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Veröffentlicht am 13.09.2019

So macht Geschichte Spaß!

Funkenflug
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"Jahresbücher" scheinen in letzter Zeit schwer in Mode zu sein. Allein aus der jüngsten Vergangenheit erinnere ich mich ad hoc an Florian Illies mit seiner Abhandlung zu "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" ...

"Jahresbücher" scheinen in letzter Zeit schwer in Mode zu sein. Allein aus der jüngsten Vergangenheit erinnere ich mich ad hoc an Florian Illies mit seiner Abhandlung zu "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" (ein Jahr, zu dem es so viel zu erzählen gibt, dass er mit "1913 – Was ich unbedingt noch erzählen" wollte gleich noch einen Band nachgelegt hat), Victor Sebestyen mit "1946: Das Jahr, in dem die Welt neu entstand" und Birte Försters "1919. Ein Kontinent erfindet sich neu". Sicher haben die Auslagen der Buchhandlungen noch mehr zu bieten, und warum auch nicht? Immerhin bietet dieses Format die Möglichkeit, geschichtliches Wissen, sowohl poltitischer, kultureller und gesellschaftlicher Natur, in kleinen Häppchen serviert, in einem größeren Zusammenhang aufzunehmen.

Noch "kleinteiliger" kommt da nun Hauke Friedrichs daher, der sich nicht nur auf ein Jahr - in diesem Fall 1939 - sondern sogar nur auf einen Monat daraus, nämlich den August, konzentriert. Aufgrund der damaligen Ereignisse reicht dieser eine Monat aber auch völlig aus, um ein Buch mit sehr viel Inhalt, vielen Akteurinnen und Akteuren und einer ordentlich Portion Zeitgefühl zu präsentieren.

Es waren die Wochen vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs, vor dem deutschen Überfall auf den Sender Gleiditz, bevor die halbe Welt in Chaos und Schmerz versank. Hätte diese Tragödie vielleicht verhindert werden können? Es gab sicher viele Menschen, die genau das versucht haben, und einige davon lässt Friedrichs hier zu Wort kommen. Genutzt hat es bekanntlich nichts, aber die Hoffnung, die diese Menschen bis zuletzt umtrieb, den drohenden Konflikt auf diplomatischen Wegen oder durch gutes Zureden doch noch abwenden zu können, zieht sich wie ein roter Faden durch die täglichen Einträge.

Natürlich sind es vor allem Politiker (ausschließlich männlich), die hier beleuchtet werden. Ich nutze diesen Begriff bewusst, denn Friedrichs dreht seinen Schweinwerfer mal hier- mal dahin, betrachtet eine Figur über mehrere Absätze und schwenkt dann den Blick zur nächsten. Struktur hat das Ganze dennoch ausreichend: Die Kapitel sind nicht übermäßig lang (ursprünglich wollte ich ja "taggenau" lesen, da bin ich leider nach ca. zwei Dritteln von abgekommen), die Übergänge gut. Auch wenn es viele Menschen sind, die hier "mitspielen", habe ich nie den Überblick verloren, denn Friedrichs führt alle Beteiligten gut ein und verwebt gekonnt die Handlungsstränge.

Neben den Politikern, hier sind es natürlich vor allem die bekannten Größen der beteiligten Länder, kommen auch viele Menschen aus dem (noch) nicht-politischen Leben zu Wort. Das Ehepaar Mann etwa, da sich Katia Mann große Sorgen um ihre Eltern macht; der junge John F. Kennedy, der zu Studienzwecken durch Europa reist; Albert Einstein, der im US-amerikanischen Exil über Deutschland sinniert; Unity Mitford, eine mir bislang unbekannte glühende britische (!) Verehrerin Hitlers; die junge Sophie Scholl, die unbeschwerte Ferien mit ihrem Freund verbringt und viele andere mehr.

Es hat wirklich "Spaß" gemacht, dieses Buch zu lesen - nicht, weil es so erfreulich war, sondern weil Friedrichs einfach gut und vor allem in sehr großer Bandbreite erzählt. Da waren so viele kleine, spannende "subplots" dabei: Das Hin und Her zwischen Hitler und Stalin bis zur Unterzeichnung ihres Paktes etwa oder die "inoffiziellen" Diplomatieversuche des schwedischen Industriellen Birger Dahlerus. Unfassbar, was da alles los war im August 1939, wie Politik gemacht und Geschichte geschrieben wurde, wie der Krieg um ein Haar schon ein paar Tage früher begonnen hätte - dann doch nicht - dann doch... man liest das alles und mag es kaum glauben. Aber doch, es war so, davon zeugt auch das umfangreiche Quellenverzeichnis, das bei so einem Buch natürlich dazugehört. Unfassbar, was Friedrich da alles zusammengetragen hat, was für Fakten und Nachrichten, aber auch kleine Anekdoten. Also, wem ein ganzes Jahr zum Start zu viel ist, findet mit diesem "Monatsbuch" eine sehr gelungene Alternative zum "aktuellen" Trend.

Tl;dr: Eine Fleißarbeit, die sich gelohnt hat - so macht Geschichte Spaß!

Veröffentlicht am 06.09.2019

Was für ein herausragendes Lese- bzw. Hörerlebnis.

Nichts. Was im Leben wichtig ist
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Ich hatte überhaupt keine Ahnung, worum es in diesem Buch geht, hatte es irgendwo sogar eher als eine Art Sachbuch abgespeichert. Also angemacht, reingehört und schnell stellte sich heraus, dass es um ...

Ich hatte überhaupt keine Ahnung, worum es in diesem Buch geht, hatte es irgendwo sogar eher als eine Art Sachbuch abgespeichert. Also angemacht, reingehört und schnell stellte sich heraus, dass es um Kinder bzw. Jugendliche geht. Meine Vorfreude wurde leicht getrübt und ich fragte mich: Wird das so ein Standard-YA-Roman, habe ich da jetzt gerade Lust drauf, wieso steht das überhaupt auf meiner Liste? Ach ja, weil Laurie Maire es liest (wie gewohnt ganz wunderbar!). Also bin ich dran geblieben - und habe dann auch sehr schnell gemerkt, dass das eines von den Büchern ist, die einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen werden.

Hat überhaupt irgendetwas im Leben Bedeutung? Und wenn ja, was? Und wenn nicht - was soll das alles überhaupt? Ein Junge in einer dänischen Kleinstadt wird plötzlich zum über das Leben sinnierender Philosoph. Statt in der Schule verbringt er seine Tage auf einem Pflaumenbaum und ärgert seine MitschülerInnen mit seinen neu gewonnenen Erkenntnissen über die allgemeine Bedeutungslosigkeit à la "Sobald du geboren wirst, fängst du an zu sterben." Die anderen Kinder regt das auf, und sie beginnen, Dinge zu sammeln, die für sie von Bedeutung sind. Das fängt ganz harmlos an. Ein Mädchen muss sich von ihren neuen Schuhen trennen, ein Junge von seiner Angel. Und dann...

... entwickelt sich die Geschichte in einem Tempo, die es mir schwer gemacht hat, mich davon zu lösen. Die Forderungen, die sich die Kinder gegenseitig stellen, um die Bedeutung zu erhöhen, werden immer extremer. Ich habe wie gebannt dieser Spirale der Grausamkeiten gelauscht, die sich immer schneller zu drehen begann. Ich war vollkommen fasziniert von der Geschichte selbst und den zahlreichen Gefühlen, die sie in mir ausglöst hat: dem Grusel, dem Ekel, der Wut, der Trauer, der Hoffnungslosigkeit und dem schieren Entsetzen. Und den vielen, vielen Ansätzen zum Vertiefen: Was ist wichtig? Und, vor allem - wie gehe ich damit um?

Das war so richtig schön "in your face" mit vielen Möglichkeiten zum diskutieren, interpretieren, nachdenken... Sowas hätte ich gerne in der Schule gelesen!

Veröffentlicht am 06.09.2019

Entwirrung komplizierter Verhältnisse

Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen
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Viele interessante Gedankengänge und Sichtweisen, die Licht in die teils komplizierten Eltern-Kind-Verhältnisse bringen. Mit hat es einiges klarer gemacht. Allerdings wirkt das Ganze eine Spur zu philosophisch ...

Viele interessante Gedankengänge und Sichtweisen, die Licht in die teils komplizierten Eltern-Kind-Verhältnisse bringen. Mit hat es einiges klarer gemacht. Allerdings wirkt das Ganze eine Spur zu philosophisch auf mich, an der ein oder anderen Stelle hätte es durchaus noch etwas konkreter werden können. Auf jeden Fall, trotz der Thematik, ein sehr harmonisches Buch, bei dem die eigene Lebensfreude im Mittelpunkt steht und das auch aufzeigt, wie man mit "komplizierten" Verhältnissen Frieden schließen kann.

Veröffentlicht am 06.09.2019

Sehr interessante Thesen

Alles könnte anders sein
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Auf der einen Seite war das ein wirklich sehr interessantes Hörbuch mit sehr vielen - für mich - neuen und spannenden Ansätzen. Also, einiges davon hatte natürlich schon einmal vorher gehört, Stichwort ...

Auf der einen Seite war das ein wirklich sehr interessantes Hörbuch mit sehr vielen - für mich - neuen und spannenden Ansätzen. Also, einiges davon hatte natürlich schon einmal vorher gehört, Stichwort bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) usw., aber hier sind verschiedene dieser utopisch anmutenden Ideen nicht nur zusammengefasst und grob erläutert, sondern richtig schön tief ausgeleuchtet - wenn man denn an solchen Ideen Interesse zeigt, ist man für mögliche Debatten auf jeden Fall argumentativ gut gerüstet.

Ich fand die Gedankenspielchen etwas zu diesem und auch anderen Themen super interessant und erhellend. Das 80/20-Modell etwa, in dem, bei vollem Lohnausgleich, nur 80% bezahlt und 20 % ehrenamtlich gearbeitet wird. Oder das grundsätzliche Thema Mobilität im Hinblick auf Ausweitung des öffentlichen Nahverkehrs und der autofreien Innenstadt. Viele Ideen mögen radikal anmuten, vor allem für jene Menschen, die sich mit "solchem Ökoquatsch" oder auch nur dem Hauch an Kapitalismuskritik sonst nicht beschäftigen. Bei mir haben sie zum Nachdenken und Träumen angeregt, zum "Was wäre wenn..." und "Wie schön wäre das...", denn Welzer zeigt nicht immer nur die direkt mittelbaren, sondern auch die weitreichenderen Folgen seiner Utopiebausteine auf. Und er stellt auch Überlegungen an, wie bestimmte Modelle (auch hier wieder das BGE als bestes Beispiel) finanziert werden könnten. Theoretisch ist so vieles denkbar, hach...

Interessant und informativ also, die Gedanken des querdenkenden Professors. Ein bisschen gestört haben mich drei Dinge: Zum einen wurde es hier und da doch etwas repetitiv. Zweitens mäandert Welzer immer sehr dicht an der Grenze zum Bekehrenden, Oberlehrerhaften, dabei hat er das gar nicht nötig. Ich finde das schade, denn wenn es mich schon hier und da ein wenig stört, als Person, die der Sache grundsätzlich wohlwollend gegenüber steht, wie abtörnend muss dass das für Skeptiker oder gar Ablehnende sein? Schwierig, schwierig.

Das dritte Problem, das wohl am wenigsten nachvollziehbar ist (vor allem nicht für mich selbst): Ich habe es als Audiobuch gehört und bin mit dem Sprecher nicht klar gekommen. Uff. Ja, ich weiß. Christian Brückner und so, ich finde seine Stimme eigentlich ganz, ganz wunderbar, aber hier hat es - für mich! - irgendwie nicht gepasst. Irgendwie wechselte sich in meinem Kopf immer eine Stimme eines mafiösem de-Niro-Charakter mit der Stimme eines sanften Opas (think: Werther's Echte) und der einer Guido-Knopp-Reportage ab. Nix davon hat gepasst, schon gar nicht in der Kombi. Tatsächlich war Christian Brückner mit ein Grund, warum ich hier zum Hörbuch gegriffen habe - gedruckt hätte es für mich vermutlich noch besser funktioniert. So was Merkwürdiges!

Tl; dr: Inhaltlich bin ich bei fast allem dabei oder zumindest stark daran interessiert, die Umsetzung des Inhalts haperte für mich hier und da ein wenig - trotzdem lesenswert, und sei es nur, um die Gedanken mal wieder richtig schön in Wallung zu bringen.

Veröffentlicht am 06.09.2019

Sehr angenehm überrascht!

Wir von der anderen Seite
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Ach, was ist das für ein schönes Gefühl, wenn man von einem Buch eigentlich nicht viel erwartet, es sogar eher mit einer gewissen Skepsis beginnt und dann so angenehm positiv überrascht wird! Ich muss ...

Ach, was ist das für ein schönes Gefühl, wenn man von einem Buch eigentlich nicht viel erwartet, es sogar eher mit einer gewissen Skepsis beginnt und dann so angenehm positiv überrascht wird! Ich muss zugeben, ich hatte durchaus Bedenken: Eine Drehbuchautorin, die sonst Stoffe für Schweiger- und Schweighöferkomödien schreibt? Und sich jetzt so eines ernsten Themas annimmt? Humor ist bekanntlich sehr subjektiv, und besagte Komödien treffen sonst eher nicht so meinen Geschmack - kann das gut gehen mit mir und diesem Buch hier? Oh ja, und wie! Frau Decker, ich muss aufrichtig Abbitte leisten.

Das vorliegende Werk ist sehr an die eigene Lebens- und Leidensgeschichte der Autorin angelehnt, aber sie betont, dass es sich um kein autobiografisches Werk handelt. Die äußeren Fakten zumindest stimmen: Sowohl Anika Decker als auch die Protagonistin Rahel Wald sind Drehbuchautorinnen, die den Durchbruch geschafft haben und mit den Stars und Sternchen der deutschen Film- und Medienbranche arbeiten. Und beide vereint ein schwerer Schicksalsschlag: Eine durch einen Nierenstein ausgelöste Sepsis, die zu mehrfachem Organversagen, einen dadurch bedingtem künstlichen Koma, dem erfolgreichen Überlebenskampf und den mühevollen Weg zurück "auf die andere Seite" geführt hat.

Ob nun Autobiografie oder nicht, Frau Decker weiß, wovon sie spricht, und das merkt man dem Buch auf jeder Seite an. Rahel kämpft sich nicht nur einfach zurück in ihr altes, sondern in ein ganz neues Leben. Die Erkenntnisse, die sie aus ihrer Krankheit, der drohenden stetigen Verschlimmerung und der Wiedergenesung zieht, sind schonungslos offen und kompromisslos echt dargestellt. Dabei umschifft die Autorin gekonnt jegliche Klischees, die sich so einer Erzählung in den Weg stellen könnten: Rahel erlebt keine komplette "vom Saulus zum Paulus"-Verwandlung, wird also nicht vom oberflächlichen Zicklein zum altruistischen Schwan. Auch ist die Gesichte nicht klamaukig bis an der Grenze zum Hysterischen erzählt, sondern wählt ihre (oft eher makabren) Pointen und komischen Szenen und Charaktere mit Bedacht. Ansonsten tummeln sich hier sehr viele, sehr kluge Gedanken, und das alles sehr straight, sehr direkt erzählt. Ob die eher oberflächliche Filmwelt oder die Beziehungen zu ihrer Familie, ihrem Freund und anderen Menschen - Rahel analysiert und hinterfragt alles. Dabei spart sie keinesfalls an Selbstkritik, dieses Buch ist erstaunlich selbstreflektierend:

"Fast lustig, wenn ich daran denke, wie verzweifelt ich oft um die Liebe und Anerkennung irgendwelcher Idioten gekämpft habe. Wie anstrengend das war, permanent meine Unzulänglichkeit mit möglichst viel Aktionismus zu überdecken. Wie dumm ich doch immer war, zu denken, ich müsste Kunststücke vollführen und Eindruck schinden, um das zu bekommen, was ich offensichtlich schon immer hatte."

Daneben kommen auch die "größeren" Themen wie Sexismus in der Filmbranche und allgemein, Fallstricke des Gesundheitssystems, Klassenunterschiede oder der Umgang mit schwachen, kranken und/oder alten Menschen zur Sprache - fast immer nebenbei, nie mit erhobenen Zeigefinger, sodass Menschen, die sich für derartige Themen sonst vielleicht nicht interessieren, trotzdem ein paar wichtige Botschaften mit aufnehmen. Beispiel: Da geht es in einer Szene um Rahels Wunsch nach Intimität, vor der sie sich aufgrund ihres Gesundheitszustands fürchtet (Sex bei schwachem Herzen und so), und dann versteckt sich mitten in diesem scheinbar eher halbtiefen Gedanken ein Satz wie dieser:

"Die Altersheim sind voll von Menschen, deren Hand niemand hält und deren Kopf sich nirgendwo anlehnen darf."

Hach!

Und noch ein ganz besonderer Pluspunkt: Rahel hat einen besten Freund, Kevin, der wirklich sehr gut und lustig geschrieben ist - und der nicht schwul ist! Ich bin Frau Decker sehr dankbar, dass sie auf diese "best gay friend"-Stereotype verzichtet hat. Wie auch auf so viele andere Klischees.

Dies wird nicht mein liebster Roman des Jahres sein, dafür gibt es schon jetzt zu viel Konkurrenz - aber auf den Titel für positivste Überraschung des Jahres ist "Wir von der anderen Seite" ein ganz heißer Anwärter!

"Hier geht es aber nicht um mich, hier geht es darum, was Attila will. Sie wollen, dass der Star happy ist, und gehen davon aus, dass den Zuschauern die Geschichte egal ist, und sie sowieso ins Kino gehen. Ich halte die Zuschauer für nicht ganz so blöd."

Und die Lesenden zum Glück auch nicht - vielen Dank dafür!

Tl;dr: Äußerst authentischer Unterhaltungsroman mit ordentlich Tiefgang.