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Veröffentlicht am 04.09.2020

Die Geschichte des Terrors und seiner Folgen

Der Fetzen
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Philippe Lançon ist Journalist und Überlebender des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar 2015. In diesem Buch verarbeitet er seine lange, mühsame Leidengeschichte, ...

Philippe Lançon ist Journalist und Überlebender des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar 2015. In diesem Buch verarbeitet er seine lange, mühsame Leidengeschichte, unterteilt sein Leben in das "Davor" und "Danach", schildert den Anschlag, die ersten Momente danach, die zahlreichen Operationen und Krankenhausaufenthalte, das Entschwinden aus der "aktiven" Gesellschaft und schließlich den beschwerlichen Weg zurück ins (neue) Leben.

Man mag sich so eine Qual, physischer und psychischer Natur, überhaupt nicht vorstellen - und man kann es auch nicht. So war es sicher auch ein Hauch Voyeurismus, gepaart mit der Neugier auf Verarbeitungsstrategien des Traumas, die mich zu diesem Werk greifen ließen. Stichwort: "Wie gehe ich mit dem Überleben um, wenn so viele andere gestorben sind - warum ich?" oder auch "Wie kann ich Außenstehenden auch nur im Ansatz begreifbar machen, was passiert ist - und wie ich (nicht) damit umgehen kann?"

Zunächst: Applaus für Philippe Lançon, nicht nur fürs "bloße Überleben", sondern fürs Kämpfen und Abrackern und Festhalten all dieser Umstände - der Autor geht mit allen, sich selbst eingeschlossen, offen und ehrlich um. So gesehen ist dieses Buch sicher eine Art Befreiungsschlag für ihn - es ist schon teils recht schonungslos, wie er Unzulänglichkeiten (eigene, die anderer, des Gesundheitssystems) aufdeckt und beschreibt. Ich fragte mich dann aber irgendwann: Ist das noch Buch oder schon Therapie - und ist das auch wirklich alles für mich und meine Ohren (bzw. Augen) bestimmt? Es ist schon eine besondere Intimität, die der Autor hier zulässt, und die auf die lesende Person überspringt. Das muss man mögen - ist aber natürlich bei der Thematik erwartbar, da sollte eigentlich man schon so halbwegs wissen, worauf man sich einlässt.

Nun zum großen Aber: Auch Lançons Stil muss man mögen, und da musste ich dann doch ziemlich mit kämpfen. Die Sprache ist sehr literarisch, blumig und extrem von Exkursen zu verschiedensten "schönen Künsten" (Literatur, bildende Kunst, Jazz, Philosophie...) geprägt. Augenscheinlich erzählt Lançon seine Geschichte chronologisch - doch das häufige Bewusstseinsstrom-artige Schwadronieren über Hochkultur hat mich immer wieder rausgerissen und dann auch sehr schnell gelangweilt. Ich konnte die vielen derartigen Ausflüge nicht oder nur kaum in Bezug zur eigentlichen Geschichte setzen, so wie es wohl gedacht war.

Und wie immer ist auch hier meine Bewertung daher eine ganz persönliche Sache: So sehr mich die Thematik auch interessierte und so sehr ich auch Lançons Offenheit schätze, um so enttäuschter war ich größtenteils mit der Umsetzung.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Pandemien im Wandel der Zeit

Pest und Corona
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Wie bei jedem Thema des "Zeitgeistes" hat der Buchmarkt aktuell auch einiges zu "Corona/Covid-19" zu bieten, und ich frage mich bei diesen Büchern ja immer, wie viel davon Schnellschuss ist und was wirklich ...

Wie bei jedem Thema des "Zeitgeistes" hat der Buchmarkt aktuell auch einiges zu "Corona/Covid-19" zu bieten, und ich frage mich bei diesen Büchern ja immer, wie viel davon Schnellschuss ist und was wirklich halbwegs interessante, hilfreiche oder zumindest nicht vollends verschwurbelte Lektüre zum Thema sein möge. Ist so ein Buch in einer Zeit, in der wöchentlich, wenn nicht täglich eine neue Sachlage neue Reaktionen und Folgen hervorruft, nicht zur Erscheinung schon überholt?

Nun, mit diesem vorliegenden Werk macht man, was diese Überlegungen angeht, nicht viel falsch. Dieses Buch erscheint in der Tat zum "richtigen" Zeitpunkt (oder dem, was einem solchen in diesen Tagen entspricht), denn es fokussiert nicht allein auf die Gegenwart und leitet daraus mögliche spekulative Entwicklungen ab. Es vergleicht vielmehr die aktuelle Pandemie mit vorherigen, analysiert die damaligen Vorgehen und ihre Ergebnisse und versucht, daraus Empfehlungen für die aktuelle Situation abzuleiten.

Natürlich wird auch dieses Buch in absehbarer Zukunft zumindest teilweise überholt sein - was das aktuelle Zahlenmaterial und den aktuellen Forschungsstand (hier: Ende April 2020) betrifft. Zum Zeitpunkt des Lesens fiel das noch nicht so ins Gewicht, abgesehen davon ist der eigentliche Inhalt dann wieder recht zeitlos. Die Autoren sind "alte Hasen" in Sachen Medizin und Medizingeschichte, müssen sich also nicht groß in eine komplett neue Materie einarbeiten. Auch dies erklärt sicher einen Teil der "schnellen" Veröffentlichung.

Grundsätzlich ist die Sprache und Argumentation der Autoren sehr sachlich und verständlich. Sie vergleichen Corona auf verschiedenen Ebenen mit vergangenen, großen Pandemien - von Pest und Cholera über Polio, Malaria und Spanische Grippe bis hin zu Aids - Beispiele gibt es genügend. Wie wurden diese Pandemien entdeckt, eingedämmt, wie wurde ihnen vorgebeugt? Welche Maßnahmen erwiesen sich als hilfreich, welche als unsinnig? Und welche Lehren wurden daraus gezogen? Die Autoren stellen auch durchaus kritische Fragen, aber auch hier: Sachlichkeit first! Das kommt alles sehr seriös und fundiert daher.

Die medizinhistorischen Bereiche haben mir gut gefallen. Da waren einige durchaus spannende, teils erschreckende und auch sehr informative Aspekte dabei. Allerdings gab es dafür auch einige Passagen, die sich teils sehr detailliert mit verschiedenen naturwissenschaftlichen Teilbereichen befasst haben. Da hat mir das Buch etwas zu sehr geschlingert und ich fragte mich (und das nach immerhin gut einem Drittel des Textes), ob ich überhaupt zum Zielpublikum gehöre. War mir persönlich an diesen Stellen eindeutig zu wissenschaftlich. Auch kam mir der "Ausblick-Teil" zu wenig vor, hier hatte ich mir etwas mehr von erhofft.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Empfehlenswertes Buch zum Thema

Vom Ende der Klimakrise
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Ein grundsolides, durchaus auch informatives Werk der deutschen Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer und des Politökonomen Alexander Repenning. Den "jungen Leuten" werden ja oft mangelnde Kenntnisse, ...

Ein grundsolides, durchaus auch informatives Werk der deutschen Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer und des Politökonomen Alexander Repenning. Den "jungen Leuten" werden ja oft mangelnde Kenntnisse, blinder Aktionismus und/oder übereifrige Panikmache vorgeworfen. Mit diesem Buch beweisen sie, dass sie sehr wohl wissen, wovon sie sprechen, warum sie das tun und was sie fordern (und warum).

Es versteht sich dabei fast schon von selbst, dass dies kein Buch ist, das individuelle Tipps zu einem nachhaltigeren Leben auflistet. Das kann es und will es auch gar nicht. Denn natürlich trägt auch dieses Buch die eindeutige Botschaft: Die Taten und Verhaltensweisen jedes Individuums in allen Ehren, solange sie keine größere Bewegung auslösen, muss viel "weiter oben" angesetzt werden - hier sind sich die meisten AutorInnen der Bewegung/Thematik (zumindest die, die ich bisher dazu gelesen habe) ja ziemlich einig.

Die AutorInnen erklären vielmehr ihre allgemeine als auch sehr persönliche Motivation zu ihrem Engagement in der Klimakrise. Sie zeigen die verschiedenen Facetten der Krise auf: Warum sie nicht nur "allgemein scheiße" ist, sondern, warum sie von der globalen Ungerechtigkeit nur noch weiter befeuert wird und sie gleichzeitig vorantreibt, inwiefern der Kapitalismus dem Ganzen Vorschub leistet, wie es mit der "Generationenverantwortung" aussieht und warum es so schwer fällt, gegen all das anzugehen.

Auch die Leidenschaft der AutorInnen sticht hervor - vor allen in den hinteren Kapiteln, die sich hauptsächlich mit der Mobilisierung (von sich selbst und anderen) beschäftigt und motivierende Aufrufe, Tipps und konkrete Vorschläge bietet.

Grundsätzlich kann man also sagen, dass das Buch eine gute Übersicht zur Faktenlage und eine ebensolche Basis für weitere Diskussionen bietet. Allerdings hatte das Werk für mich auch seine Längen - hier und da fand ich es auf der persönlichen Ebene doch zu ausschweifend. Natürlich ist es eine interessante Info, was die AutorInnen persönlich bewegt, und ich verstehe auch, dass sie sich so einiges vielleicht auch einfach mal "von der Seele schreiben" wollten - gerade Luisa Neubauer musste sich ja hier und da so einiges anhören. Mir persönlich wurde es dann an einigen Stellen aber doch zu viel. Nichtsdestotrotz ein empfehlenswertes Buch zum Thema.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Viel versprechender Beginn, dann verliert es sich

Herzklappen von Johnson & Johnson
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Ach schade, das war nicht wirklich ein Buch für mich. Dabei hat es durchaus ansprechend angefangen und ist auch grundsätzlich recht schön, im Sinne von fast poetisch geschrieben - das hat mich dann aber ...

Ach schade, das war nicht wirklich ein Buch für mich. Dabei hat es durchaus ansprechend angefangen und ist auch grundsätzlich recht schön, im Sinne von fast poetisch geschrieben - das hat mich dann aber letztlich doch eher unbefriedigt zurückgelassen, mehr dazu gleich.

Zunächst einmal dies: Das Buch ist leider ein klarer Fall von fehl geleitetem Marketing. Der Klappentext spiegelt die hauptsächliche Thematik eher unzureichend wieder und führt diejenigen, die an dem dort im Mittelpunkt stehenden Thema interessiert sind, in eine frustrierende Irre. Für mich fließt das nicht direkt in meine Bewertung ein, da ich keine besondere Erwartung hatte, Klappentext hin oder her - zumal die Autorin nichts dafür kann. Dennoch hat es meine mit jeder Seite wachsende Verwirrung nicht wirklich reduziert.

Beherrschendes Thema ist der Umgang und das Leben mit Schuld. Im Mittelpunkt stehen Alma, ihre Lebensgeschichte (vom Kindesalter bis zur Mutterschaft) und Beziehungen. Wir erfahren einiges über ihre Kindheit, etwas über ihre Eltern, am meisten aber über ihre Großeltern. Abwechselnd werden Opa und Oma, deren persönliche Schicksale und die wechselnde bzw. wachsende Beziehung zu Alma beleuchtet.

Der Opa, der als junger Mann im Zweiten Weltkrieg kämpfte, dabei viel Schuld auf sich lud, in Kriegsgefangenschaft geriet und als Mann heimkehrte, dessen "Nachher" von eben jenen Faktoren und Erlebnissen geprägt wurde. Die Oma als seine Konstante, die die "Vorher"-Version ihres Mannes nie kennengelernt hat. Valerie Fritsch beschreibt die Gräuel des Krieges und ihre (Spät)folgen. Dieser Teil - gerade die Kontraste der kleinen Alma, die aus dem schweigsamen Opa nicht schlau wird, mit der großen Alma, die sich den Großeltern mit Wissen und Verständnis neu annähert, hat mir gefallen. Geschickt spielt Valerie Fritsch mit Selbst- und Fremdbild und wie sich diese durch Erfahrungen ändern - garniert mit wirklich tollen Sätzen wir zum Beispiel: "Wie alle wollten sie [die Eltern] anders sein als die eigenen Eltern, aber später Kinder haben, die waren wie sie.". So gut, so wahr.

Spätestens, als die Erzählung mehr in die Gegenwart schwenkte und die stets von der Vergangenheit der Geschichte geprägten Großelterngefilde verlässt, fing irgendetwas an, mich zu stören. Alma lernt ihren späteren Mann kennen, sie bekommen einen Sohn (jenen schmerzunempfindlichen Emil)... und dann fiel es mir auf: Hier passte die Erzählung für mich nicht (mehr). Das gesamte Buch kommt komplett ohne Dialoge aus, es findet sich keine einzige direkte und auch kaum indirekte Rede. Alles wird beschrieben, bis ins kleinste Detail, doch mir fehlte die direkte Interaktion, die Kommunikation zwischen den Figuren. Die "neuen" Verbindungen blieben für mich kalt, blass, unnahbar. Was bei den wie Rückblenden wirkenden Passagen gut funktioniert hatte, ja, mir dort nicht mal auffiel, störe mich umso mehr im späteren Teil.

Hinzu kam, dass die Geschichte ca. ab der Hälfte einen Bruch vollzieht und die zweite Hälfte - in der Alma mit ihrer Familie nach Kasachstan reist, um der Vergangenheit des Opas (der einst dort im Einsatz und in Kriegsgefangenschaft war) zu folgen, sich sehr gezogen hat. Da stimme die Gewichtung der Erzählstränge für mich überhaupt nicht mehr. Alma hält die Geschichte(n) zusammen, gleichzeitig fungiert ihr Sohn, der keinen Schmerz empfinden kann, als eine Art Klammer bzw. Spiegelung der "Stumpfheit" des Großvaters. Auch das ging alles nicht so richtig für mich auf. Das Thema postnatale Depression wurde auch noch für ein paar Seiten eingestreut - nun ist das Buch allgemein nicht wirklich lang, aber weniger wäre hier und da vielleicht (noch) mehr gewesen.

Allgemein hinterließ das alles einen sehr unausgegorenen Eindruck bei mir, schade und enttäuschend nach dem viel versprechenden Beginn.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Böse, düster, schlau

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung
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Dieses Buch war eine köstliche böse Leckerei. Auf den ersten Blick geht es um eine junge, hübsche und finanziell unabhängige Frau, die sich entschließt, einen selbst herbeigeführten "Winterschlaf" zu halten ...

Dieses Buch war eine köstliche böse Leckerei. Auf den ersten Blick geht es um eine junge, hübsche und finanziell unabhängige Frau, die sich entschließt, einen selbst herbeigeführten "Winterschlaf" zu halten in der Hoffnung, besser, kraftvoller und ernuert aufzuwachen. Mit Hilfe einer Psychiaterin (einer der schlimmsten literarischen Beispiele eines medizinisch tätigen Charakters, die ich je gelesen habe) testet sie sich durch Medikamente und Pillen, immer auf der Suche nach der Art von Tiefschlaf, nach der sie sucht. Klingt öde? Ist es aber ganz und gar nicht!

Unsere unbenannte Protagonistin scheint, aus den oben bereits genannten Gründen, ein sorgenfreies Leben zu führen. Doch wie es oft der Fall ist, erweisen sich diese Annahmen als Trugschluss, sobald die Hintergrundgeschichte der Erzählerin nach und nach ans Licht kommt - langsam und gemütlich, so wie der drogeninduzierte Schlaf, der sie immer wieder befällt. Dies ist also nicht nur eine böse Geschichte über von ärztlicher Seite unterstütztem Medikamentenmissbrauch, sondern auch über verschiedene dysfunktionale Beziehungen. Als da wären:

- Die Erzählerin und ihre beste Freundin Reva (die hilfsbedüftigt ist, klammert und ziemlich nervig rüberkommt, die aber von der Erzählerin aber auch emotional ausgenutzt wird und mir nach einer Weile sogar leid getan hat)

- Die Erzählerin und ihr on/off "Boyfriend" Trevor (der diesen Titel in der Anführung eigentlich nicht verdient, da er sie nur benutzt, wenn ihm dannach ist, und nicht klar wird, warum die Erzählerin das überhaupt mit sich machen lässt)

- Die Erzählerin und ihre Elter, vor allem ihre Mutter (merkwürdig, wenn nicht gruselig) im krassen Kontrast zu Reva und ihrer Mutter.

Ein weitere interessantes Detail bilden Ort und Zeit der Erzählung: Es spielt New York in den frühen 00er Jahren, also vor 9/11 - die "Unschuld", fast Naivität der Charaktere, die nicht wissen, was vor ihnen liegt, fügt der komplexen, düsteren Geschichte eine weitere, geradezu traumähnliche Nuance hinzu.

Dies ist also mehr als ein "verschlafenes Buch". Es hat mich aber doch eingelullt, und zwar so, dass ich es nicht erwarten konnte, wieder darin zu versinken, in seinem beständigen Rhythmus, seiner Suche nach Schlaf und seiner einzigartigen Protagonistin. Sie ist nicht besonders sympathisch, aber wenn ich so einen super interessanten, ziemlich "anderen", konsequenten weiblichen Charakter habe, der sich nicht rechtfertigt, ist mir das ziemlich egal.