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Veröffentlicht am 29.04.2022

Das gebe ich nie wieder her!

Quiet Girl (deutsche Hardcover-Ausgabe)
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Quiet Girl wollte ich lesen, seit ich vom englischsprachigen Original erfahren hatte. Dann habe ich es irgendwie aus dem Augen verloren. Und nun ist es auf Deutsch erschienen, im neuen Imprint vom Loewe ...

Quiet Girl wollte ich lesen, seit ich vom englischsprachigen Original erfahren hatte. Dann habe ich es irgendwie aus dem Augen verloren. Und nun ist es auf Deutsch erschienen, im neuen Imprint vom Loewe Verlag, Loewe Graphix, wo ab jetzt Graphic Novels und Comics für Kinder und Jugendliche erscheinen sollen. Keine Frage, da musste ich zugreifen!

Schlicht, aber eindrucksvoll: Quiet Girl

Als erstes muss ich den Illustrationsstil loben: die in Grautönen gemalten Bilder drücken sehr klar die Gefühle der einzelnen Comics aus. Sie sind schlicht und einfach und dabei doch ausdrucksstark! Die Geschichten können auf vielen Panelen über eine Doppelseite erzählt werden, manche brauchen aber auch nur zwei Bilder, ein paar brauchen nur ein einziges ganzseitiges Bild.

Auch das handliche Format des leichten Buches gefällt mir gut. Besonders gut passt das zur jungen Zielgruppe von Loewe Graphix, aber auch zur Comic-Sparte generell. Obwohl Quiet Girl ein Hardcover ist, ist es leicht genug, um überall mit hingenommen zu werden.

Einen Minuspunkt bekommt die deutsche Ausgabe für die gewählte Schriftart. Das ist jetzt Jammern auf hohem Niveau und vielen von euch wahrscheinlich viel zu pingelig, aber ich hatte öfter den Eindruck, dass die Schrift und der Stil der Comics nicht recht zueinanderpassen wollen: im Original mit dem tollen Titel Quiet Girl in a noisy world stehen die Buchstaben (laut Leseprobe auf Amazon) etwas “wackelig” in ihren Zeilen, während die deutsche Version schnurgerade Linien zieht. Das wirkt auf mich zu stabil, zu steril für diese emotionalen Geschichten.

Inhaltlich hat Quiet Girl einen hohen Identifikationswert für mich. Der Untertitel Geschichten einer Introvertierten trifft für mich den Nagel auf den Kopf. Ich musste erst zum Studieren quer durch Deutschland ziehen und aus Langeweile nachts um 3 einen Persönlichkeitstest machen, um zu erkennen, dass eben die Charaktereigenschaften, die mich in der Schulzeit von allen abgesondert haben, total normal sind und dass Introvertierte Menschen eben so sind/sein können. Dieses Etikett zu finden hat mir eine große Last genommen. Ich wünsche mir, dass viele junge Menschen, die lieber allein oder in kleinen, bekannten Gruppen sind, dieses Buch in die Finge bekommen. Damit sie früher als ich lernen können, dass sie total okay sind!

Ich habe mich in der Protagonistin sehr oft selbst erkannt: darin, sofort nach der Begrüßung die Namen von Leuten zu vergessen; darin, glücklicher Single zu sein; darin, an Wochenenden “nichts, absolut gar nichts” vorzuhaben und mich auf genau dieses Nichts total zu freuen; darin, es nicht zu mögen, wenn andere Leute meine Sorgen kleinreden; darin, meine sozialen Batterien allein aufzuladen und durch die winzigste Kleinigkeit wieder von vorn anfangen zu müssen; darin, nie den “richtigen Moment” für wichtige Dinge zu finden – und sie deshalb einfach gar nicht zu tun. Dieses ich-erkenne-mich-in-dem-Buch-wieder-Gefühl ist einfach total wichtig und ich hoffe, dass viele Lesende das selbst erfahren können!

Ich bin sehr neugierig, was das neue Imprint Loewe Graphix in Zukunft noch bringen wird. Mit Quiet Girl als Einstieg legt der Verlag jedenfalls einen super Start hin!

Fazit

Ein tolles Buch mit wichtiger Message, besonders für Jugendliche und junge Erwachsene auf der Suche nach sich selbst. Ich habe mich in den erzählten Geschichten sehr oft selbst wiedergefunden und werde Quiet Girl nie wieder hergeben!

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Veröffentlicht am 14.04.2022

Solide Science-Fiction

Das Babel Projekt – Lifelike
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Ich kannte bereits einige Bücher von Jay Kristoff, darunter Illuminae und Aurora, die er zusammen mit Amie Kaufman geschrieben hat. Lifelike steht auf meiner Wunschliste, seit ich das erste mal auf den ...

Ich kannte bereits einige Bücher von Jay Kristoff, darunter Illuminae und Aurora, die er zusammen mit Amie Kaufman geschrieben hat. Lifelike steht auf meiner Wunschliste, seit ich das erste mal auf den Social Media-Kanälen des Autors davon erfahren habe. Die Beschreibung war einfach toll, und das Buch genau so gut wie erwartet!

Von den einzelnen Charakteren und ihren Eigenheiten ganz abgesehen spielt die Geschichte in einer faszinierenden dystopischen Welt. Nach einer gewalttätigen Machtübernahme eines Großkonzerns mit vielen Toten durch, naja, ausgerechnet die Roboter, die dieser Konzern hergestellt hatte, ist die Menschheit nicht unbedingt gut auf diese eine Art von Robotern zu sprechen. Die Art, die den Menschen zum Verwechseln ähnlich ist. Lebensecht (=lifelike) sozusagen. Alle anderen Roboter werden natürlich weiterhin eingesetzt, gefühllos, kalt, nutzungsorientiert. Es hat etwas steampunkiges, wie das Buch anfängt. Aber das hält nicht lange an, bevor es richtig tief in die Science-Fiction einsteigt.

Jay Kristoffs typischer gewaltvoller Stil passt gut zur Geschichte, er ist nicht ganz so extrem wie bei Nevernight. Was erwartet man aber auch, wenn man sich mit einem jungen Mädchen anlegt, das Roboter in einer Kampfarena steuert, und sich mit fanatischen Psycho-Mönchen auseinandersetzen will?

Ich hätte mich bei dem Ende nicht gewundert, wenn es ein Einzelband geblieben wäre, aber der Autor hat 2 Fortsetzungen angekündigt bzw. auf Englisch schon veröffentlicht. Mal schauen, wie es weitergeht!

Fazit

Ein Spiel mit Macht und Religion, mit Wahn und Furcht und Mut und Familie und Freundschaft, eine Geschichte der Selbstfindung und der Neuentdeckung der eigenen Welt. Das ist Lifelike, und das sind die Folgebände, auf die ich verflixt neugierig bin. Lifelike hat Potenzial, mein Jahreshighlight zu werden!

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Veröffentlicht am 14.04.2022

Hat Potenzial zum Jahres-Highlight!

Aurora entflammt
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Band 1 war mein Highlight des letzten Jahres, ich war einfach sofort drin und konnte es kaum glauben, als der Cliffhanger mich richtig zappeln lassen hat. Band 2 hatte einen langsameren Einstieg, da ich ...

Band 1 war mein Highlight des letzten Jahres, ich war einfach sofort drin und konnte es kaum glauben, als der Cliffhanger mich richtig zappeln lassen hat. Band 2 hatte einen langsameren Einstieg, da ich trotz der tollen Einführung des allseits geliebten Tablets Magellan. In einer Art “Was bisher geschah” werden die wichtigen Events des ersten Bandes wiederholt und die Figuren vorgestellt. Trotzdem musste ich mich in den Stil und die Welt erst wieder einfinden. Danach konnte ich das Buch aber nicht mehr aus der Hand legen!

Die Beziehung zwischen Kal und Aurora entwickelt sich sehr niedlich. Normalerweise kann ich sowas wie den Sog (der mich sehr an das Prägen aus Twilight erinnert, igitt) nicht leiden, aber hier wird es als mehr als nur Lust dargestellt, als noch größer als Liebe. Ich mag, wie Kal damit umgeht. Scarlett und Finian shippe ich auch ziemlich, da bin ich gespannt, was noch kommt! Finian ist ja auf dem Cover von Band 3 zu sehen, meine Erwartungen sind hoch!

Ich bin sehr froh, dass die Hintergrundgeschichte von Kal aufgearbeitet wurde. Ihn fand ich von Anfang an sehr spannend. Auch die anderen Teammitglieder, die im ersten Band zu kurz kamen, konnten ihre Geschichte erzählen und damit einige unentdeckte Eigenschaften preisgeben.

Obwohl die Handlung von Aurora entflammt extreme Sci-Fi ist und damit teilweise unvorstellbar sein könnte, war nichts davon unglaubwürdig. Es gibt jetzt einige scheinbar magische Elemente, an die ich mich erst gewöhnen musste, aber mit der Zeit wurden die Hintergründe deutlicher.

Fazit

Der Cliffhanger hat mich wieder überrascht. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich mein eBook verflucht und angemeckert habe, während ich nachts um halb 4 breit grinsend im Bett gesessen und mir gewünscht habe, direkt weiterlesen zu können! Ich bin sehr gespannt auf den dritten Teil und damit das Finale der Aurora-Reihe. Auch dieses Buch hat wieder das Potenzial, ein Jahres-Highlight zu werden!

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Veröffentlicht am 14.04.2022

Schöne Idee, aber leider etwas zu viel Teenie-Drama in der Umsetzung

Das Geheimnis der Talente
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Verfeindete Gruppen, mystische Wesen, eine Protagonistin, die urplötzlich in eine ihr völlig fremde Welt katapultiert wird – Mira Valentin erfindet mit Das Geheimnis der Talente das Rad nicht neu, aber ...

Verfeindete Gruppen, mystische Wesen, eine Protagonistin, die urplötzlich in eine ihr völlig fremde Welt katapultiert wird – Mira Valentin erfindet mit Das Geheimnis der Talente das Rad nicht neu, aber ich hatte mal wieder richtig Lust auf eine solche Geschichte.
Das Buch wurde schon vor einigen Jahren im Carlsen-Imprint Impress veröffentlicht und ist jetzt überarbeitet im Selbstverlag neu erschienen.

KLAPPENTEXT

Triggerwarnung: In Meleks Schulalltag spielt Mobbing eine große Rolle. Außerdem muss sie stellenweise die Missachtung ihrer Eltern ertragen.
Diese Elemente können vor allem von betroffenen Personen als verstörend empfunden werden. Bitte schätzt selbst ein, ob ihr euch damit konfrontieren könnt oder möchtet.


Allerdings hätte ich vorher lieber in die Leseprobe schnuppern sollen: dass die Protagonist:innen um die sechzehn Jahre alt sind und sich damit um die üblichen Probleme von Teenagern sorgen, ging leider nicht aus dem Klappentext hervor. Ich hatte, aus welchem Grund auch immer, mit Figuren im Alter von etwa 20, 25 Jahren gerechnet. Es fiel mir etwas schwer, emotional am Ball zu bleiben, wenn es um Hausaufgaben, erste Gefühle und Krach mit den Eltern ging. Versteht mich nicht falsch, Hausaufgaben, Liebe und Familie spielen auch beispielsweise in College-Romanen eine wichtige Rolle, und die lese ich momentan sehr gern. Aber die Figuren legten eine Unreife an den Tag, die für das Alter typisch ist, mich aber stellenweise echt genervt hat. Melek selbst ist mir auch nicht wirklich sympathisch geworden.

Ein Hinweis zum Alter der Protagonist:innen im Klappentext wäre also für meine Entscheidung für oder gegen Das Geheimnis der Talente hilfreich gewesen.

Eine mystische Welt mit Teenie-Drama

Interessant fand ich dagegen den anfangs nur angedeuteten Hintergrund der Handlung: Böse Wesen werden von einer Armee aus Talenten in Schach gehalten, die sich einem alten islamischen Schutzsymbol bedienen: der Hand der Fatima. Diese “Talente” entwickeln als Teenager ihre Fähigkeiten, die einen als Orakel, die nächsten als schnelle Läufer oder gute Nahkämpfer oder, so unsere Protagonistin Melek, als Volltreffer. Sie trifft alles, mit allem, wenn sie die körperliche Kraft dafür hat. Es fängt mit unfehlbaren Würfen im Schulbasketball an und weitet sich später mit etwas Training auf Schusswaffen, Pfeil und Bogen oder auch zweckentfremdete Aschenbecher aus.

Es scheint eine weltweit organisierte Gruppe mit militärischen Rängen zu sein, die diesen Krieg gegen die sogenannten Dschinn steuert, aber Informationsfreiheit wird in dieser Struktur ganz offensichtlich klein geschrieben: nur das wenigste kann Melek herausfinden, und das nicht, indem sie ihre Verbündeten fragt, ganz im Gegenteil. Ihre Gruppe wird von einem charismatischen Typen angeführt, dessen Talent dummerweise dazu neigt, Mädchen zärtliche Gefühle zu entlocken. Melek ist da keine Ausnahme. Das wiederum gefällt ihrem Mitschüler Erik nicht, der für Melek schon eine ganze Weile schwärmt. Und damit das Dreieck (eigentlich ist es dann schon ein Viereck) komplett ist, gesellt sich mit der Zeit noch Levian dazu. Der allerdings trägt seine Herkunft als Dschinn im Gepäck und muss sich richtig anstrengen, Meleks Vertrauen zu gewinnen.

Wir haben hier also ein Mädchen, das umworben wird von einem Menschen, einem Talent und einem Dschinn. Kennen wir das irgendwoher? Ich habe mich jedenfalls sehr an Twilight mit Bella, Edward (Vampir), Jacob (Werwolf) und Mike (Mensch) erinnert gefühlt. Nicht immer war das positiv, denn auch die Dynamik zwischen den vieren ist sehr ähnlich. Vielleicht ist das immer noch ein beliebtes Rezept, um Urban Fantasy und Romantik für Jugendliche zu mixen? Meinen Geschmack trifft es jedenfalls nicht.

Was mir gut gefallen hat

Am spannendsten finde ich die Figur Mike, der sich für den Erzengel Michael hält. Ganz im Ernst! Und er scheint Dinge zu wissen, die er laut Jakob – dem Anführer der Gruppe – nicht wissen dürfte. Wie gesagt, Informationen werden nicht an das gemeine Fußvolk weitergegeben … Ist an Mikes Behauptung also vielleicht sogar etwas dran? Ich hoffe, dass Mikes Hintergrund und seine Figur in den folgenden Bänden mehr aufgearbeitet wird, denn in diesem Band ist er leider nur so präsent wie eine Randnotiz. Um ganz ehrlich zu sein, er wäre einer der wenigen Anreize für mich, die Reihe weiterzulesen.

Das, und die Frage nach Details über die Dschinn. Es wird nur wenig preisgegeben, aber die paar Brotkrumen machen mich neugierig. Die Armee der Talente ist mir fast egal, auch die großen Entwicklungen, die sich gegen Ende dieses ersten Bandes dargestellt haben. Was ich wissen möchte ist, wer Mike wirklich ist und was tatsächlich hinter der grausamen Fassade der Dschinn bzw. hinter dem Krieg zwischen Dschinn und Talenten steckt.

Es hat mir gefallen, dass Das Geheimnis der Talente in Deutschland spielt, in der Nähe von Marburg. Da ich dort schon mehrfach war, hatte ich das Gefühl, auch bei wenig detailreichen Beschreibungen ein ganz gutes Kopfkino von der Handlung zu haben. Es war eine nette Abwechslung, mal nicht in den USA oder in Kanada zu sein oder dem aktuellen Trend mit Schottland oder England zu folgen und dennoch nicht in Berlin oder München zu landen. Und trotzdem hat es sich nicht wie eine kleine lokale Geschichte angefühlt, sondern wie ein ganz normales Jugendbuch.

Fazit

Das ist für mich ein dicker Pluspunkt: Es ist vielleicht nicht MEIN Buch, aber es hat alle Zutaten, die es braucht, um anderen Menschen, wahrscheinlich vorrangig Jugendlichen, zu gefallen.

Die Idee gefällt mir, die Umsetzung als etwas klischeehaftes Teenie-Liebesdrama war mir aber zu viel.

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Veröffentlicht am 28.02.2022

Bedrückend realitätsnah - und macht doch Hoffnung

Wie du mich siehst
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Wie auch V. E. Schwab steht diese Autorin schon einige Jahre weit oben auf meiner irgendwann-mal-Liste. Dieses Frühjahr habe ich mir endlich Zeit für eines ihrer Bücher nehmen können: Wie du mich siehst.

Wir ...

Wie auch V. E. Schwab steht diese Autorin schon einige Jahre weit oben auf meiner irgendwann-mal-Liste. Dieses Frühjahr habe ich mir endlich Zeit für eines ihrer Bücher nehmen können: Wie du mich siehst.

Wir begleiten Shirin in ihrem Highschool-Alltag und erleben mir ihr erstmals zarte Gefühle einem Jungen gegenüber. Doch Shirin führt nicht das “normale” Leben einer weißen amerikanischen Sechzehnjährigen, denn sie ist Muslima und trägt ein Kopftuch. Das führt zu sehr unangenehmen Situationen, um es mal sehr, sehr vorsichtig auszudrücken. Ihre Familie zieht außerdem häufig um, weshalb sie sich inzwischen keine Mühe mehr gibt, Anschluss zu finden. Und dann ist da plötzlich Ocean. Der Typ aus ihrem Bio-Kurs, der sie nicht von vornherein zu verurteilen scheint. Kann sie ihm trauen? Und viel wichtiger: kann sie ihren Schutzschild öffnen?

Triggerwarnung: Dieses Buch behandelt die Lebensrealität einer jungen Muslima in den USA und die damit zusammenhängenden Diskriminierungen. Folgende Themen werden explizit beschrieben: Rassismus, Sexismus, Mobbing, Gewalt unter Jugendlichen, Gewalt gegen weiblich gelesene Menschen, anti-islamische Gewalt, Machtmissbrauch von Autoritätspersonen. Sexualisierte Gewalt kommt NICHT vor.
Diese Szenen können vor allem von betroffenen Personen als verstörend empfunden werden. Bitte schätzt selbst ein, ob ihr euch damit konfrontieren könnt oder möchtet.
In meiner Rezension versuche ich, weitestgehend auf genauere Beschreibungen zu verzichten. Teilweise ist das jedoch nicht möglich, wenn ich auf bestimmte Details eingehen möchte. Mein Fazit ist spoilerfrei und ohne triggernde Inhalte.

Meine Perspektive

Ich möchte betonen, dass ich nur sehr begrenzt wirklich nachvollziehen kann, was Shirin erlebt. Unsere Lebensrealität als Sechzehnjährige sah vollkommen unterschiedlich aus. Ich bin weiß, in der Theorie christlich erzogen, trage keine Merkmale irgendeines Glaubens an meinem Körper, steche nicht aus der Masse hervor. Shirin dagegen ist nicht-weiß, trägt einen Hijab, geht auf eine Schule, die anscheinend hauptsächlich von Weißen besucht wird. Und ihre Geschichte spielt ein Jahr nach 9/11 in den USA.

Aber Shirin ist auch mit Dingen konfrontiert, die ich selbst erlebe oder erlebt habe: Sexismus zum Beispiel. In einer Szene beschreibt sie, wie ihr Bruder nach einer Prügelei mit keinerlei sozialen Konsequenzen leben muss, aber ihr die Menschen mit noch mehr Ablehnung begegnen als zuvor. Dabei war sie an der Prügelei nicht einmal beteiligt – ihr Bruder hat sich in ihrer Abwesenheit und ohne, dass sie ihn dazu aufgefordert hätte, einen Mitschüler vorgeknöpft, der Shirin ein Gebäckstück an den Kopf geworfen hatte. Trotzdem gab man ihr die Schuld daran. Rassimus ist das nicht mehr, der hätte auch ihren Bruder getroffen. Nein, das Mädchen, das Kopftuch trägt, ist schuld.

Es ist natürlich irgendwie Sinn des Buches, heftiges Mobbing und verstörende Erlebnisse zu beschreiben und dann über die möglichen Folgen aufzuklären. Mafi hat laut Verlag einen autobiografischen Ansatz verfolgt und aus meiner oben beschriebenen Perspektive erscheint mir alles davon sehr authentisch und realistisch. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – habe ich das Lesen oft unterbrechen müssen, weil ich erst mal ein paar Kapitel verarbeiten musste

Sehr lehrreich

Weniger emotional aufgeladen und damit entspannter zu lesen sind die Szenen, in denen Shirin ihr Hobby beschreibt: Breakdance. Für meinen Geschmack war es etwas zu viel “neuer dance move hier, spannender dance battle dort”, aber das liegt an meinem persönlichen Geschmack. Gut gefällt mir aber an diesem Aspekt, dass er den Figuren ein Leben gibt, das außerhalb von Diskriminierungserfahrungen stattfindet – auch, wenn die Furcht vor solchen immer in der Luft liegt.

Ich mag auch, dass Ocean nicht der klischeehafte reiche, weiße happy-go-lucky Sonnyboy ist, in dessen Leben alles perfekt läuft. Auch er hat ein problematisches Umfeld, mit dem er zu kämpfen hat. Dass er auch tatsächlich kämpfen sollte, wird ihm aber erst so richtig klar, als er sich mit Shirins Lebensrealität auseinandersetzen muss. Das hat Ocean für mich realer gemacht, greifbarer und weniger schablonenartig, wie es sonst leider oft mit Jugendbuchcharakteren ist. Und das macht auch die aufkeimende Liebesgeschichte zwischen Shirin und Ocean nahbarer.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Wie du mich siehst für Teenager sehr lehrreich ist und augenöffnend wirkt: das Buch erklärt nicht nur den Privilegierten viel über die von Privilegierten verursachten Probleme im Alltag der Betroffenen und regt damit dazu an, aktiv dagegen anzugehen (aka “break the wheel”) , sondern beinhaltet auch so einige Lektionen in Bezug auf Selbstreflexion der Betroffenen. Okay, das war ein komplizierter Satz. Kurzgefasst: Jeder Leserin dieses Buches kann viel daraus mitnehmen, ob betroffen oder nicht. Und dabei hebt die Autorin nicht den sprichwörtlichen Zeigefinger und sagt “du musst xy machen/mit xy aufhören!”, sondern baut das sehr geschickt in Shirins Geschichte ein.

Insgesamt habe ich den Eindruck, dass ich aus Büchern mit Protagonistinnen im Highschool-Alter herausgewachsen bin. Mir fällt es inzwischen oft schwer, die Probleme von Sechzehnjährigen gespannt zu verfolgen und mit jeder Entwicklung mitzufiebern. Da bei Wie du mich siehst der Fokus aber weniger auf den so oft so klischeehaft beschriebenen Problemen von Schülerinnen liegt (heimliche Schwärmerei, erste Liebe, Cliquenkrieg, Verrat unter “Freundinnen”, wer mit wem, der Lehrer mag mich nicht, meine Eltern erlauben mir gar nichts, …) habe ich mich trotz des recht langsamen Leseflusses nicht gelangweilt. Auch das Ende passt gut zur Geschichte und zum Stil, in der diese geschrieben ist. Ich hätte mir trotzdem etwas mehr closure gewünscht.

Fazit

Wie du mich siehst ist bedrückend, realitätsnah und beängstigend – und gibt doch Hoffnung darauf, dass es besser werden kann. Dass man selbst es besser machen kann. Das Buch regt an, die eigene Haltung kritisch zu betrachten und den Mund aufzumachen, wo es nötig ist. Ich werde es so schnell nicht vergessen und in den nächsten Monaten jeder
m Jugendlichen empfehlen, die*der mich nach einem Buchtipp fragt.

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