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Veröffentlicht am 06.03.2023

Mehr als nur ein Roman über Videospiele

Morgen, morgen und wieder morgen
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Mitte der 90er an der Ostküste der USA. Durch Zufall trifft Harvard-Student Sam seine Kindheitsfreundin Sadie auf der Straße wieder. Die beiden hatten sich in einem Krankenhaus kennengelernt, wo Sam gerade ...

Mitte der 90er an der Ostküste der USA. Durch Zufall trifft Harvard-Student Sam seine Kindheitsfreundin Sadie auf der Straße wieder. Die beiden hatten sich in einem Krankenhaus kennengelernt, wo Sam gerade behandelt wurde und Sadie ihre Schwester Alice besuchte. Inzwischen studiert die junge Frau am MIT und bastelt an ihrem ersten eigenen Videospiel. Gemeinsam mit Marx, Sams bestem Freund wagen die drei den Sprung ins kalte Wasser, gründen ihre eigene Firma und entwickeln ihr erstes Spiel „Ichigo“.

„Morgen, morgen und wieder morgen“ ist bereits der 9. Roman von Gabrielle Zevin, für den sogar eine Verfilmung in Hollywood geplant ist. Die Handlung wird sowohl aus Sadies als auch Sams Perspektive in der 3. Person und der Vergangenheitsform erzählt. Die Autorin geht dabei immer ausführlich auf das Innenleben der beiden ein – sie selbst schaffen es jedoch nicht, diese Gefühle und Gedanken offen miteinander zu teilen. Schon bald vergiften Missverständnisse die Beziehung zwischen ihnen und auch der berufliche Erfolg hinterlässt Spuren. So hat man als Leser/-in ständig das beklemmende Gefühl, auf eine große Katastrophe zuzusteuern.

Vordergründig geht es im Roman um die Tücken der Spieleindustrie, vor allem für Frauen, und die komplizierte Freundschaft zwischen Sadie und Sam. Im Verlauf werden jedoch immer mehr Themen sichtbar und machen deutlich, dass es sich hier um mehr handelt, als eine Geschichte über Videospiele. Sam hat koreanische Wurzeln und fühlt sich oft als Außenseiter. Zudem hat er seiner Kindheit ein kaputtes Bein, weigert sich aber standhaft, sich als behindert anzusehen. Sadie hingegen hatte sehr unter der Krankheit ihrer Schwester zu leiden und lässt sich in der Gegenwart auf eine toxische Beziehung ein. Dazwischen steht der treue Marx, der als einziger keine Spiele programmieren kann und eigentlich Theaterschauspieler werden wollte.

Für Leser*innen wie mich, die in den 90ern aufgewachsen sind, ist dieses Buch eine wahre Fundgrube an Erinnerungen, zum Beispiel an „Das magische Auge“ oder Spiele wie „Super Mario Brothers“ oder „Frogger“. Seine Botschaft geht jedoch weit über Nostalgie hinaus.

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Veröffentlicht am 02.03.2023

Emotionale Reise

Atlas unserer spektakulären Körper
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Lia ist glücklich verheiratet, hat eine Tochter im Teenageralter und illustriert ihre eigenen Kinderbücher. Mit ihrer entfremdeten Mutter nähert sie sich gerade wieder an und auch die Schatten der Vergangenheit ...

Lia ist glücklich verheiratet, hat eine Tochter im Teenageralter und illustriert ihre eigenen Kinderbücher. Mit ihrer entfremdeten Mutter nähert sie sich gerade wieder an und auch die Schatten der Vergangenheit hat sie hinter sich gelassen. Alles könnte also perfekt sein, wenn da nicht dieses seltsame Wesen in ihrem Körper wäre…

Maddie Mortimers erster Roman „Atlas unserer spektakulären Körper“ nimmt Bezug auf ihr eigenes Leben und bezeichnet das Buch als eine Elegie auf ihre Mutter und die Beziehung zueinander. Emotional erzählt sie die Geschichte von Lia und dem Anfang vom Ende ihres Lebens. Dabei verwendet die Autorin im Text den Flattersatz, so dass alles wie ein einziges lange Gedicht wirkt. Besonders sind aber vor allem die Kapitel, in denen aus Lias Innerem erzählt wird. Ein Wesen bewegt sich dort durch die Körperteile und Gewebeschichten und hat sogar eigene Spitznamen für Menschen und Dinge aus ihrem Leben entwickelt – so etwas habe ich zuvor noch nie gelesen!

Im Handlungsstrang, der sich außerhalb des Körpers abspielt, erfahren wir nach und nach alles Wichtige über Lia, ihren Mann Harry, Tochter Iris und die Beziehung zu den eigenen Eltern. Aufgewachsen in einem Pfarrhaus, interessierte sie sich schon als junges Mädchen mehr für die Kunst, als für Gott und spätestens im jungen Erwachsenenalter ging die Verbindung zu dem letzten Rest ihres Glaubens verloren. Was folgt, ist der Versuch, sich aus der schädlichen Beziehung zu ihren Eltern und ihrer ersten Liebe zu lösen, einen neuen Partner fürs Leben zu finden und ein Kind aufzuziehen – aber auch der Beginn einer Krankheit, die Lias Körper kontinuierlich zerstören wird.

„Atlas unserer spektakulären Körper“ ist genau das: spektakulär. Eine emotionale Reise durch ein Leben voller Schuldgefühle und Bedauern, Verdrängung und Akzeptanz. Mehrfach im Roman entschuldigt sich Lia bei Mann und Tochter dafür, dass sie sterben wird. Sie hat das Gefühl, die Krankheit in ihr Leben eingeladen zu haben und kämpft immer wieder mit diesem belastenden Gedanken. Wer auf bestimmte Themen sensibel reagiert, recherchiert vorher dem Lesen besser den genauen Inhalt.

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Veröffentlicht am 26.02.2023

Nette Slice of Life-Reihe

Everyday Escape 2
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Band zwei der auf vier Bände angelegten Manga-Reihe „Everyday Escape“ von Shouchi Taguchi entführt uns in ein sommerliches Japan. Dem entsprechend machen unsere Protagonistinnen einige Reisen und kurze ...

Band zwei der auf vier Bände angelegten Manga-Reihe „Everyday Escape“ von Shouchi Taguchi entführt uns in ein sommerliches Japan. Dem entsprechend machen unsere Protagonistinnen einige Reisen und kurze Unternehmungen, zum Beispiel einen nächtlichen Trip zu einem Bento-Shop. Als eine der beiden von Kindern jedoch als „Tantchen“ bezeichnet wird, fühlen sie sich plötzlich unglaublich alt und wollen ihre Jugend zurückholen. Mit Zöpfen, Schulmädchenkleidung und einem Tag auf den Spielplatz können sie wieder einmal der Realität entfliehen. Diese Episode hat mir sehr gut gefallen, spielt sie doch deutlich auf Japans Leistungsgesellschaft an.

Spannend ist in diesem Band auch ein selbstreflexives Kapitel. Die Mangaka ist allein zuhause und auf einmal weiß sie nicht mehr, ob ihre Mitbewohnerin tatsächlich existiert. Ihren Namen kennt sie nicht (wie wir auch), alle Fotos sind auf einmal fort und auf dem Tisch liegt ein mysteriöser Zettel in der eigenen Handschrift. Witzig ist hingegen besonders die Episode, als die beiden Frauen ihren Haustürschlüssel vergessen und gemeinsam im Treppenhaus campen. Laut eigener Aussage hat Taguchi den Manga während der Corona-Pandemie als Trost und Ablenkung begonnen – das ist ihm gut gelungen. Der dritte Band erscheint im Mai 2023 auf Deutsch.

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Veröffentlicht am 26.02.2023

Nette Slice of Life-Reihe

Everyday Escape 1
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In „Everyday Escape“ von Shouichi Taguchi begleiten wir zwei Mitbewohnerinnen in ihrem Alltag. Die eine arbeitet als Mangaka, die andere ist arbeitslos – wie sie ihr Leben finanziert, bleibt zumindest ...

In „Everyday Escape“ von Shouichi Taguchi begleiten wir zwei Mitbewohnerinnen in ihrem Alltag. Die eine arbeitet als Mangaka, die andere ist arbeitslos – wie sie ihr Leben finanziert, bleibt zumindest in den ersten beiden Bänden offen. Beide Frauen sind Anfang 20, sehen aber deutlich jünger aus. Jeder Band startet mit einer schönen Farbseite und einem gezeichneten Inhaltsverzeichnis, das einen Überblickt gibt, welche „Escapes“ die Protagonistinnen erleben.

Das Schema ist eigentlich immer dasselbe: Die Mangaka wird, ob gewollt oder nicht, von der arbeitslosen Mitbewohnerin abgelenkt und kann so dem Job und der Erwachsenenwelt entfliehen. Taguchi hat die Beziehung der beiden nach dem klassisch japanischen Senpai-Kohai-Rollenbild gestaltet. Die eine lehrt und lebt vor, die andere lernt und blickt auf. Die verschiedenen Fluchten aus der Realität geschehen zum Beispiel durch gutes Essen oder Ausflüge, leider aber auch immer wieder mit Hilfe von Alkohol.

Der Zeichenstil ist sehr klar und realistisch und macht Lust, die gezeigten Orte selbst einmal zu besuchen. Es gibt auch sehr humorvolle Szenen, zum Beispiel wenn die Mitbewohnerin eine Offline-Zeit vorschlägt und das Handy der Mangaka per Post an sie selbst verschickt – so lange soll sie verzichten. Doch natürlich kommt gerade dann ein wichtiger Anruf, herrlich! Abgesehen davon fehlt dem netten Slice of Life-Manga jedoch so manches Mal die Tiefe.

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Veröffentlicht am 20.02.2023

Beunruhigendes Psychogramm

Das Museum der Stille
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Ein junger Mann reist in ein kleines Dorf in der Provinz. Dort soll er für eine alte Dame ein ganz besonderes Museum einrichten. Schon seit Jahren stiehlt sie Gegenstände von verstorbenen Dorfbewohnern, ...

Ein junger Mann reist in ein kleines Dorf in der Provinz. Dort soll er für eine alte Dame ein ganz besonderes Museum einrichten. Schon seit Jahren stiehlt sie Gegenstände von verstorbenen Dorfbewohnern, um die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten und ihre Geschichte zu erzählen. Diese Aufgabe geht nun auf den Protagonisten über. Mit Unterstützung der Adoptivtochter der Alten macht er sich an die Arbeit und gerät bald in einen Strudel von Ereignissen.

„Das Museum der Stille“ der mehrfach ausgezeichneten Autorin Yoko Ogawa erschien bereits im Jahr 2005 zum ersten Mal auf Deutsch. Nun liegt im Liebeskind Verlag eine gebundene Neuausgabe vor. Erzählt wird aus Sicht des jungen Kurators in der Ich- und Vergangenheitsform. Somit wissen wir als Leser*innen immer nur so viel, wie er selbst und teilen seinen - im Verlauf der Handlung immer weiter zunehmenden – Widerwillen gegen den Diebstahl der Erinnerungsstücke. Als sich im Dorf düstere Geschehnisse ereignen, schlägt dieser in blanke Angst um.

Im Zentrum der Geschichte steht sicherlich die Erschaffung des seltsamen Museums und die Beziehung des Protagonisten zu der Alten und ihrer Tochter. Je mehr Stücke er auf illegale Weise beschafft und katalogisiert, umso tiefer wird er in den Bann des Museums gezogen – und auf einmal überschlagen sich die Ereignisse: die Briefe an seinen Bruder bleiben immer länger unbeantwortet, ein Sprengstoffanschlag wird im Dorf verübt und ein Serienmörder tötet und verstümmelt junge Frauen. Der bis zu diesem Zeitpunkt eher behäbig daherkommende Roman entwickelt sich zu einem beunruhigenden Psychogramm – wem können wir noch vertrauen? Oder hat am Ende der Protagonist selbst die Finger im Spiel?

Zur besonderen Atmosphäre des Buches trägt auch die Anonymisierung der Figuren bei. Keine von ihnen hat einen Namen, sondern wird nur nach ihrem Alter („die Alte“, „der junge Mann“) oder der Funktion („der Gärtner“, „der Mönch“) beschrieben. Somit entsteht das unangenehme Gefühl, einen Augenzeugenbericht über einen Kriminalfall zu lesen, der unbemerkt irgendwo in Japan geschehen ist und niemals aufgeklärt wurde.

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