiert auf Fälle wie ...

Der Bauernknecht Hans Ranftler trifft am Morgen des 30. Juli 1914 in Wien ein. Er ist gekommen, um die Psychoanalytikerin Helene Cheresch um einen Termin zu bitten. Sie ist spezialisiert auf Fälle wie den seinen, denn er ist seit einigen Jahren davon überzeugt, Gedanken anderer Menschen zu hören, bevor diese sie aussprechen. Die Stadt ist in Aufruhr, denn am nächsten Tag soll die Mobilmachung losgehen. Vor dem Haus von Helene Cheresch trifft Hans auf Adam und Klara, deren Fähigkeiten von der Psychologin untersucht werden. Adam stammt aus reichen Hause und soll General werden, Klara aus ärmlichen Verhältnissen. Die Sufragettenbewegung hat ihr ein Mathematikstudium ermöglicht, das sie am folgenden Tag mit einem Doktortitel krönen soll. Die beiden nehmen Hans unter ihre Fittiche und erkunden einen Tag und eine Nacht lang die Stadt.

Zu Beginn des Buches war ich als Leserin an Hans' Seite, als er in Wien eintrifft. Die Großstadt prasselt mit all ihren Eindrücken auf Hans ein, der jahrelang auf einem Hof gearbeitet hat. Trotz Reizüberflutung schafft er es zur Praxis von Helene Cheresch, schnappt jedoch schon auf dem Weg die angespannte Stimmung auf, die in Anbetracht des anstehenden Kriegsbeginns auf der Stadt liegt. Es ist überall das Gesprächsthema Nummer Eins und beinahe alle gehen automatisch davon aus, dass Hans in die Stadt gekommen ist, um sich für den Kriegsdienst zu melden.

Nach dem ersten Gespräch mit Helene, die Hans einen Termin für den folgenen Tag gibt, lernt dieser Klara und Adam kennen. Klara beschäftigt sich für ihren Doktortitel mit den titelgebenden Inkommensurablen, denn sie ist fasziniert von der Philosophie der Mathematik. Über das Verhältnis der beiden zu Helene und ihre vermeintlichen Fähigkeiten erfährt man im Laufe des Romans mehr. Ich fand die Einblicke in die Parapsychologie, die sich um fremde Gedanken und Erinnerungen sowie Traumcluster drehen, interessant. Auch die Geschichte der Sufragetten und die queere Geschichte Wiens spielen in diesem Roman eine Rolle.

Es wird eine große Bandbreite an Themen bedient, über die ich gerne mehr erfahren wollte. Diesen auf 350 Seiten gerecht zu werden ist jedoch eine gewaltige Aufgabe, welche der Autorin mal besser und mal schlechter gelingt. Sie wählt eine anspruchsvolle Sprache, die ich bereits aus ihren vorherigen Romanen kannte. Dennoch muss ich sagen, dass ich mich trotz Mathe-Abitur und abgeschlossenem Psychologiestudium schwer damit tat, den intellektuell herausfordernden Ausführungen nahtlos zu folgen. Nach einem starken Start habe ich mich im Mittelteil schwer getan. Den Abschluss mit der Verkündigung der Mobilmachung und den Entscheidungen, welche die Charaktere basierend auf dieser Nachricht treffen, fand ich gelungen. Ein Roman für alle, die Lust auf einen komplexen und vielschichtigen Roman mit historisch bedeutsamem Setting haben.