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Veröffentlicht am 11.10.2023

Gewollt provokanter Erotikroman

Gstaad
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François Lepeltiers Vater stirbt noch vor seiner Geburt. Zurück bleiben er und seine 19-jährige Mutter Mathilde. Sie arbeitet als Zimmermädchen, bestiehlt die Gäste und nutzt ihren kleinen Sohn als Ablenkung ...

François Lepeltiers Vater stirbt noch vor seiner Geburt. Zurück bleiben er und seine 19-jährige Mutter Mathilde. Sie arbeitet als Zimmermädchen, bestiehlt die Gäste und nutzt ihren kleinen Sohn als Ablenkung – doch schon bald gehen die Einnahmequellen von Mutter und Kind über kleinere Diebstähle weit hinaus und sie geraten in eine schwierige, manchmal auch gefährliche, Situation nach der anderen.

Arnon Grünbergs Roman „Gstaad“ wurde bereits 2002 im niederländischen Original veröffentlicht und liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung von Rainer Kersten vor. Erzählt wird aus der Perspektive des Protagonisten François in der Ich- und Vergangenheitsform. Davon weicht er später nur ab, wenn er eine neue Identität für sich erfindet und es scheint, als könne er diese nur schwer mit sich selbst vereinbaren. Er wird außerdem als ein Kind beschrieben, das motorisch und geistig „zurückgeblieben“ ist – wobei man hierbei bedenken muss, dass seine Mutter weder Fähigkeit noch Mittel hat, ihn zu fördern. So bleibt er die gesamte Geschichte über ein unzuverlässiger, kindlicher Erzähler.

François sagt selbst: „ Wo ich bin, ist die Kloake nie weit“ - und das ist im Roman Programm. Was als Schelmenroman mit rabenschwarzen Humor und nettem Cover des Palace Hotels verkauft wird, ist ein Buch voller sexuellem Missbrauch an Frauen, Minderjährigen und Kindern, Inzest, Vergewaltigung, Suizid, Mord, Betrug, Erpressung – und was man sich noch alles vorstellen kann. Mutter und Sohn sind dabei sowohl Täter, als auch Opfer und vor allem die Kapitel, in denen sie „Illegale“ als Patienten ihrer falschen Zahnarztpraxis ausnehmen, bedrohen und betatschen, hinterlässt ein wirklich ungutes Gefühl beim Lesen.

Man mag dem Autor zugute halten, dass dieser Text über 20 Jahre alt ist und manches heute vielleicht anders formuliert würde. Dass all die oben genannten Dinge in der Welt so passieren, das muss mir jedoch kein Herr Grünberg sagen und dafür müssen auch nicht immer wieder dieselben missbräuchlichen Sexszenen wiederholt werden. Denn so liest sich eine Geschichte über vererbte Traumata und Chancenlosigkeit doch nur wie ein provokativer Erotikroman.

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Veröffentlicht am 08.10.2023

Ein absolut wichtiges Buch

Mekka hier, Mekka da
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Antimuslimischer Rassismus ist ein weitverbreitetes Problem – von Mikroaggressionen im Alltag über das Erstarken rechter Parteien bis hin zu Morden, Anschlägen und Genoziden. Musliminnen werden im besten ...

Antimuslimischer Rassismus ist ein weitverbreitetes Problem – von Mikroaggressionen im Alltag über das Erstarken rechter Parteien bis hin zu Morden, Anschlägen und Genoziden. Musliminnen werden im besten Fall als rückständig, im schlechtesten als extremistisch wahrgenommen – was natürlich einen Einfluss auf unsere Gesellschaft hat. Doch was können wir selbst tun, um rassistische Denkmuster zu erkennen und aufzulösen?

In ihrem ersten Sachbuch widmet sich Filmautorin, Journalistin und Medienkritikerin Melina Borčak dieser Frage. Ihre Sprache fällt dabei als erstes auf: sie jung und modern, umgangssprachlich, sehr direkt und deutlich. Einige Leser
innen dürften sich daran wohl stören, aber die Autorin sagt, sie schreibe, wie sie eben spreche – was dazu führt, dass wir ein zugängliches Sachbuch vor uns haben, bei dem niemand befürchten muss, die Aussage nicht zu verstehen.

In einer kurzen Einleitung legt Borčak dar, was sie mit ihrem Buch erreichen will. Es soll nicht nur um anti-rassistische Sprache und das eigene Handeln gehen, sondern vor allem darum, unbewusste Vorurteile zu erkennen sowie rassistische Strukturen und Framing (=Inhalte auf eine bestimmt Art kontextualisieren) zu entlarven. Eine wichtige Aussage der Autorin ist zudem, dass es nicht die eine kohärente Gruppe von Muslim*innen gibt. Schließlich scheren wir doch auch nicht alle Christen weltweit über einen Kamm. Außerdem erklärt sie falsch verstandene und verwendete Begriffe wie Dschihad, Scharia oder „Islamisierung“ und zeigt, dass Sachverhalte bewusst (sprachlich) unsichtbar gemacht werden.

Das wichtigste Kapitel, so bezeichnet es Borčak auch selbst, ist das über Genozide - und es ist wirklich erschütternd. Wusstet ihr, dass weltweit nur drei Genozide von internationalen Gerichten als solche anerkannt wurden und der Holocaust beispielsweise nicht darunter ist? Ein Grund hierfür ist, dass wir sie noch immer als „Massaker“ oder „Massenmorde“ verharmlosen, wenn doch ein ganzes perfides System hinter ihnen steckt, das über das reine Morden weit hinausgeht. Ein wichtiges Buch, dem ich mit meiner Rezension nur schwer gerecht werden kann.

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Veröffentlicht am 07.10.2023

Eine gefährliche Frau

Ich, Lady Macbeth
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Schottland, 11. Jahrhundert. Gruoch wird als Tochter einer Druidin und eines Earls geboren. Eine Prophezeiung ihrer Großmutter weckt in ihr schon bald den Wunsch, später einmal Königin zu werden. Sie weiß ...

Schottland, 11. Jahrhundert. Gruoch wird als Tochter einer Druidin und eines Earls geboren. Eine Prophezeiung ihrer Großmutter weckt in ihr schon bald den Wunsch, später einmal Königin zu werden. Sie weiß aber auch, dass in einer Zeit wie dieser zwei Faktoren hierfür von Bedeutung sind: ein mächtiger Ehemann und so viele männliche Erben wie möglich. Bald muss sie daher ihr Zuhause verlassen, um dem zukünftigen Thronerben Duncan zu folgen. Zurück bleibt ihr Jugendfreund und ihre erste Liebe: Macbeth.

In „Ich, Lady Macbeth“ erzählt Isabelle Schuler die Vorgeschichte der Frau, die wir als von Ehrgeiz getriebene Herrscherin aus Shakespeares berühmtem Stück kennen. Dabei beginnt sie mit deren Kindheit und folgt ihr bis zum 1. Akt der Vorlage. Geschildert werden die Ereignisse stets aus der Perspektive der Protagonistin in der Ich- und Vergangenheitsform. Das vermittelt unmittelbar, wie sie sich in bestimmten Situationen und als Kind ihrer Zeit gefühlt haben muss.

Gruochs Mutter und Großmutter stehen mit ihren „heidnischen“ Bräuchen für eine freie Art zu leben, die sich im Einklang mit sich selbst und den Menschen um sie herum befindet. Daran nehmen natürlich die Männer in der Geschichte starken Anstoß, denn was gibt es Gefährlicheres als eine Frau mit einem starken Willen? Und Gruoch weiß genau, was sie will: als Königin herrschen, weil Macht eben auch bedeutet, sich nicht ständig jedem Mann – sei es ein potenzieller Ehemann oder der eigene Vater – unterordnen zu müssen. Einzig Macbeth akzeptiert diese Seite an ihr und das ist es auch, was sie letztendlich aneinander bindet.

„Ich, Lady Macbeth“ ist eine gelungene Geschichte darüber, wie Frauen wie Gruoch in der Welt- und Literaturgeschichte wahrgenommen werden, wenn sie es wagen, dieselben Ambitionen wie Männer zu haben. Von anderen wird sie immer wieder als kaltherzig und berechnend beschrieben; dabei wird im Verlauf der Handlung deutlich, dass ihr das Schicksal ihres Volkes wirklich am Herzen liegt – und das auch, weil sie neben Macht eben auch geliebt werden möchte. Gerne würde ich auch noch die Geschehnisse in „Macbeth“ aus ihrem Blickwinkel lesen.

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Veröffentlicht am 03.10.2023

Tolller zweiter Band mit ernsten Themen

Delicates
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Marjorie Glatts Leben hat sich stark verändert, seit sie den jung verstorbenen Geist Wendell und seine Gespensterfreunde kennengelernt hat. Obwohl sie ihnen den Erfolg der Familienwäscherei verdankt, verbringt ...

Marjorie Glatts Leben hat sich stark verändert, seit sie den jung verstorbenen Geist Wendell und seine Gespensterfreunde kennengelernt hat. Obwohl sie ihnen den Erfolg der Familienwäscherei verdankt, verbringt sich sie in den letzten Wochen viel Zeit damit, Anschluss an die beliebteste Clique der Schule zu finden. So enttäuscht sie nicht nur Wendell, sondern droht auch die Menschen um sie herum aus den Augen zu verlieren.

„Delicates“ ist nach „Sheets“ nun der zweite Graphic Novel-Band aus Brenna Thummlers Reihe rund um Marjorie und ihre Freundschaft zu Wendell. Die Handlung ist zwar ohne Kenntnis des ersten Teils verständlich, aber so fehlen natürlich die Hintergrunde zu Marjories familiärer Situation und dazu, wie sie und der junge Geist sich zum ersten Mal getroffen haben. Der Zeichenstil der Autorin ist realistisch, spielt aber auch mit Farben, die sich je nach Stimmung und Situation anpassen.

Inhaltlich behandelt die Graphic Novel durchaus ernste Themen. Marjories Familie hat immer noch mit dem Verlust der Mutter zu kämpfen. Der Vater nimmt zwar wieder aktiv am Leben teil und arbeitet in der Wäscherei. Seine Kinder in ihrer Trauer zu unterstützen, fällt ihm aber schwer und besonders Marjories kleiner Bruder Owe leidet. Diese fand bisher immer Trost in der Freundschaft mit Wendell, über den letzten Sommer scheint sie sich aber von ihm entfernt zu haben.

Als Marjorie sich Mitschülerin Eliza annähert, die ihre Kamera liebt und gerne auf Geisterjagd geht, muss sie schließlich das eigene Verhalten überdenken: Ist es wirklich ihr Wunsch, dazuzugehören und von allen als „normal“ angesehen zu werden – auch wenn das bedeutet, darüber hinwegzusehen, wie sehr ihre Clique ein Mädchen wie Eliza mobbt? Hier gelingt es Brenna Thummler ganz wunderbar, eine Parallele zwischen Wendell und Eliza zu ziehen. Wendell fühlt sich in der Welt der Lebenden verloren, weil er immer nur unbeteiligter Beobachter sein und nicht teilnehmen darf. Das ständige Mobbing führt dazu, dass Eliza sich ebenso unsichtbar fühlt, wie Wendell – mit besorgniserregenden Konsequenzen.

Fazit: Toller zweiter Band mit wichtigen Themen

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Veröffentlicht am 27.09.2023

Die jüdischen Buddenbrooks?

Jenny | Der große Frauen- und Emanzipationsroman von Fanny Lewald | Reclams Klassikerinnen
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Jenny ist die Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie und steht kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Eigentlich soll sie mit ihrem Cousin Joseph verheiratet werden, doch ihr Herz gehört Gustav, ihrem ...

Jenny ist die Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie und steht kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Eigentlich soll sie mit ihrem Cousin Joseph verheiratet werden, doch ihr Herz gehört Gustav, ihrem Hauslehrer und - noch dazu - einem katholischen Pfarrer. Nur eine Konvertierung kann diese Verbindung also möglich machen. Auch Jennys älterer Bruder Eduard hat mit Vorurteilen und offen ausgelebtem Antisemitismus zu kämpfen, der seine Karriere ausbremst und ihn ebenfalls nicht als Ehemann einer Christin in Frage kommen lässt.

„Jenny“ erschien bereits im Jahr 1843 und wurde nun in der Reihe „Reclams Klassikerinnen“ mit einem Nachwort von Mirna Funk neu aufgelegt. Die Autorin, Fanny Lewald, war selbst eine jüdische Kaufmannstochter und setze sich aktiv für Frauenrechte ein. „Jenny“ ist ihr zweiter Roman und liest sich sehr modern und keinesfalls altbacken. Vermittelt werden die Ereignisse von einem allwissenden Erzähler, der den Überblick behält und schildert, was sich an unterschiedlichen Orten zwischen und in den Figuren selbst abspielt.

Von Beginn an wird der in der Bevölkerung weit verbreitete Antisemitismus von Fanny Lewald klar benannt und gezeigt. Vor allem Jennys Bruder Eduard, der Arzt ist, bekommt zu spüren, dass er zwar durchaus Dienst an der Gesellschaft leisten darf, wenn es aber um die Leitung einer Klinik oder die Ehe mit einer Christin geht, wird ihm beides verwehrt. Seine Identität als Jude kann und will er dafür aber nicht aufgeben. Jenny hingegen ist für ihre Verlobten Reinhard zwar zur Konvertierung bereit, tut sich aber mit dem neuen Glauben und der Abkehr von allem, womit sie aufgewachsen ist, schwer. Nach und nach spitzen sich die Ereignisse rund um die Familie zu und drohen zu eskalieren.

„Jenny“ wird als „die jüdischen Buddenbrooks“ vermarktet und das ist durchaus zutreffend. Meiner Meinung nach ist der Roman aber noch so viel mehr, denn er zeigt schonungslos eine Gesellschaft, in der Antisemitismus tief verwurzelt ist und in der gerade junge Frauen die Verliererinnen sind. Ein wunderbarer Roman, der nachdenklich macht und leider wieder nur allzu aktuell ist.

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