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Veröffentlicht am 11.06.2019

Bewegend, bedrückend, dramatisch

Die Nickel Boys
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Mein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings ...

Mein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings (also mit fiktiven Charakteren) wieder aufleben lässt. Es sind die 1960-Jahre, und der junge, schwarze Elwood ist besessen von Dr. King und seinen Reden, seinem Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit, seinen Tugenden. Auch Elwood ist tugendhaft, ein guter Junge, dem eigentlich ein sozialer Aufstieg gelingen sollte. Doch ein wirklich unglücklicher Zufall verschlägt ihn in die bereits erwähnte Besserungsanstalt, er wird einer von ihnen, ein "Nickel Boy", eine billige Arbeitskraft, an der das sadistische "Lehr"personal sich austoben kann.

So weit, so Drama. Die Geschichte von Elwood ist wirklich sehr berührend, sein Schicksal bewegend. Er, der "gute" Junge, inmitten dieser - ja, was sind sie eigentlich, die anderen Nickel Boys? Schlechte Jungs? Wirklich? Hmmm... In erster Linie sind sie zunächst alle Opfer - der Willkür, der Brutalität, der ständigen Angst, bei irgendwas erwischt zu werden. Die Szenen, in denen die Bestrafungen beschrieben werden, sind teils sehr brutal.

Ergänzend zum Horror in der "Schule" erzählt ein alternder Elwood, wie er die Zeit nach dem Nickel erlebt hat, wie ihn das Erlebte beeinflusst hat und wie ihn die späte, in der Jetzt-Zeit des Buches (ich meine, es war 2014?) gemachte Enthüllung der vielen anonymen Jungenleichen auf dem ehemaligen Schulgelände im späten Alter dazu zwingt, sich nochmals mit diesen Schatten seiner Vergangenheit zu befassen.

Die Botschaften, die Whitehead her herüberbringt, sind kaum zu überhören: Neben der unerhörten Behandlung der Jungen, dem institutionellen Mißbrauch und Wegschauen so vieler Menschen ist es auch der Rassismus, der deutlich im Vordergrund steht: Die Rassentrennung der Gesellschaft allgemein sowie im "Nickel" im Besonderen, denn auch hier erging es den schwarzen Jungs noch eine ganze Ecke schlechter als ihren weißen Mithäftlingen. Das dritte Thema, das sich erst spät im Buch entfaltet und mich besonders angesprochen hat, ist das späte Trauma, das eine derartige Behandlung in jungen Jahren auslösen kann. Immer wieder schwappt sie bei vielen Debatten zu Mißbrauchsthemen hoch, die Frage: "Ja, aber warum haben die Opfer so lange geschwiegen?" Eine mögliche Erklärung hierzu liefert dieses Buch - zu diesem Aspekt hätte ich mir gerne noch ein paar weitere Ansätze gewünscht.

Bis hierher eigentlich eher drei Sterne, für wirklich gute Unterhaltung, die mich durchgehend interessiert hat - zum Ende hin hat Whitehead dann aber doch noch mal einen Twist ausgepackt, der das ganze Ausmaß von Schuld und Sühne nochmal so richtig aufzeigt und mir sehr gut gefallen hat. Da wurde ich dann auch emotional nochmal so richtig durchgeschüttelt, und das hat das Buch dann letztlich auf vier Sterne gehievt.

Zum Hörbuch: Torben Kessler liest sehr bedächtig, aber nicht einschläfernd - das Timbre der Stimme hat für mich gut zur Stimmung des Buches gepasst.

Veröffentlicht am 27.05.2019

Kurzgeschichten von Strunk geschrieben und gelesen - so vielfältig und abgründig wie das Leben selbst.

Das Teemännchen
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Die Stories gehen von ganz, ganz kurz (unter einer Minute) bis mehrkapitelig (im Hörbuch, also so ca. 15 Minuten) und erzählen von kaputten Typen, verloren gegangenen Träumen, dysfunktionalen Beziehungen ...

Die Stories gehen von ganz, ganz kurz (unter einer Minute) bis mehrkapitelig (im Hörbuch, also so ca. 15 Minuten) und erzählen von kaputten Typen, verloren gegangenen Träumen, dysfunktionalen Beziehungen und allerlei skurrilen Alltagsbeobachtungen. Bei den meisten Geschichten überwiegt ein düsterer Eindruck: Keiner beschreibt das üble, abgeranzte, angeschimmelte, widerlich-modrige so gut wie Heinzer.

Da kehrt Axl Rose in einer Reeperbahnkneipe ein ("Ein Weltstar"), da begleitet ein junger Mann seine neue Freundin (wenn sie es ist denn ist) auf einen sehr merkwürdig-ostalgischen Heimatbesuch ("Jenny Müller"), da verwirlicht sich eine einsame Bloggerin online #inyourface ("Yummy Whoop Fuck"). In your face, auf ganz widerliche Weise, auch die Masche der beiden Bartypen in der Studentenklitsche "Madhaus", brrrr. Ich habe herzlich abgelacht bei "Fred Perry" (der versuchte Einkauf nach einem Zahnarztbesuch), mich orgendlich fremdgeschämt bei "Klaus & Klaus" (Geburtstagsfeier in der alten Dorfheimat) und "Janine" (Kennenlernen an der Hotelbar) und mich sehr über das Ende des sehr gut durcherzählten "Das schwarze Loch" (Hotelzimmer mit "Eigenleben") gefreut.

Gute Unterhaltung also allemal, und ich kann gar nicht sagen, ob mir die ganz kurzen, mittleren oder längeren Geschichten am besten gefallen haben. In allen drei Kategorien waren einige wirklich exzellent pointierte Erzählungen dabei, doch gab es ebenso einige - wenige - Ausreißer, bei denen mir noch etwas gefehlt hat. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Wer Strunz' Humor mag, wird bei diesem Hörbuch bestens bedient.

Veröffentlicht am 27.05.2019

I hear you, Heinzer.

Fleisch ist mein Gemüse
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Ergänzung nach zweiter Leserunde (Mai 2019):
Immer noch gut, immer noch lustig. Und auch nach acht Jahren ist noch so viel gleich wieder da: Vogelmama, Zwergenhaus, Acne conglobata, diese gruseligen Spielautomaten ...

Ergänzung nach zweiter Leserunde (Mai 2019):
Immer noch gut, immer noch lustig. Und auch nach acht Jahren ist noch so viel gleich wieder da: Vogelmama, Zwergenhaus, Acne conglobata, diese gruseligen Spielautomaten und natürlich Gurki.

Also gilt: Applaus! Applaus für viele, viele "Oh ja, genau so!"-Momente, Applaus für unfassbar komische Selbstgeißelung, Applaus für ein richtig gutes Audiobook.

I hear you, Heinzer. Dorffeste im norddeutschen Raum sind schon ein ganz besonderes Vergnügen. Ob im Landkreis Harburg oder Lüneburg, ob in Weser-Ems, Pyrmont, Vechta, oder eben Region Hannover mit schillernden Ortschaften wie Gailhof, Schwüblingsen oder Poggenhagen - Gurkis, Tiffany's und glitzernde Jackets gibt es da wirklich. Überall. Wie oft damals, beim 60. vom Oppa, "An der Nordseeküste" gespielt wurde - ich weiß es nicht mehr. Allerdings hatten wir keine Tanzkapelle, nur einen Alleinunterhalter. Aber: Mit Glitzerjacket. Und Jubi. Und massenhaft Fleisch.

Dieses Gefühl des Dabeigewesenseins, des Selbsterlebthabens gibt diesem Werk natürlich einen satten Sympathiebonus. Doch auch ohne ist es gut. Der Humor ist dörflich-derbe, geht gegen alles und Jeden inklusive Erzähler und wirkt dabei echt und authentisch. Zynismis, Sarkasmus, Bitterkeit ohne bitter zu sein (ja, das geht) - appetitlich serviert.

Und Strunks Lesung ist fantastisch. Einfach wunderbar. Verstellte Stimmen, viel "Gesang", sympathisches Lachen über eigene Verleser - ich kann nur ganz bestimmt und absolut zum Hörbuch raten.

Veröffentlicht am 27.05.2019

Spannend und unterhaltsam

Dry
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Ach ja, das war ganz nett soweit. Nichts außergewöhnliches, aber doch spannend und unterhaltsam. Nach Die Mauer ist dies bereits mein zweites "Cli-Fi"-Buch in kürzester Zeit, ein Genre, das zu Recht boomt ...

Ach ja, das war ganz nett soweit. Nichts außergewöhnliches, aber doch spannend und unterhaltsam. Nach Die Mauer ist dies bereits mein zweites "Cli-Fi"-Buch in kürzester Zeit, ein Genre, das zu Recht boomt - schön, dass es mit "Dry" auch eine aktuelle YA-Variante gibt.

Die Geschichte und unmittelbaren Folgen des "Tap Outs" - also des kompletten Zusammenbruchs der Wasserversorgung in Südkalifornien - sind erschreckend gut dargestellt. Dass die Zivilisation innerhalb kürzester Zeit zusammenbricht, wenn es kein Wasser mehr gibt, ist ein durchaus vorstellbares, dadurch aber nicht minder grusliges Ereignis. Das Vater-Sohn-Autorengespann hat hier zwar kein verstörend brutales Splatterbuch hingelegt, die Unmenschlichkeit, den Verlust vom Empathie und die zahlreichen moralischen und ethischen Dilemmas, mit denen die Figuren konfrontiert werden, aber durchaus so aufgeschrieben, dass die ein oder andere Szene durch ihre Grausamkeit besticht: Fies und kompromisslos, aber alles im guten Rahmen.

Kleine Abstriche sind bei der klischeehaften Zeichung der Hauptcharaktere zu machen. Die vier Teenager/Jugendlichen und ein Kind, die wir auf ihrer Suche nach Schutz und Wasser begleiten, decken so ziemlich jedes Spektrum ab, bewegen sich innerhalb ihres Areals dann aber in recht festgesteckten Grenzen. Eine ist unfassbar naiv, einer fast schon paramilitärisch gut auf jegliche Art des Ausnahmezustandes vorbereitet und gleichzeitig stalkerhaft veranlagt, eine ist die toughe Außenseiterin, die sowieso über allem steht, und der vierte Teenager stellt wohl so eine Art Jungen Liberalen dar, einen egoistischen Geschäftemacher, der die Krise eigentlich nur für seinen eigenen Profit ausschlachten will. Der jüngere Bruder der Ersterzählerin stellt wohl noch am meisten einen ganz normalen Jungen ohne vorgefestigte Rolle dar, aber nun, er ist ja auch erst zehn und weiß es vielleicht nicht besser.

Hier hat mir ein bisschen eine ganz "normale", ja, "vernünftige" Erzählstimme gefehlt. Doch die beiden Elternpaare, die uns zu Beginn präsentiert werden, sind ebenso extrem dargestellt wie die Kinder: Auf der einen Seite die völlig Naiven, die vom Tap Out kalt erwischt werden und sich weder gedanklich noch in Sachen Versorgung auf so einen Moment eingestellt haben. Liebe, nette Menschen, aber ignorant. Auf der anderen Seite die absolut übervorbereiteten Paranoiker, die vom Waffenarsenal bis hin zum geheimen Fluchtbunker an alles für jeden Anlass gedacht haben - hier hatte vor allem der Vater Züge, die mich irgendwie an die Reichsbürger-Bewegung haben denken lassen, gruselig.

Nun, wo sind hier die erwachsenen Menschen, die die Situation haben kommen sehen und rationale Vorkehrungen getroffen haben? Verdränger oder Panikschieber, da muss doch noch was dazwischen passen? Oder steht das Ganze sinnbildlich für die aktuelle Elterngeneration, die sich von ihren Kindern zum Handeln drängen lassen müssen, wieder Stichwort #fridaysforfuture? Vermutlich ist das alles etwas weit gegriffen, das Buch wurde im Orginal ja deutlich vor dieser Entwicklung veröffentlicht. Trotzdem ein interessanter Gedanke, geht ja irgendwie auch ein bisschen in Richtung selbsterfüllender Vorhersehung.

Was ich dem Buch sehr hoch anrechne: Es gab keine überflüssige romantische Nebenhandlung. Gefühle spielen zwar durchaus eine Rolle, aber für ein YA-Buch war dies erfrischend inhaltkonzentriert, das hat mir gut gefallen. Dazu kurze Kapitel mit viel Action und immer wieder eingestreute "Snap shots" - so was wie Kurzgeschichten innerhalb der Geschichte, die für wenige Seiten das Schicksal anderer Betroffener und ihrer jeweiligen Lage beleuchten: Die Mutter, die versucht, mit ihren Kindern zu fliehen, die Reporterin, die über den Tap Out berichten soll, der Pilot eines Löschflugzeugs. Ein gutes Gimmick. Ich bin grundsätzlich nicht abgeneigt, mir mal die anderen Bücher von Shusterman anzuschauen.

Veröffentlicht am 20.05.2019

Die unergründliche Leere

All das zu verlieren
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Ein Buch, das ich trotz halbwegs düsteren Inhalts (soll heißen: Das ist alles andere als ein feelgood-Unterhaltungsroman) flott weglesen konnte. Die Titelheldin Adèle ist aus unbekannten Gründen unglücklich ...

Ein Buch, das ich trotz halbwegs düsteren Inhalts (soll heißen: Das ist alles andere als ein feelgood-Unterhaltungsroman) flott weglesen konnte. Die Titelheldin Adèle ist aus unbekannten Gründen unglücklich mit sich und ihrem Leben, fühlt sich leer und kalt, und versucht, ihre unergründliche Leere durch unbedeutende sexuelle Abenteuer zu füllen. Ihr "eigentliches" Leben - Ehemann, Kind, Job, Freunde - kann sie nicht befriedigen, nicht erfüllen. Der Sex mit Fremden oder Bekannten kann dies auch nicht, es scheint mehr der grundsätzliche Kick des Verbotenen zu sein, der Nervenkitzel, die Angst entdeckt zu werden, die Adèle eine gewisse Befriedigung verschafft. Doch auch diese ist nur von kutzer Dauer und reicht nicht aus, um bei Adèle irgendeine Form des Glücks oder wenigstens der Zufriedenheit und inneren Ruhe hervorzurufen.

Warum macht sie das? Warum setzt sie alles aufs Spiel, riskiert ein sicheres Leben? Hinweise gibt es - eine schwierige Kindheit, Anzeichen, die auf eine depressive Verstimmung hindeuten. Ganz aufgeklärt wird die Frage nicht, aber das muss sie auch gar nicht. Wichtiger als die Gründe sind die Folgen ihres Handelns, doch auch, als sich Adèles Leben ändert, bleibt die grundlegende Trostlosigkeit bestehen. Sie ist eine Frau ohne eigenen Willen, getrieben von einem inneren Zwang, einer unstillbaren Sehnsucht und den Vorgaben anderer Menschen. Es ist eine traurige, trostlose Geschichte, und wer hier an Loblied auf sexuelle Befreiung erwartet, wird enttäuscht. Adèle ist und bleibt gefangen, auch wenn ihr lockeres Leben einen anderen Anschein erweckt.

Die Trostlosigkeit wird durch die Sprache verstärkt. Slimanis Erzählung kommt nüchtern und unnahbar daher, fast schon unterkühlt. Mir erschien das sehr passend und treffend - allerdings komme ich mit derart nüchternen Erzählungen allgemein gut zurecht. Ein kurzes, kühles, dennoch prägnantes Werk. Ich bin gespannt, wie sich Slimani in ihren Folgebüchern weiterentwickelt hat. Eine Autorin, die ich weiter erforschen werde.