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Veröffentlicht am 24.07.2019

Ground control to Major Tom...

Anleitung zur Schwerelosigkeit
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Ja, Chris Hadfield - wer hat es vor ein paar Jahren nicht gesehen, sein Musikvideo zu Space Oddity, gesungen und gefilmt auf der ISS. Bevor Hadfield ein "außerirdischer" Musiker und kanadischer Nationalheld ...

Ja, Chris Hadfield - wer hat es vor ein paar Jahren nicht gesehen, sein Musikvideo zu Space Oddity, gesungen und gefilmt auf der ISS. Bevor Hadfield ein "außerirdischer" Musiker und kanadischer Nationalheld (erster ISS-Kommandant Kanadas) wurde, war er ein kleiner Junge mit einem großen Traum: 1969, als Neil Armstrong den Mond betrat, stand für den kleinen Chris fest: Ich werde Astronaut! Unmöglich schien das damals, denn Kanada hatte kein eigenes Weltraumprogramm.

Wie er es dennoch zu einer umfassenden Astronautenausbildung und drei Raumfahrten mit gesamt fast einem halben Jahr Aufenthalt im All gebracht hat, davon erzählt Hadfield in diesem Buch. Und das sehr unterhaltsam, auch wenn das Buch etwas "anders" strukturiert ist. Es ist keine chronologische Biografie, sondern grob in drei Abschnitte untereilt: Die Passagen auf der Erde (über seine Ausbildung, sein Privatleben, das Training für die Reisen ins All), die Zeit im All an sich und die Zeit zurück auf der Erde.

Hadfiel scheint ein lustiger, umgänglicher Mensch zu sein, der für seinen Job brennt, das kommt ziemlich deutlich rüber. Manchmal wirkt es fast schon etwas verbissen, aber ich glaube, das liegt am Job - wenn die die ISS leitest, ist Trödelei fehl am Platz. Hier und da wurden einige Dinge mehrfach wiederholt, das Buch hätte also durchaus noch etwas feiner redigiert werden können. Andererseits macht das auch den Charme aus, so wirkt es echt und authentisch.

Lesende, die sich für die Thematik Weltall, Raumfahrt usw. interessieren, dürften dieses Buch lieben. Es ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich. Ich habe viele interessante Einblicke darüber gewonnen, wie und was Astronauten essen und wie sie in der Schwerelosigkeit "duschen" oder auf Toilette gehen. Schön ist auch dieses Gefühl der internationalen Zusammenarbeit im Weltraumprogramm - alle diese Menschen aus zig Nationen, die an, auf und für die ISS arbeiten - so soll es sein!

Veröffentlicht am 18.06.2019

Ein wirklich gelungener Debütroman, der eine ganz eigene Atmosphäre hat.

Milchzähne
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Die Welt, die Helene Bukowski hinauf beschwört, ist unserer - in Ansätzen - nicht unähnlich, zumindest ist sie wohl aus ihr hervorgegangen. Die "neue" dystopische Welt, in der die Hauptfiguren Skalde und ...

Die Welt, die Helene Bukowski hinauf beschwört, ist unserer - in Ansätzen - nicht unähnlich, zumindest ist sie wohl aus ihr hervorgegangen. Die "neue" dystopische Welt, in der die Hauptfiguren Skalde und Edith leben, ist unfreundlich, unnahbar, ruppig und wenig gastfreundlich - was auch auf die wenigen dort lebenden Menschen zutrifft. Die Gemeinschaft bleibt lieber unter sich, sie hat schon genug damit zu tun, sich gegenseitig zu beäugen. Wichtig ist das Überleben des Einzelnen und seiner Sippe, mögliche Bedrohungen sind unter allen Umständen zu vermeiden. Dies bekommt Skalde zu spüren, als sie ein junges Mädchen im Wald findet und bei sich aufnimmt - ein Mädchen, das eindeutig nicht aus der Gegend stammt, und entsprechend skeptisch, wenn nicht als Gefahr, betrachtet wird.

Die Stimmung in dem Buch ist grundlegend bedrückend, ich würde sie fast schon düster oder gespenstisch nennen (nur ohne Grusel oder Geister). Die Beziehung zwischen Edith (Mutter) und Skalde (Tochter) ist furchtbar kühl, Liebe, Wärme oder Empathie scheinen in der Gegend, zumindest bis das Mädchen auftaucht, absolute Mangelware zu sein. Diese besondere Stimmung, sie ist fast greifbar. Nebelwaden, später sengende Hitze, gähnende Langeweile, die tägliche Suche nach Nahrung, der Verzehr von eingelegten Früchten, Kondensmilch und selbst geschlachteten Kaninchen - das alles liest sich ein bisschen wie "Minimalismus gone wrong". Vieles wirkt antiquiert, fast schon steinzeitlich, doch immer wieder blitzen moderne Techniken auf (Autos, Fernseher), die die Lesenden in die Gegenwert zurück holen.

Mystisch ist ein weiterer Aspekt der Geschichte, ebenso wie Symbolik. Tiere tauchen immer wieder auf: Die bereits erwähnten Kaninchen, die als Rundumversorgung genutzt werden (Fleisch und Fell); Hunde, die vor allem zu Edith einen ganz besonderen Draht haben. Wasser spielt eine große Rolle - zum einen trennt es die uns bekannte Gemeinschaft vom Rest der Welt (die Abschottung wurde selbst gewählt), zum anderen verbringt vor allem Edith teils Tage in der Badewanne. Früchte kommen auch immer wieder vor - nicht nur als "süße" Belohnung, sondern auch gewissermaßen als Apfel des Sündenfalls. Und dann sind da natürlich noch, nicht zuletzt, die titelgebenden Milchzähne. Oh ja, hier gibt es viel zu "sehen".

Die Kapitel sind sehr kurz, meist nicht länger als wenige Seiten. Die Sprache ist klar und verständlich, ab und an werden eigene Gedanken von Skalde KOMPLETT IN GROßBUCHSTABEN ans Ende oder den Anfang des Kapitels gestellt - wirkt gelegentlich befremdlich. Auch diese Gedanken bieten wieder einiges an Spekulationsspielraum.

Allgemein muss ich sagen, dass mir das Buch zwar gefallen hat, an einigen Stellen aber noch Luft nach oben ist. Unter anderem fühlte ich mich während des Lesens komplett in der Welt verloren - leider löste sich dieser Zustand kurz nach dem Auslesen wieder auf. Ich hatte irgendwie gehofft, dass das Erlebnis noch länger "nachwirkt". Außerdem hätte ich gerne noch mehr von den Hintergründen des Landes und der Zukunft der Protagonistinnen erfahren. Auch wurde mir die Symbolik - kombiniert aus Skaldes Gedanken und dem eigentlichen Text - gegen Ende hin eine Spur zu viel.

Auf jeden Falle eine Leseempfehlung, allein schon, weil dieses Buch so anders ist. Ich werde die Autorin auf jeden Fall weiter verfolgen und bin gespannt, was da noch kommt. Ein Buch, das ich mir sehr gut als (gute!) moderne Schullektüre vorstellen könnte.

Veröffentlicht am 11.06.2019

Bewegend, bedrückend, dramatisch

Die Nickel Boys
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Mein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings ...

Mein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings (also mit fiktiven Charakteren) wieder aufleben lässt. Es sind die 1960-Jahre, und der junge, schwarze Elwood ist besessen von Dr. King und seinen Reden, seinem Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit, seinen Tugenden. Auch Elwood ist tugendhaft, ein guter Junge, dem eigentlich ein sozialer Aufstieg gelingen sollte. Doch ein wirklich unglücklicher Zufall verschlägt ihn in die bereits erwähnte Besserungsanstalt, er wird einer von ihnen, ein "Nickel Boy", eine billige Arbeitskraft, an der das sadistische "Lehr"personal sich austoben kann.

So weit, so Drama. Die Geschichte von Elwood ist wirklich sehr berührend, sein Schicksal bewegend. Er, der "gute" Junge, inmitten dieser - ja, was sind sie eigentlich, die anderen Nickel Boys? Schlechte Jungs? Wirklich? Hmmm... In erster Linie sind sie zunächst alle Opfer - der Willkür, der Brutalität, der ständigen Angst, bei irgendwas erwischt zu werden. Die Szenen, in denen die Bestrafungen beschrieben werden, sind teils sehr brutal.

Ergänzend zum Horror in der "Schule" erzählt ein alternder Elwood, wie er die Zeit nach dem Nickel erlebt hat, wie ihn das Erlebte beeinflusst hat und wie ihn die späte, in der Jetzt-Zeit des Buches (ich meine, es war 2014?) gemachte Enthüllung der vielen anonymen Jungenleichen auf dem ehemaligen Schulgelände im späten Alter dazu zwingt, sich nochmals mit diesen Schatten seiner Vergangenheit zu befassen.

Die Botschaften, die Whitehead her herüberbringt, sind kaum zu überhören: Neben der unerhörten Behandlung der Jungen, dem institutionellen Mißbrauch und Wegschauen so vieler Menschen ist es auch der Rassismus, der deutlich im Vordergrund steht: Die Rassentrennung der Gesellschaft allgemein sowie im "Nickel" im Besonderen, denn auch hier erging es den schwarzen Jungs noch eine ganze Ecke schlechter als ihren weißen Mithäftlingen. Das dritte Thema, das sich erst spät im Buch entfaltet und mich besonders angesprochen hat, ist das späte Trauma, das eine derartige Behandlung in jungen Jahren auslösen kann. Immer wieder schwappt sie bei vielen Debatten zu Mißbrauchsthemen hoch, die Frage: "Ja, aber warum haben die Opfer so lange geschwiegen?" Eine mögliche Erklärung hierzu liefert dieses Buch - zu diesem Aspekt hätte ich mir gerne noch ein paar weitere Ansätze gewünscht.

Bis hierher eigentlich eher drei Sterne, für wirklich gute Unterhaltung, die mich durchgehend interessiert hat - zum Ende hin hat Whitehead dann aber doch noch mal einen Twist ausgepackt, der das ganze Ausmaß von Schuld und Sühne nochmal so richtig aufzeigt und mir sehr gut gefallen hat. Da wurde ich dann auch emotional nochmal so richtig durchgeschüttelt, und das hat das Buch dann letztlich auf vier Sterne gehievt.

Zum Hörbuch: Torben Kessler liest sehr bedächtig, aber nicht einschläfernd - das Timbre der Stimme hat für mich gut zur Stimmung des Buches gepasst.

Veröffentlicht am 27.05.2019

Kurzgeschichten von Strunk geschrieben und gelesen - so vielfältig und abgründig wie das Leben selbst.

Das Teemännchen
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Die Stories gehen von ganz, ganz kurz (unter einer Minute) bis mehrkapitelig (im Hörbuch, also so ca. 15 Minuten) und erzählen von kaputten Typen, verloren gegangenen Träumen, dysfunktionalen Beziehungen ...

Die Stories gehen von ganz, ganz kurz (unter einer Minute) bis mehrkapitelig (im Hörbuch, also so ca. 15 Minuten) und erzählen von kaputten Typen, verloren gegangenen Träumen, dysfunktionalen Beziehungen und allerlei skurrilen Alltagsbeobachtungen. Bei den meisten Geschichten überwiegt ein düsterer Eindruck: Keiner beschreibt das üble, abgeranzte, angeschimmelte, widerlich-modrige so gut wie Heinzer.

Da kehrt Axl Rose in einer Reeperbahnkneipe ein ("Ein Weltstar"), da begleitet ein junger Mann seine neue Freundin (wenn sie es ist denn ist) auf einen sehr merkwürdig-ostalgischen Heimatbesuch ("Jenny Müller"), da verwirlicht sich eine einsame Bloggerin online #inyourface ("Yummy Whoop Fuck"). In your face, auf ganz widerliche Weise, auch die Masche der beiden Bartypen in der Studentenklitsche "Madhaus", brrrr. Ich habe herzlich abgelacht bei "Fred Perry" (der versuchte Einkauf nach einem Zahnarztbesuch), mich orgendlich fremdgeschämt bei "Klaus & Klaus" (Geburtstagsfeier in der alten Dorfheimat) und "Janine" (Kennenlernen an der Hotelbar) und mich sehr über das Ende des sehr gut durcherzählten "Das schwarze Loch" (Hotelzimmer mit "Eigenleben") gefreut.

Gute Unterhaltung also allemal, und ich kann gar nicht sagen, ob mir die ganz kurzen, mittleren oder längeren Geschichten am besten gefallen haben. In allen drei Kategorien waren einige wirklich exzellent pointierte Erzählungen dabei, doch gab es ebenso einige - wenige - Ausreißer, bei denen mir noch etwas gefehlt hat. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Wer Strunz' Humor mag, wird bei diesem Hörbuch bestens bedient.

Veröffentlicht am 27.05.2019

I hear you, Heinzer.

Fleisch ist mein Gemüse
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Ergänzung nach zweiter Leserunde (Mai 2019):
Immer noch gut, immer noch lustig. Und auch nach acht Jahren ist noch so viel gleich wieder da: Vogelmama, Zwergenhaus, Acne conglobata, diese gruseligen Spielautomaten ...

Ergänzung nach zweiter Leserunde (Mai 2019):
Immer noch gut, immer noch lustig. Und auch nach acht Jahren ist noch so viel gleich wieder da: Vogelmama, Zwergenhaus, Acne conglobata, diese gruseligen Spielautomaten und natürlich Gurki.

Also gilt: Applaus! Applaus für viele, viele "Oh ja, genau so!"-Momente, Applaus für unfassbar komische Selbstgeißelung, Applaus für ein richtig gutes Audiobook.

I hear you, Heinzer. Dorffeste im norddeutschen Raum sind schon ein ganz besonderes Vergnügen. Ob im Landkreis Harburg oder Lüneburg, ob in Weser-Ems, Pyrmont, Vechta, oder eben Region Hannover mit schillernden Ortschaften wie Gailhof, Schwüblingsen oder Poggenhagen - Gurkis, Tiffany's und glitzernde Jackets gibt es da wirklich. Überall. Wie oft damals, beim 60. vom Oppa, "An der Nordseeküste" gespielt wurde - ich weiß es nicht mehr. Allerdings hatten wir keine Tanzkapelle, nur einen Alleinunterhalter. Aber: Mit Glitzerjacket. Und Jubi. Und massenhaft Fleisch.

Dieses Gefühl des Dabeigewesenseins, des Selbsterlebthabens gibt diesem Werk natürlich einen satten Sympathiebonus. Doch auch ohne ist es gut. Der Humor ist dörflich-derbe, geht gegen alles und Jeden inklusive Erzähler und wirkt dabei echt und authentisch. Zynismis, Sarkasmus, Bitterkeit ohne bitter zu sein (ja, das geht) - appetitlich serviert.

Und Strunks Lesung ist fantastisch. Einfach wunderbar. Verstellte Stimmen, viel "Gesang", sympathisches Lachen über eigene Verleser - ich kann nur ganz bestimmt und absolut zum Hörbuch raten.