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Veröffentlicht am 14.05.2019

Sehr empfehlenswert

Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche
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Da ich hier kein echtes Profilbild hochgeladen habe, möchte ich als Erstes betonen, dass ich Weiß bin und so "Flagge zeigen": Ja, ich bin mir meines white privilege bewusst, jener himmelschreienden Ungerechtigkeit, ...

Da ich hier kein echtes Profilbild hochgeladen habe, möchte ich als Erstes betonen, dass ich Weiß bin und so "Flagge zeigen": Ja, ich bin mir meines white privilege bewusst, jener himmelschreienden Ungerechtigkeit, die in dieser unserer westlichen Welt "Weiß sein" als Standard festgelegt hat, weswegen es im "Regelfall" eben nicht explizit erwähnt wird. Reni Eddo-Lodge erzählt dazu eine berührende Anekdote, in der sie als Kleinkind ihre Mutter fragte, wann sie denn weiß werden würde - schließlich seien im Fernsehen alle gute Menschen weiß, die Schwarzen irgendwie immer die Bösen, und sie sei doch ein gutes Mädchen, also muss auch sie doch irgendwann weiß werden?

Macht es doch selbst einmal, dieses kleine Gedankenexperiment: Wenn ihr Bücher lest oder über Charaktere sinniert, stellt auch ihr sie euch meist weiß "by default" vor? - sollte es sich um eine PoC handeln, wird das ja schließlich immer explizit erwähnt, oder? Und, was habt ihr "gesehen"? John Grisham hat dieses Gedankenexperiment Ende der 80er als wirklungsvollen Plot Point in Die Jury eingesetzt, und es hat nichts an seiner Aktualität verloren. Das ist noch eine recht harmlose Variante von white privilege, die aber deutlich vermittelt, wie voreingestellt unsere Denkmuster sind. Deswegen die lange Vorrede und die explizite Erwähnung - setzt mein Weißsein nicht einfach so Voraus. Ich habe dieses Privileg, ich bin mir dessen bewusst, und ich will es bekämpfen.

Reni Eddo-Lodge versucht, mit ihrem Buch - entgegen des Titels, den einige Unverbesserliche nur zu gerne als "Provokation" auffassen, was die Aussage der Autorin nur noch mehr bestärkt - zwei Dinge zu erklären: Die Geschichte des Rassismus in Großbritannien sowie die Geschichte des Verschweigens desselben. Und so bietet das erste Kapitel auch gleich einen sehr ausführlichen, mit zahlreichen Beispielen (und Quellen, überhaupt ist das Buch sehr gut recherchiert) belegten Überblick über die Geschichte von PoC in GB und ihrer systematischen, strukturellen Unterdrückung von den Anfängen des Sklavenhandels über die Kolonialzeit bis heute. PoC, Rassismus - da denken die meisten Menschen in erster Linie an die Geschichte der USA, die ist ja auch gut bekannt und dokumentiert. Doch auch PoC in GB hatten und haben schwere Zeiten durchgemacht, tun dies noch immer, und die Autorin gibt ihnen eine Stimme, die aufgrund des US-Fokus bisher viel zu leise war. Mir war sehr vieles neu; was mich verwundert hat: Der Autorin, und somit anderen PoC in GB, ebenfalls. Da scheint GB noch viel Aufarbeitung der eigenen Geschichte vor sich zu haben.

Zur Geschichte des Verschweigens kommt dann wieder der Titel ins Spiel: Rassismus, so die Autorin, ist eine Angelegenheit der Weißen. Sie sind dafür verantwortlich, setzen ihn durch und um - und sind sich dessen oft gar nicht bewusst. Deswegen kommen oft auch abwehrende, rechtfertigende bis hin zu vollends wütenden Reaktionen, wenn diese "zornige schwarze Frau" es doch mal wagt, den Mund aufzumachen. So erklärt sich der Titel - und so erklärt die Autorin u.a. das bereits erwähnte white privilege und die Fehlannahme von "reverse racism" - für mich die stärksten Teile des Buchs.

Die weiteren Kapitel waren ebenso wahnsinnig interessant, denn sie lassen sich - auch wenn sie wieder den Fokus auf GB legen - auch auf alle anderen europäischen Länder übertragen, in denen Vorurteile gegen PoC und/oder MigrantInnen, Fremdenhass und Ausgrenzung auf dem Vormarsch sind. Da geht es um die Angst der "Einheimischen", von einer fremden Rasse quasi annektiert zu werden (die "Umvolkung", vor der die Neu-Rechten auch in Deutschland warnen), die Angst der Arbeiter, dass ihnen "von denen" die ohnehin schon spärlichen Jobs (und die Frauen!) gestohlen werden usw. usf....genau der gleiche Mist wie bei uns. Auch spannend: Im Buch wird das Konzept der Intersektionalität sehr ausführlich und verständlich erklärt.

Ich empfehle dieses Buch allen Menschen, die sowieso grundsätzlich an der Thematik interessiert sind. Ganz ausdrücklich empfehle ich es weißen Menschen, die noch "ganz am Anfang stehen", sich ihrer Privilegien bewusst zu werden und mehr darüber erfahren wollen. Die aufgeschlossen sind, nicht vor Selbstkritik zurückschrecken und gemeinsam mit anderen Stellung beziehen wollen. Macht den ersten Schritt und lest dieses Buch. Es wird eine sehr inspirierende Reise.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Tolles Buch, rundum empfehlenswert.

Frauenpower made in Europe
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Es gibt nur eine Sache, die ich an diesem Buch schade finde - und da kann das Buchs nicht mal was für: Dass meine Nichte noch zu jung dafür ist. Ansonsten ist dies ein tolles Lese-, Lern- und Anschaubuch ...

Es gibt nur eine Sache, die ich an diesem Buch schade finde - und da kann das Buchs nicht mal was für: Dass meine Nichte noch zu jung dafür ist. Ansonsten ist dies ein tolles Lese-, Lern- und Anschaubuch für ältere Kinder: Gut zusammengestellt, sehr informativ und liebevoll gestaltet.

In den knapp 120 Seiten sind, nach Geburtsjahr geordnet, Porträts "großer" europäischer Frauen versammelt, mal über zwei, mal über vier Seiten, mal als Kurzeintrag auf einer Übersichtsseite (wie z.B. große Wissenschaftlerinnen oder erfolgreiche Sportlerinnen). So werden im letzten Übersichtsteil über "Die junge Generation", z.B. auch Laurie Penny oder Hazel Brugger erwähnt, was ich ziemlich cool fand.

Aber zurück zu den eigentlich "großen" Frauen, die ausführlicher dargestellt werden. Ich finde die Auswahl sehr gelungen, wobei sich mir natürlich schon die Frage gestellt hat, was die Autorin denn wohl unter "groß" versteht. Klar erwartet man, Steffi Graf oder Angela Merkel vorzufinden, allein schon aufgrund ihrer großen, offensichtlichen, rekordhaften Erfolge. Doch dieses Buch bietet weit mehr, eigentlich von allem etwas: Frauen, die durch die Geschichtsbücher bekannt sind (z.B. Jeanne d'Arc, Rosa Luxemburg oder Sophie Scholl), Wissenschaftlerinnen (wie Marie Curie, Ada Lovelace oder Jane Goodall), Künstlerinnen und Kreative (Virginia Woolf, Coco Chanel, Astrid Lindgren) oder einfach nur Heldinnen, die vor allem durch Pionierarbeit geglänzt haben, wie Fliegerass Elly Beinhorn oder Lili Elbe, die erste trans Frau mit geschlechtsangleichender Operation.

Was mir richtig gut gefallen hat, sind zwei Punkte:

1) Empowerment: Die Leistungen der Frauen werden nicht einfach nur nacherzählt, sondern immer jeweils die Besonderheit betont - mit Bezug auf die Hindernisse der jeweiligen Zeit, die den Frauen in den Weg gelegt wurden. Dies ist zum einen ein spielerischer Exkurs in die Geschichte der Emanzipation - ganz nebenbei erfahren die jungen Leserinnen (und Leser, warum nicht), dass für Frauen nicht immer alles, was heute "normal" ist, selbstverständlich war. Zum anderen wird den jungen Mädchen mitgeteilt: Auch ihr könnt alles schaffen, was ihr wollt, so wie diese Frauen es geschafft haben. Eine tolle, ermutigende Botschaft, und das ohne erhobenen Zeigefinger.

2) Begeisterung, aber ohne Scheuklappen: Auch wenn dieses Buch eine sehr positive und aufmunternde Grundstimmung verbreitet, so verliert es nicht die Balance und ist nicht vollends unvoreingenommen. Kritische Anmerkungen zu den Frauen werden erwähnt und erläuert, z.B. über Hannah Ahrendts Eichmann-Buch und die ihr vorgeworfene Banalisierung des Bösen oder Alice Schwarzers Werbung für die BILD-Zeitung. Das macht das Ganze umso authentischer.

Die Leseempfehlung liegt bei zehn bis zwölf Jahren, ich finde, das passt gut. Einige schwere Wörter werden ganz nebenbei erklärt, und die Illustration ist niedlich-verspielt, aber dennoch sind die Einträge klar strukturiert: Einem kurzen Vorspann folgt der eigentliche Text, dazu gibt es einen Lebenlauf in Kurzversion, ein Zitat und ein Bild.

Tolles Buch, rundum empfehlenswert.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Thema gut, Umsetzung mau

Sexuell verfügbar
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Schade, da hatte ich mir weitaus mehr von versprochen. Die Grundthematik ist gut gewählt, und ich stimme auch vielen Thesen der Autorin zu. Grob gesagt geht es um die üblichen Rollenbilder, in die Frauen ...

Schade, da hatte ich mir weitaus mehr von versprochen. Die Grundthematik ist gut gewählt, und ich stimme auch vielen Thesen der Autorin zu. Grob gesagt geht es um die üblichen Rollenbilder, in die Frauen von Kindheit an gepresst werden und die sie in so vielen Dingen einengen: Immer lieb und brav sein, es allen recht machen, Konflikte lösen, aber nicht suchen (das wäre ja bitchy, also für Frauen, bei Männern ist es quasi ein Muss, was ein Kerl!). Befolgt das brave Mädchen diese Ratschläge, wird es eines Tages soweit sein und der Märchenprinz kommt angeritten (hallo, heteronormatives Weltbild). Aber, aufpassen, dass da nicht eine andere kommt, die es besser macht (und dadurch letztlich den potenziellen Partner wegschnappt). So weit, so mies, und dass mehr Solidarität unter Frauen immer eine gute und erstrebenswerte Sache ist, steht wohl außer Frage. Gemeinsam für eine gute Sache streiten als sich gegenseitig sketisch zu beäugen - zweifellos die bessere und klügere Alternative. Gilt übrigens für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht oder anderen "einordnenden" Merkmalen.

Leider scheitert dieses Buch für mich an der Umsetzung. Ich fand nie richtig rein, oder besser: Ich habe den roten Faden nie wirklich gefunden. Caroline Rosales vermengt hier zwei derzeit beliebte Stilmittel: Sie beleuchtet verschiedene Aspekte des Feminismus und seiner Ziele - man könnte das Buch also durchaus als Essaysammlung verstehen. Gleichzeitig versucht sie, jeden Einzelaspekt anhand ihrer eigenen Biografie zu erklären - und das hat für mich leider überhaupt nicht funktioniert.

Im Gesamtwerk betrachtet, fühlt es sich so an, als hätte Caroline Rosales so ziemlich jede Rolle, um die sich die jeweiligen Kapitel drehen, schon einmal probiert - aber irgendwie sind alle Mist gewesen. Sie ist/war die Möchtegernprinzessin, der leicht zu beeinflussende Teenager, die heimliche Lesbe, die Geliebte, die Ausgenutzte, die treue Partnerin, die Betrogene, die sexuell aufgeschlossene, die Prüde, die Mutter, die Karrierefrau... usw. Es war mir zu viel und zu durcheinander, und ich habe bis zum Schluss nicht wirklich herausgefunden, wer Frau Rosales wirklich ist oder was sie will - und die "eigenen" Anekdoten daher eher als verwirrend, wenn nicht hinderlich empfunden.

Drei Beispiele:

1) Sie plädiert für die Solidarität unter Frauen, hetzt jedoch gegen bestimmte Gruppen ab. Wie z.B. gegen die Mütter vom Prenzlauer Berg (ja, auch ich finde Helikoptereltern nervig, aber ich lasse mich darüber nicht seitenlang in einem solidarischen Buch aus...) oder Frauen, die Sex ohne Gefühle haben, weil, das glaubt sie nicht, und ich möchte aus eigener Erfahrung dagegen halten - JA, SO ETWAS GIBT ES (Anspielung auf eine weitere Macke im Buch, an einigen Stellen wird man in CAPS LOCK angeschrien und ich war noch verwirrter...).

2) Sie zeichnet ein Bild von sich - wenn ich es denn richtig verstanden habe - als mittlerweile emanzipierte Frau Mitte 30, die weiß, was sie will. Dem war wohl nicht immer so. Und obwohl alle ihre bisherigen Männer (Freunde, Geliebte, Affären...) auf ihre Art und Weise alle Nieten waren (abgesehen vom aktuellen Partner), gab es eigentlich sowieso nur eine einzige wahre, echt Liebe in ihrem Leben: Ihre damalige Freundin aus Teengertagen. Denn damals war sie eine Lesbe. Zwar heimlich und so, aber lesbisch. Aber die Gesellschaft (u.a. begünstigt durch ihre katholische Erziehung, Mädchenschule usw.) hat ihr das quasi ausgetrieben. What? Ist sie nun lesbisch oder nicht? Wenn ja, warum war sie dann auch später, nach der Metamorphose zur Rebellin mit Chef-Affäre und offener Beziehung, immer nur mit Männern zusammen? Oder war sie vielleicht "nur" bisexuell? Oder vielleicht einfach nur verwirrt? Ich jedenfalls war es und habe diese, hmmm, Entwicklung des "Plots" einfach nicht nachvollziehen können. Grüße an alle zu oft vergessenen Bisexuellen da draußen. I hear you!

3) Sie mag schlau, klug und unfassbar belesen sein - zumindest findet im Buch einiges an Name-Dropping statt. Aber dann müssen eben auch die Fakten sitzen. Und nein, es ist nicht §218, der das Werbeverbot für Abtreibungen regelt, das ist §219 a - das ging nun, gerade in letzter Zeit, genug durch die Medien, und wenn das ein wichtiger Punkt meines Buches ist, der mehrfach erwähnt wird, darf so ein Schnitzer nicht passieren. Ob Autorin oder Lektorat, irgendwer hat hier böse geschnarcht, und das schmälert mein Lesevergnügen erhebelich, denn ich frage mich: Hey, was wurde hier noch verpennt?

Und es gibt noch mehr Dinge, die nicht passen, diese unterschwellige Prüderie und das zeitweise Leben einer offenen Beziehung usw. Insgesamt fehlte mir der Zugang, der Charme. Und nein, Frauen müssen nicht immer nett und freundlich sein - das sind Rebecca Solnit oder Virginie Despentes in ihren Essays auch nicht, im Gegenteil. Doch dieses Buch hier war mir einfach zu verwirrt, zu verkopft, zu "steif". Da empfehle ich lieber die bereits erwähnten Damen: z.B. Rebecca Solnit für Essays und Margarete Stokowski für "Feminismus anhand der eigenen Biographie".

Tl;dr: Thema gut, Umsetzung mau - mehr als zwei Sterne für "Okay" sind da nicht drin.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Sehr unterhaltsam, weitaus besser als erwartet und sehr komisch

Scharnow
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Zunächst muss ich einmal sagen, dass ich weder ausgewiesener Ärzte- noch Bela-B-Fan bin, sodass ich ziemlich unvereingenommen an die Sache herangegangen bin. Ich habe mir das Hörbuch gegönnt.

Und ich ...

Zunächst muss ich einmal sagen, dass ich weder ausgewiesener Ärzte- noch Bela-B-Fan bin, sodass ich ziemlich unvereingenommen an die Sache herangegangen bin. Ich habe mir das Hörbuch gegönnt.

Und ich wurde nicht enttäuscht: Scharnow ist wirklich ein außergewöhnlich unterhaltsamer Roman, weitaus skurriler und lustiger, als ich gedacht hätte. Und wir reden hier nicht über billigen Schenkelklopferhumor, sondern wahrlich bizarre Charaktere in abgedrehten Situationen, die so gut poinitert beschrieben und verewigt werden, dass sich - zum Glück - kein Klamauk einstellt. Das hätte auch in die Hose gehen können, aber Herr Felsenheimer wahrt gekonnt die Balance.

Das Buch spielt in einem zeimlich eng gesteckten Zeitrahmen in dem fiktiven Ort Scharnow in Brandenburg, nahe Berlin. Hier tummeln sich Menschen wie du und ich - oder etwa nicht? Es gibt einsame Frauen, rebellische Mangamädchen, zerstrittene Brüder, keifende Omis, kuriose Bünde und Männer, die in einer Art Mischung aus Reichsbürgerideologie und Verschwörungswahn die Welt vor telepathischen Tieren retten wollen. Das klingt alles ziemlich abgedreht, und sicher ist es hier und da überspitzt, in Form von bizarrer Satire, aber es steckt so viel Wahres drin. Zum Glück und leider gleichermaßen.

Die Dinge, die in Scharnow passieren, geschehen innerhalb kürzester Zeit - gut die erste Hälfte des Buches spielt an einem einzigen Tag. Der Erzähler fliegt quasi über die Szenerie, beobachtet alles und jeden, mal mit dem Blickwinkel des syrischen Flüchtlings, mal durch die Augen zweier sich hassender Brüder, mal als tierliebende Kassiererin. So wird manche Szene durchaus doppelt beschrieben - und zwar so, dass man meinen könnte, zwei völlig unterschiedliche Handlungen zu erfahren. Verschiedene Wahrnehmungen und Blickwinkel, jeweils durch den ganz eigenen Filter des Betrachtenden, stellt Bela hier wirklich gut gelungen dar. Ich würde sogar soweit gehen, diese Art des Erzählens, die wechselnden POVs und verschiedenen Stimmen der Jetztzeit, bis zu einem gewissen Grad mit meiner heiß geliebten Vernon Subutex-Trilogie zu vergleichen - die Bizarro-Variante sozusagen ;)

Nicht verschwiegen werden sollte, dass in dem Buch einige wenige fantastische Elemente vorkommen. Es hält sich aber im Rahmen, mir wurde es nur zum Schluss hin etwas too much, aber ich bin da auch sehr empfindlich. Die Realität, wenn auch eine absurde, steht schon im Vordergrund.

Tl;dr: Sehr unterhaltsam, weitaus besser als erwartet und sehr komisch - allein der Supermarktüberfall und alles drumherum war ganz großes Kino. Hossa!

Veröffentlicht am 14.05.2019

Anstrengende Erzählweise

Die Farbe von Milch
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Ein englisches Dorf in den 1830er Jahren: Mary ist 14 und die jüngste von vier Töchtern eines Bauern, der sich lieber Söhne gewünscht hätte. Für seine Töchter hat er nicht viel übrig, er läßt sie hart ...

Ein englisches Dorf in den 1830er Jahren: Mary ist 14 und die jüngste von vier Töchtern eines Bauern, der sich lieber Söhne gewünscht hätte. Für seine Töchter hat er nicht viel übrig, er läßt sie hart arbeiten und misshandelt sie. Erst als ihr Vater Mary zum Arbeiten ins Pfarrhaus schickt, erfährt sie so etwas wie Geborgenheit und erhält obendrein Bildung. Doch das Schicksal hat für Mary noch mehr in petto.

Marys Geschichte ist sehr tragisch, und sicher kein Einzelfall. Schicksale wie ihres dürften im frühen 19.Jahrhundert an der Tagesordnung gewesen sein: Junge, ungebildete Frauen aus unteren Schichten, deren Leben durch Männer fremdbestimmt wurde: Vater, Arbeitgeber, Ehemann oder Liebhaber. Ein eigener Wille war weder gewünscht noch geduldet, harte Arbeit und zahlreiche Entbehrungen an der Tagesordnung.

Mary ist durch ihre aufgewecktes Wesen und ihre unverblümte Art ein besonderer Charakter. Sie ist nicht die brave/schüchterne/bibeltreue Tochter, auch nicht grundsätzlich aufsässig oder rebellisch. Sie ist in bestimmten Dingen naiv und hat keine Bildung, doch sie ist auf ihre Weise klug - sie hat, wortwörtlich, eine gehörige Portion Bauernschläue. Das und ihre direkte Art - sie sagt, was sie denkt, frei Schnauze und ohne Rücksicht auf Konventionen - bringen sie oft in die Bredouille, machen sie aber auch zu einer durchaus sympathischen Hauptfigur.

Trotzdem hat mich die Geschichte nicht so berührt, ich wie es mir erhofft hatte. Sicher hat bei mir der Stil dazu beigetragen, den ich als sehr mühsam empfand: Um Marys fehlende Bildung "stimmlich" zu verdeutlichen (die Geschichte wird aus ihrer Sicht erzählt bzw. von ihr niedergeschrieben) ist das Buch bewusst in einer simplen Sprache gehalten. Das bedeutet viele, für mich zu viele Verbindungen von Hauptsätzen mit der Konjunktion "und", also so à la "Ich tat dies und dann tat ich das und dann ging hier hierhin und dann sprach ich mit wem und dann ging die Sonne auf und dann ging ich schlafen." Ich verstehe, was die Autorin damit bezwecken wollte, aber mir war es zu anstrengend, hat mir das Zuhören erheblich erschwert und eher Langeweile als Spannung oder besonderes Interesse ausgelöst.

Allerdings hätte mir das schriftliche Buch vermutlich noch weniger, vielleicht sogar gar nicht gefallen. Zum einen macht Laura Maire ihre Sache als Sprecherin gewohnt gut, sie war einer der Hauptgründe, weshalb ich mich überhaupt für dieses Werk entschieden habe. Zum anderen habe ich einen "Blick ins Buch" gewagt und festgestellt, dass dort, bis auf Punkte, auf Satzzeichen verzichtet wird: Keine Kommas, keine Anführungszeichen für wörtliche Rede. Uff, damit wäre ich auf Dauer nur schwer klar gekommen. Noch krasser in der englischen Originalversion, hier wurde sogar konsequent auf Großschreibung, auch am Satzanfang, verzichtet. Das hätte mich möglicherweise überstrapaziert. Von daher war das Hörbuch wohl noch die beste Wahl- aber mehr als zwei Sterne als "okay" sind da trotzdem nicht drin.

Tl;dr: tragische Geschichte mit potenziell interessanter Hauptfigur, aber durch die spezielle Erzählweise für mich ein anstrengendes und streckenweise auch recht langatmiges Werk.