Emotional mitreißende Dystopie
Unsre verschwundenen HerzenDer Roman, der mich dieses Jahr am meisten mitgenommen hat, stammt von Celeste Ng. Ihr Werk "Kleine Feuer überall" stand schon lange auf meiner Wunschliste, gelesen habe ich nun aber ihren aktuellen Roman ...
Der Roman, der mich dieses Jahr am meisten mitgenommen hat, stammt von Celeste Ng. Ihr Werk "Kleine Feuer überall" stand schon lange auf meiner Wunschliste, gelesen habe ich nun aber ihren aktuellen Roman "Unsre verschwundenen Herzen".
Es gibt einiges, was man an dem Roman - der als Dystopie eingestuft wird - kritisieren kann. "Warum handelt Margaret so und nicht anders, warum nimmt sie dieses und nicht jenes?" "Mir ist das zu konstruiert." Und so weiter. Klar, kann man machen. Und ich würde den jeweils genannten Punkten sogar zustimmen. Nur ist das für mich nicht der Kern des Romans. Oder anders gesagt: Wenn man den Roman nicht an sich ranlässt, wird man diese Punkte derart kritisieren, dass man am Ende nichts mit ihm anfangen können.
Wer sich emotional auf Bird und Margaret einlässt - und mich haben beide schon auf den ersten Seiten in ihren Bann gezogen -, der wird auf eine emotionale Achterbahnfahrt geschickt.
Dabei ist die Dystopie, in der Bird und Margaret leben, gar nicht so weit weg. Rassismus (in diesem Roman gegen Chinesen im besonderen und asiatisch-stämmige Personen im allgemeinen) ist nicht nur in den USA seit Jahrzehnten ein ernstzunehmendes Problem.
Ng präsentiert die USA als eine Nation, die im Zuge einer mehrjährigen Krise Chinesen als das Problem herbeigeredet bzw. -geschrieben hat und mit PACT eine Art "Patriotismus-Gesetz" zum Kampf gegen unpatriotische Umtriebe erlassen hat. Gar nicht so weit weg von der Realität, nicht wahr? Auch nicht weit von der Realität entfernt: Wie der Rassismus gegen asiatisch gelesene Menschen immer offener und brutaler ausgelebt wird, wie die Berechtigungen der Behörden im Kampf gegen "unpatriotische Umtriebe" immer mehr ausgeweitet werden, wie irgendwann selbst subtile Kritik an PACT hart bestraft wird.
Vieles von dem, was Ng in dem Roman ersonnen hat, fußt auf der Realität. Das macht gute Romane und Dystopien aus. Sie lassen uns mitfiebern, lassen uns hoffen, der Roman möge ein gutes Ende nehmen, lassen uns nachvollziehbar werden, was da überhaupt vor sich geht.
Im Zentrum steht bei "Unsre verschwundenen Herzen" aber das emotionale Band zwischen Bird und Margaret - und all der Eltern zu ihren verlorenen Kindern und umgekehrt - und deshalb halte ich den Begriff Dystopie für irreführend, was diesen Roman betrifft.
Mich hat "Unsre verschwundenen Herzen" wie bereits erwähnt schon mit den ersten Seiten mitgenommen. Ich fühlte mich mit Margaret und Bird - mit ihrer Liebe zueinander - von Anfang an verbunden. Und wie Ng immer wieder PACT und dessen Auswirkungen bis in die engsten Winkel des Privaten beschreibt und wir so nach und nach das Puzzle und vor allem das Ausmaß des Ganzen begreifen, hat mir sehr gefallen. Der Blick Celeste Ngs ist auf Amerika gerichtet, aber ihre Geschichte ist universell und angesichts der weltweiten Entwicklungen sollte der Roman auch für uns in Europa eine Warnung sein.
Und dann ist da der Kern des Roman - zumindest meiner Meinung nach: den Menschen zu gedenken, die Opfer geworden sind sowie denjenigen, die sich gewehrt haben, im Kleinen wie im Großen. Das ist das, was ich mitgenommen habe: dass die Opfer und Wehrhaften unsere Stimmen und unsere Erinnerungen brauchen, dass sie nicht vergessen werden dürfen.
Für mich ist "Unsre verschwundenen Herzen" ein sehr intensives Erlebnis gewesen, das auch jetzt noch nachhallt und auch noch einige Zeit nachhallen wird.