Profilbild von Seitenseglerin

Seitenseglerin

Lesejury Star
offline

Seitenseglerin ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Seitenseglerin über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.10.2022

Spannendes, tiefgründiges Kinderbuch mit starker weiblicher Heldin!

Superhenne Hanna
0

Achtung: Die Rezension enthält Spoiler!

Inhalt

Hanna ist alles andere als ein gewöhnliches Huhn: Sie ist 99 Jahre alt, kann sprechen, schreiben und lesen und hat einen großen Gerechtigkeitssinn. Als ...

Achtung: Die Rezension enthält Spoiler!

Inhalt

Hanna ist alles andere als ein gewöhnliches Huhn: Sie ist 99 Jahre alt, kann sprechen, schreiben und lesen und hat einen großen Gerechtigkeitssinn. Als sie in der Umgebung ihres Bauernhofs eine Hühnerfabrik mit Legebatterien entdeckt, ist für sie klar: Sie muss etwas dagegen tun und ihre armen „Schwestern“ retten!

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 von 2
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + / - Hühner werden gequält, verletzt und sterben (durch Fuchs, Überanstrengung, Krankheiten). Die Hauptfigur setzt sich allerdings für bessere Lebensbedingungen ein und hat damit Erfolg – es gibt also ein Happy End für die Legehühner.
Content Note / Inhaltswarnung: Tod von Tieren, Tierquälerei, Gewalt
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---


Rezension

„Ein Huhn kann kein Buch schreiben? Normalerweise nicht, das stimmt. Aber ich bin eben keine normale Henne. Ich bin sogar eine ziemlich außergewöhnliche Henne!“ Seite 7

„Superhenne Hanna“ habe ich gelesen, weil die Geschichte in vielen Schulen immer noch als leicht verständliche, spannende Einstiegsschullektüre (empfohlenes Alter: 9-11 Jahre) verwendet wird und als Kinderbuchklassiker gilt – auch wenn sie schon 1977 zum ersten Mal erschienen ist.

Der Schreibstil ist für die Zielgruppe sehr gut geeignet und leicht verständlich, enthält aber trotzdem auch komplexere Sätze. Schwierige Wörter werden praktischerweise gleich am Buchanfang erklärt. Der Einstieg ins Buch gelingt schnell, denn Hanna ist eine interessante Figur und Ich-Erzählerin, die man gerne durch die Geschichte begleitet. Besonders erstaunlich für ein Buch von einem männlichen Autor, das vor über 40 Jahren erschienen ist: die starke, mutige weibliche Hauptfigur, die sich immer wieder gegen starre Rollenbilder wehrt und dem Hahn auch schon mal eine körperliche Abreibung verpasst, wenn er frech wird, sie zu dominieren versucht oder sie maßregeln will! Aus diesem Grunde kann dieses Buch aus feministischer Sicht auch 2022 immer ohne Bedenken gelesen werden – und das, obwohl es den Bechdel-Test (leider!) nicht besteht (weil die gequälten Hennen der Hühnerfabrik leider namenlos bleiben) und alle mächtigen Figuren (Unternehmer, Landwirtschaftspräsident) männlich sind.

„Alle [Hähne] haben versucht mir einzureden, mein Platz sei im Hühnerstall und nirgendwo sonst. Alle haben gemeint, weil sie Hähne sind, seien sie die Herren und die Hühner müssten machen, was der Herr befiehlt. Das ist bei uns aber überhaupt nicht so. Die Hühner betrachten mich als Anführerin und der Hahn hat überhaupt nichts zu sagen.“ Seite 15

„Jeder Hahn, der auf den Hof kam, hat anfangs versucht mich unterzukriegen. Jeder dachte: Na, die werde ich einmal ordentlich verprügeln, dann pariert sie schon! Das ist aber bisher noch keinem gelungen. Blutend und zerrupft mussten sie wieder abziehen. Wer meine scharfen Krallen einmal gespürt hat, vergisst das nie!“ Seite 15

Für ein Kinderbuch ist „Superhenne Hanna“ auch außergewöhnlich spannend, wendungsreich und tiefgründig geschrieben. Zentral sind hierbei die Themen Tierschutz, Mitgefühl, Zusammenhalt, Gerechtigkeit, Freundschaft, Mut und gesellschaftliches Engagement – hierbei lernen die Schüler:innen, dass jede:r eine Veränderung bewirken kann, wenn mensch sich nur genug anstrengt. Hanna selbst, die sich nichts sagen und sich niemals einschüchtern lässt, kann hierbei sehr gut als Vorbild dienen!

Am Schluss wird die gelungene Geschichte noch zu einem runden Happy End geführt, das mich (und sicher auch die Zielgruppe) zufrieden zurücklässt. Lediglich einen Kritikpunkt gibt es von mir: Da Legebatterien in Österreich bereits seit einigen Jahren in der konventionellen Landwirtschaft verboten sind (2019 haben die letzten 8 Betriebe umgestellt) ist das Thema zwar nicht mehr ganz aktuell, aber die Grundbotschaft (Wichtigkeit von Tierschutz, artgerechter Haltung, gesellschaftlichem Engagement) bleibt gültig, richtig und wertvoll und kann nach wie vor in den Klassen diskutiert werden.

„‘Irgendwie verstehe ich das schon, dass die Menschen kein Mitleid mit uns Hühnern haben. Sie empfinden ja oft nicht einmal für die eigenen Mitmenschen Mitleid.‘“ Seite 50


Mein Fazit

Für mich ist „Superhenne Hanna“ ein überraschend spannendes, wendungsreiches und tiefgründiges Kinderbuch, das sehr gut für die junge Zielgruppe geeignet ist. Besonders gut gefallen haben mir die starke weibliche Hauptfigur, der angenehm lesbare Schreibstil und die wichtigen Themen (Tierschutz, Mitgefühl, gesellschaftliches Engagement), die sich auch im Jahre 2022 noch sehr gut mit einer Klasse lesen und diskutieren lassen. Ich spreche daher gerne eine Leseempfehlung (besonders an alle Lehrer:innen) aus!


Bewertung

Cover / Aufmachung: 3 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 4 Sterne
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier zufriedene Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.09.2022

Leider spannungsarm und enttäuschend – und für mich KEIN Thriller!

Willkommen in Wisewood
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Kein Handy, kein Alkohol, kein Make-up, keine Berührungen – das sind die strengen Regeln auf Wisewood, einem „Retreat“ auf einer abgeschiedenen Insel, bei dem man seine ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Kein Handy, kein Alkohol, kein Make-up, keine Berührungen – das sind die strengen Regeln auf Wisewood, einem „Retreat“ auf einer abgeschiedenen Insel, bei dem man seine Ängste bekämpfen kann und dadurch absolute Freiheit erlangen soll. Als Nathalie in einer beunruhigenden E-Mail unter Druck gesetzt wird, ihrer Schwester Kit, die schon seit 6 Monaten auf Wisewood ist, eine schlimme Tat zu beichten, macht sie sich sofort auf den Weg. Wer hat die Mail geschrieben? Woher weiß die Person, was sie getan hat? Und was geht in dieser seltsamen Gemeinschaft wirklich vor sich?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens und Präteritum im Wechsel
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel

Tiere im Buch: - Spinnen werden lebendig geschluckt.
Content Note / Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Feuer, Gewalt gegen Kinder und Frauen, Blut, Depression, Krankheit, Suizid, Suizidgedanken, Alkoholmissbrauch, Gaslighting, toxische Männlichkeit, emotionale Erpressung, selbstverletzendes Verhalten
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Weib, N+tte,

Rezension

„Furcht ist nicht real“, verkündet sie, „nur wenn wir es zulassen.“ Seite 9

Bei diesem Thriller haben mich tatsächlich die Leseprobe (besonders der düstere, atmosphärische Prolog), das vielversprechende Setting (eine abgeschiedene, verregnete Insel) und die beruflich erfolgreiche, selbstbewusste Protagonistin, die sich auf den ersten Seiten gleich in einem männlich dominierten Arbeitsumfeld durchsetzt, neugierig gemacht.

Vor der Lektüre hatte ich gesehen, dass dieser Thriller bereits einige negative Rezensionen erhalten hatte, aber davon wollte ich mich natürlich nicht abhalten lassen, denn unter polarisierenden Büchern habe ich schon einige Male richtige Perlen entdeckt (wie zum Beispiel „Fische“ von Melissa Broder, bitte lest es alle! ♥). Jetzt jedoch, nachdem die letzte Seite gelesen ist, muss ich den kritischen Leser·innen leider zustimmen: Auch mich hat „Willkommen in Wisewood“ leider sehr enttäuscht!

Was der gelungene, düstere Prolog und die ersten starken Seiten versprechen, kann der Rest des Buches nämlich leider nicht halten. Seine schwierige Entstehungsgeschichte (bis zur Veröffentlichung wurden insgesamt 7 verschiedene Fassungen von der Autorin erstellt) merkt man diesem Werk leider an; es schafft es überhaupt nicht, das Potential seiner guten Grundidee und seines großartigen Settings zu nutzen.

Nach den ersten, überzeugenden Seiten begann für mich das große Warten: darauf, dass mich die Geschichte endlich fesselt, darauf, dass endlich etwas passiert, darauf, dass es endlich spannend wird. Nun ist die letzte Seite bereits gelesen – und ich warte immer noch! Es gelingt der Autorin einfach nicht, einen Spannungsbogen aufzubauen. Sie verliert sich in langweiligen Alltagsbeschreibungen, die zahlreichen, sich inhaltlich wiederholenden Rückblenden (sie machen ungefähr die Hälfte dieses Buches aus) nehmen zusätzlich Tempo raus – und wenn Geheimnisse enthüllt werden, geschieht das auf eine unglaublich lahme, uninteressante Weise. Ein Thriller ist das in meinen Augen auf gar keinen Fall! Sehr schade finde ich auch, dass das tolle Setting nicht besser genutzt und atmosphärischer und detaillierter beschrieben wurde – hier hätte man so viel mehr herausholen können! Immer wieder habe ich mit dem Gedanken gespielt, das Buch abzubrechen – und im Nachhinein hat sich das Durchhalten leider nicht gelohnt.

Thematisch geht es in „Willkommen in Wisewood“ um Schuld, Familie, Selbstliebe, Trauer, Angst und gesellschaftliche Erwartungen. Leider behandelt die Autorin die meisten Themen nur oberflächlich und konnte mich mit ihrer kühlen Erzählweise emotional nicht erreichen. Auch die Figuren haben mich enttäuscht: Die Protagonistinnen wurden mir mit jeder Seite unsympathischer, ihr Verhalten war für mich oft unglaubwürdig und nicht nachvollziehbar. Ich konnte mit ihnen auch nicht mitfühlen und ihr Schicksal war mit dementsprechend egal. Die anderen Figuren bleiben großteils (mit wenigen Ausnahmen) auch eher blass.

Keine Beschwerden gib es dafür aus feministischer Sicht, da im Buch viele starke und intelligente Frauenfiguren vorkommen, Sexismus angesprochen wird und es den Bechdel-Test besteht. Das eine oder andere Geschlechterstereotyp kann ich da verzeihen, allerdings hätte ich mir von der Übersetzerin, Marie Rahn, noch gewünscht, dass sie bei weiblichen Charakteren auch konsequent die weibliche Form verwendet (MentalistIN statt Mentalist, FreundIN statt Freund). Den Schreibstil habe ich übrigens – auch wenn er mir etwas zu distanziert und kühl war – als sehr angenehm und flüssig empfunden. Aus diesem Grund könnte ich mir durchaus vorstellen, der Autorin irgendwann noch einmal eine zweite Chance zu geben!

„Wir sind viel zu vernünftig. […] Unsere gesamte Zeit verschwenden wir an das Falsche. Wir tun so, als würden wir ewig leben.“ Seite 13

Mein Fazit

Ein Thriller ist „Willkommen in Wisewood“ für mich definitiv nicht, denn es fehlen die Grundzutaten: Spannung, eine dichte Atmosphäre, überraschende Wendungen. Das Potential ihrer guten Grundidee und ihres großartigen Settings kann Stephanie Wrobel leider nicht nutzen. Auch die unsympathischen Protagonistinnen und die fehlende Tiefe haben mich enttäuscht. Ich kann dieses Buch daher leider nicht weiterempfehlen! Da draußen auf dem Buchmarkt gibt es so viele großartige Thriller (wie zum Beispiel „Ragdoll“ von Daniel Cole und „Orphan X“ von Gregg Hurwitz ♥) – lest lieber die!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 3 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 2 Sterne
Umsetzung: 2 Sterne
Worldbuilding: 2 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Ende: 2 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistinnen: 2 Sterne
Figuren: 2,5 Sterne
Spannung: 1 Stern
Wendungen: 2 Sterne
Atmosphäre: 1 Stern
Emotionale Involviertheit: 2 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 4 Sterne
Einzigartigkeit: 2 Sterne

Insgesamt:

❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir zwei Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.09.2022

Hochinteressante Grundidee, aber sehr gewöhnungsbedürftiger Schreibstil!

Der letzte weiße Mann
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Es ist ein Morgen wie jeder andere – und doch verändert er alles, denn der eigentlich weiße Fitnesstrainer Anders wacht mit dunkler Hautfarbe auf. Immer mehr Menschen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Es ist ein Morgen wie jeder andere – und doch verändert er alles, denn der eigentlich weiße Fitnesstrainer Anders wacht mit dunkler Hautfarbe auf. Immer mehr Menschen verwandeln sich, die weiße Mehrheit im Land wird langsam zur Minderheit. Militante Gruppen wollen das aber nicht akzeptieren, es kommt zu Aufständen, bürgerkriegsähnlichen Zuständen und Ermordungen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive im Wechsel
Kapitellänge: kurz

Tiere im Buch: +/- Kaulquappen werden unabsichtlich von Kindern getötet, ansonsten werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Content Note / Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Rassismus, Diskriminierung, Hassverbrechen, Gewalt (auch gegen Kinder), Krankheit, Trauer, Suizidgedanken, Erbrechen, Drogen,
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---

Rezension

„Eines Morgens wachte Anders, ein weißer Mann, auf und stellte fest, dass seine Haut sich unleugbar tiefbraun gefärbt hatte.“ E-Book, Position 40

Bei diesem Buch haben mich die positiven Rezensionen der Kritiker·innen im englischsprachigen Raum und die erfrischende, spannende Grundidee (ich liebe ja sowieso Dystopien / Utopien! ♥) neugierig gemacht. Außerdem war der Autor schon zweimal für den britischen Booker Prize nominiert – auch das weckte mein Interesse.

Kurz: Habe ich das großartige Buch bekommen, das ich erwartet hatte? Nicht ganz! Aber habe ich diesen Roman trotzdem gerne gelesen und konnte ich von der Lektüre etwas für mich mitnehmen? Ja, definitiv! Dabei fiel mir der Einstieg alles andere als leicht, weil ich große Schwierigkeiten mit dem ungewöhnlichen Schreibstil hatte. Mein Problem: Mohsin Hamid weigert sich schlicht, Punkte zu setzen! Seine Sätze gehen deshalb alle (fast ausnahmslos!) über mindestens einen Absatz, wenn nicht sogar über eine ganze Seite, was ich beim Lesen sehr mühsam und anstrengend fand. Dabei habe ich überhaupt nichts gegen lange, verschachtelte Sätze, WENN die Komplexität der Gedanken diese erfordert. Das war aber hier überhaupt nicht der Fall, hier werden meist ohne jede Notwendigkeit in einfachem Vokabular verfasste Hauptsätze bandwurmartig aneinandergereiht. Da hätte man (als Service für Leser·innen) ganz einfach Punkte setzen können – und es auch sollen. Hätte das Buch nicht nur 160, sondern 300 Seiten oder noch mehr gehabt, hätte ich es mit Sicherheit abgebrochen, aber so konnte ich es aushalten.

Mit der Zeit habe ich mich dann zum Glück an die Sprache gewöhnt und ich bin auf einige sehr schöne, tiefgründige, fast schon weise Zitate und treffende, berührende Beobachtungen menschlichen Verhaltens gestoßen, was mir sehr gut gefallen hat. Man könnte sagen, mir ist das Buch schlussendlich doch noch ein bisschen ans Herz gewachsen und ich kann nun zumindest verstehen, warum der Autor mit seinen Texten schon für Preise nominiert war.

„Anders‘ Straße war stockdunkel, und auch auf den Hauptstraßen war die Beleuchtung lückenhaft, als fehlten ihr Zähne.“ E-Book, Position 172

Die Grundidee ist natürlich erfrischend anders und hochinteressant. Mohin Hamid wagt in seinem Roman (der am Anfang etwas an Kafkas „Verwandlung“ erinnert) ein Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn weiße Menschen sich plötzlich verwandeln würden und eine dunkle Haut bekämen? Was würde das mit der Gesellschaft machen? Wäre so eine Zukunft utopisch oder doch dystopisch? Wäre eine Welt ohne unterschiedliche Hautfarben eine bessere, friedlichere? Im Mittelpunkt stehen hier Themen wie Rassismus (der alle Bereiche des Lebens durchdringt), das Leben als Schwarze Person in einer weißen Mehrheitsgesellschaft, Identität, Verschwörungstheorien, menschliches Zusammenleben, Angst und Hoffnung.

„[…] sagte Anders, er sei nicht sicher, ob er noch derselbe Mensch sei, anfangs hatte er das Gefühl gehabt […], aber so einfach war das nicht, wie die Menschen um einen herum sich verhielten, beeinflusste ja auch, wie man war, wer man war […]“ E-Book, Position 430

Dabei liefert Mohsin Hamid keine einfachen Antworten, sondern lässt vieles offen und seine Leser·innen eigene Schlussfolgerungen treffen. Einerseits mochte ich das, andererseits wurden mir aber rassistische Denkweisen und Äußerungen nicht immer klar genug benannt und kritisiert, sodass ich glaube, dass sie manchen (nicht dafür sensibilisierten Menschen) vielleicht entgehen könnten. An manchen Stellen hätte ich mir außerdem einfach noch MEHR gewünscht: mehr Tiefe, mehr Emotionen, mehr Atmosphäre, mehr Spannung, mehr Details (zum Beispiel darüber, was auf den Straßen genau passiert). So konnte sie mich leider emotional nicht immer so erreichen, wie ich mir das erhofft hatte.

Die Figuren überzeugten mich dafür mit jeder Seite mehr. Am Anfang war mir besonders Oona noch unsympathisch; sie wirkte sehr distanziert, aber nach und nach taut sie auf und man beginnt, sie und Anders (auch zusammen als Liebespaar) zu mögen. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass die Hauptfiguren noch eine Spur greifbarer gewesen wären, dass sie einen noch ein wenig näher an sich herangelassen hätten, dass ich noch ein bisschen mehr mit ihnen mitfühlen hätte können.

Aus feministischer Sicht gibt es bei diesem Buch allerdings gar keine Beschwerden, denn es verzichtet auf gegenderte Beleidigungen und Sexismus und präsentiert uns stattdessen eine starke weibliche Hauptfigur und eine einvernehmliche Beziehung auf Augenhöhe. Zum Glück verzichtet der Autor hier auch auf den sexualisierenden und objektifizierenden Male Gaze (= männlichen Blick) und beschreibt seine weiblichen Figuren (genauso wie die männlichen) einfach als das, was sie sind: Menschen mit Persönlichkeit. Leider ist das bei männlichen Autoren auch im Jahr 2022 immer noch nicht selbstverständlich (looking at you, Chris Whitaker!), deshalb gibt es von mir dafür ein Lob!

Mein Fazit

Nach einem schwierigen Einstieg habe ich doch noch begonnen, „Der letzte weiße Mann“ zu mögen. Das lag an der hochinteressanten Grundidee, an den spannenden Fragen, die der Autor stellt, an den schönen Zitaten und den Figuren, die mir langsam doch ein wenig ans Herz gewachsen sind. Auf ganzer Linie überzeugen konnte mich dieser utopische / dystopische Roman dennoch nicht; ich hätte mir noch etwas mehr Tiefe, mehr Emotionen und vor allem mehr Punkte (= kürzere Sätze) gewünscht. Von mir gibt es trotzdem eine Empfehlung, aber keine uneingeschränkte: Schaut euch vor der Lektüre unbedingt die Leseprobe an! Wenn sie euch überzeugt, steht ein paar interessanten Lesestunden, die auch euch sicherlich zum Nachdenken bringen werden, nichts mehr im Wege!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 3 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Figuren: 3,5 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Wendungen: 3 Sterne
Atmosphäre: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 5 Sterne ♥
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀,5 Sterne

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.09.2022

Gute Ansätze, aber leider durchzogen von Sexismus, Rassismus und Fatshaming!

Was auf das Ende folgt
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Mit der nächtlichen Entführung des 3-jährigen Harry aus seinem Bettchen halten das Böse und die Angst Einzug in die eigentlich idyllische Kleinstadt Tall Oaks. Der Täter: ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Mit der nächtlichen Entführung des 3-jährigen Harry aus seinem Bettchen halten das Böse und die Angst Einzug in die eigentlich idyllische Kleinstadt Tall Oaks. Der Täter: eine Person mit Clown-Maske. Auch in einer Stadt, in der eigentlich jeder jeden kennt, gibt es Geheimnisse – doch wer hat mehr zu verbergen als alle anderen? Wer hat Harry entführt?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: viele weibliche und männliche Perspektiven im schnellen Wechsel
Kapitellänge: kurz bis mittel

Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Content Note / Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Tod von Kindern & Babys, Trauer, Depression, Alkoholmissbrauch, psychische Krankheiten, Suizid, Suizidgedanken, Gewalt, Blut, Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Diskriminierung, Fatshaming, Slutshaming, Mobbing, Erbrechen, (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen, selbstverletzendes Verhalten, schwierige Beziehung zu den Eltern
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: H+re, N+tte, Schl+mpe, Miststück (fast alles mehrmals)

Rezension

„Auf die eine oder andere Art sind wir alle abgef*ckt.“ E-Book, Position 2446

Da beide bereits auf Deutsch erschienenen Bücher des Autors sowohl von der Kritik als auch vom Lesepublikum viel Lob erhalten haben (sein 2. Buch hat sogar Preise bekommen!) und da der Klappentext nach einem tiefgründigen Roman mit liebevoll ausgearbeiteten Figuren und einem überzeugenden Kleinstadt-Setting klang (das mag ich eigentlich sehr ♥), wollte ich ihn unbedingt lesen.

Überzeugen konnte mich das Buch leider schlussendlich nicht, denn: Diese Mischung aus Roman und Krimi ist für alle Leute perfekt, die sich schon seit Jahren aufregen, dass man ja heutzutage „überhaupt nichts mehr“ sagen dürfe. Denn Chris Whitaker beweist mit diesem Buch: Man darf nicht nur ALLES sagen, was man will (und marginalisierte Gruppen am laufenden Band beleidigen & verletzen), sondern man darf es sogar SCHREIBEN – und wird trotzdem von Verlagen veröffentlicht, sogar in andere Sprachen übersetzt, von der Kritik gelobt und von den Leser·innen gefeiert. Und DAS finde ich wirklich traurig! Die Geschichte enthält nämlich so ziemlich alle -Ismen, die es gibt.

Fangen wir mit dem Fatshaming (= Fettfeindlichkeit) an: Die dicken Figuren in diesem Buch sind wandelnde Klischees, ihre Persönlichkeit besteht zu 80% aus ihrem Dicksein, fast alle ihre Gedanken drehen sich um die Leibesfülle – und damit wir es als Leser·innen auch ja nicht vergessen, werden wir in jedem zweiten Satz daran erinnert, wie UNGLAUBLICH dick und ekelhaft und verschwitzt die Person ist und dass sie auf zwei Sesseln sitzen muss, nach gefühlt 10 m Fußweg außer Atem ist und den ganzen Tag nur süße Limonade trinkt. Natürlich sind auch alle mehrgewichtigen Leute in diesem Buch entweder schreckliche Menschen oder haben einen sehr geringen IQ.

Auch „witzige“ rassistische Sprüche dürfen da natürlich nicht fehlen! So kommt zum Beispiel (zumindest in der Übersetzung) das I-Wort ohne Einordnung und ohne Kommentar vor, als wäre es das normalste Wort der Welt, es wird sich darüber lustig gemacht, was ein asiatisch aussehender Mann „in der Hose“ hat und beim Autokauf fällt der „ironische“ Spruch: „Einmal ´nen Schwarzen, immer ´nen Schwarzen!“ Diese Sätze beschreiben sehr gut den Humor des Autors, der auf mich wirkt, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nicht einmal seine männlich-weißen Privilegien hinterfragt und in den letzten Jahren aus irgendeinem Grund (wie ist das überhaupt möglich?) überhaupt nichts von den Diskursen über Sexismus, Rassismus und Fatshaming mitbekommen.

Am schlimmsten fand ich jedoch das problematische Frauenbild, den Sexismus und die Misogynie: Von den zahlreichen Figuren, aus deren Sicht erzählt wird, sind gerade einmal 2 weiblich – und natürlich treten fast alle Frauen nur als besorgte Mütter und verlassene Ehefrauen in Erscheinung; sie lieben ihre Kinder, sie trösten, sie kochen, sie trauern ihren Männern nach. Die Beschreibungen des Autors sind so dermaßen vom Male Gaze (= männlichen Blick) und von Sexismus geprägt, dass es für mich von Seite zu Seite unerträglicher wurde: Frauen werden mit läufigen Hündinnen verglichen, ihre Röcke sind „n+ttenkurz“, es gibt haufenweise Slutshaming, ständig werden ihre Brüste, Lippen, langen Beine im Detail beschrieben (warum wird eigentlich nie beschrieben, wie lang die Beine der Männer und wie eng ihre Hosen sind? Ach so, das sind ja keine Frauen und damit keine S+xobjekte, Entschuldigung, mein Fehler!), sie sind verrückt und lachen hysterisch und irre – und wenn sie beispielsweise in großer Gefahr schweben und gerade kurz davor sind, von einer ganzen Gruppe Männer vergewaltigt zu werden, ist der erste Gedanke, der ihnen durch den Kopf geht, natürlich der, dass sie es VERDIENT haben, weil ihr Kind entführt wurde. Hier merkt man einfach, dass es dem Autor überhaupt nicht gelingt, sich von seiner privilegierten Sicht heraus in die Lebensrealität von Frauen hineinzuversetzen.

Ich bin jedenfalls sehr enttäuscht (und auch etwas wütend) und frage mich: Warum werden solche Bücher im Jahr 2022 nicht nur veröffentlicht, sondern auch noch von deutschen Verlagen eingekauft und übersetzt? Dabei gäbe es doch so viele talentierte, junge Stimmen, die in ihren Geschichten nicht permanent marginalisierte Gruppen beleidigen und verletzen. Ich würde mir wünschen, dass man in der Zukunft stattdessen diesen Menschen eine Chance gibt!

Im Zentrum dieser -Ismen steht der jugendliche Möchtegern-Gangster Manny – aber auch die anderen Figuren sind nicht viel besser, weil der Sexismus (etc.) halt einfach schon im Schreibstil steckt und demnach das ganze Buch durchzieht. Ich hätte kein Problem damit gehabt, dass Manny so redet (und diese in der Realität nun einmal vorkommenden Probleme angesprochen werden), wenn andere Figuren diese Sprüche eingeordnet und kritisiert hätten, wenn es ein Gegengewicht gegeben hätte, wenn es nicht auch noch eine Figur gewesen wäre, mit der wir offensichtlich mitfühlen und uns identifizieren sollen. Bis auf eine Stelle gegen Ende, in der er sich auch noch transfeindlich äußert, gibt es niemals für ihn Gegenwind, sondern Betroffene lachen sogar noch herzlich über seine Sprüche und bestärken ihn. Das heißt, hier werden kommentarlos und vermutlich ohne jedes Bewusstsein für die Problematik munter Rassismus, Sexismus, Fatshaming und (selten) Homofeindlichkeit („Schw+nzlutscher“) reproduziert! Dieses Buch wirkt wie aus der Zeit gefallen, es liest sich wie aus den 90er-Jahren, wo über solche „Altherrenwitze“ noch herzlich gelacht wurde. In der heutigen Zeit geht so etwas meiner Meinung nach aber überhaupt nicht mehr! Ich kann mich nur wundern, dass ich in so gut wie keinen Rezensionen Kritik diesbezüglich höre und dass seine Bücher sowohl vom Feuilleton als auch von der Leser·innenschaft so begeistert aufgenommen werden.

Ich finde es sehr schade, dass mir die oben genannten Kritikpunkte die Lektüre so vermiest haben, da die Geschichte eigentlich großes Potential gehabt hätte und da der Autor ohne Zweifel Talent hat und gut schreiben kann. Es waren viele gute Ansätze zu sehen, auch wenn das Buch trotzdem auch ein paar Schwächen aufweist. Bei der Figurenzeichnung arbeitet Chris Whitaker zwar (meiner Meinung nach zu oft) mit Klischees, aber im Laufe des Buches verleiht er seinen Charakteren Tiefe, Komplexität und Persönlichkeit. Auch wenn ich mir beim Schreibstil, der mir etwas zu dialoglastig war, stellenweise noch mehr Tiefe gewünscht hätte, ist er doch sehr flüssig, anschaulich und angenehm lesbar, sodass man nur so durch die Seiten fliegt. Das Setting mochte ich zudem wirklich gerne, denn diese typische Kleinstadt-Atmosphäre kam sehr gut rüber. Die abwechslungsreiche, interessante Themenwahl (die Themen reichen von Trauer über psychische Krankheiten bis hin zu Liebe und tragischen Schicksalen) fand ich ebenfalls gelungen – auch wenn manche Aspekte nur recht oberflächlich abgehandelt werden. Der Spannungsbogen bricht im Mittelteil immer wieder ein und die Handlung kommt nicht vom Fleck, aber das hätte ich verzeihen können, denn im letzten Viertel, das meiner Meinung nach das stärkste des ganzen Buches ist, gibt es noch einige überraschende Wendungen und der Autor führt alle losen Fäden zu einem gelungenen, hoffnungsvollen Ende, das mich zufrieden zurückließ.

„Das Schlimmste war die ständige Angst, dass bei jedem Klingeln des Telefons oder an der Haustür ein Polizist die Nachricht überbringen könnte, sie hätten eine Leiche gefunden.“ E-Book, Position 89

Mein Fazit

Eigentlich hätte ich „Was auf das Ende folgt“ drei Sterne gegeben, weil trotz der Schwächen (Klischees, fehlende Tiefe, Spannungseinbrüche) auch viele gute Ansätze erkennbar waren (Schreibstil, Figurenzeichnung, Plotentwicklung). Leider sind der das ganze Buch durchdringende Male Gaze, der Sexismus, der Rassismus, das Slutshaming und Fatshaming in meinen Augen unerträglich und unverzeihlich, sodass ich diesen Roman mehrmals abbrechen wollte. Durchgehalten habe ich nur, um am Ende diese fundierte Rezension schreiben zu können. Ich bin jedenfalls sehr enttäuscht und kann dieses Debüt leider nicht weiterempfehlen!

Bewertung

Idee: 4 Sterne
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Umsetzung: 2 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 1 Stern (!)
Einzigartigkeit: 3 Sterne

Insgesamt:

❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir zwei Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.08.2022

Unterhaltsam, wunderschön geschrieben – aber leider nicht so großartig wie erwartet!

Caraval
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Seit Scarlett ein Kind ist, wünscht sie sich, am legendären Spiel „Caraval“ teilzunehmen. Nur wenige Tage vor ihrer Hochzeit mit einem unbekannten Grafen bietet sich ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Seit Scarlett ein Kind ist, wünscht sie sich, am legendären Spiel „Caraval“ teilzunehmen. Nur wenige Tage vor ihrer Hochzeit mit einem unbekannten Grafen bietet sich endlich die Gelegenheit. Scarlett kann viel gewinnen, hat aber auch viel zu verlieren – sie beschließt mitzuspielen und riskiert damit alles. Und schon bald muss sie feststellen, dass „Caraval“ nicht nur voller Magie und Schönheit steckt, sondern auch voller Gefahren…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 von 3
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel

Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Gewalt gegen Frauen, sexualisierte Gewalt, Sexismus, Diskriminierung, Blut, psychische Krankheiten, Suizidgedanken, Suizid
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Miststück

Rezension

„Was auch immer ihr über Caraval gehört habt, es kommt der Wirklichkeit nicht einmal nahe. Es ist mehr als nur ein Spiel oder eine Vorstellung. Es ist das, was der Magie in dieser Welt am nächsten kommt.“ Seite 20

Nachdem mir „Caraval“ immer wieder und mit einem gewissen Nachdruck von Julia @seiten_hieb ans Herz gelegt wurde (sie kann wirklich überzeugend sein!), war ich irgendwann so neugierig, dass ich das Buch unbedingt lesen musste.

Konnte „Caraval“ meine hohen Erwartungen erfüllen? Nicht ganz! Aber war es trotzdem gut und hat mich gut unterhalten? Ja, auf jeden Fall! Besonders positiv aufgefallen ist mir der anschauliche und vor allem sehr blumige und bildliche Schreibstil von Stephanie Garber. Manche Szenen fand ich wirklich wunderschön, eindringlich, emotional und mitreißend geschrieben. Meiner Meinung nach ist die Sprache deshalb die größte Stärke dieser Fantasy-Geschichte!

Auch Scarlett, die Protagonistin, die ihr Leben lang vernünftige Entscheidungen getroffen und ihre Gefühle unterdrückt hat und plötzlich aus ihrer Komfortzone in ein unberechenbares, abenteuerliches Spiel geworfen wird, hat mich überzeugt! Ihre Liebe zu ihrer Schwester wurde sehr glaubhaft vermittelt, ihre Gedanken- und Gefühlswelt (interessant dabei: Scarlett ist eine Synästhetikerin, für sie haben alle Gefühle bestimmte Farben) intensiv und nachvollziehbar geschildert, sodass ich mich mit ihr identifizieren konnte. Die Entwicklung, die sie im Laufe des Buches durchmacht, fand ich zudem glaubwürdig und gelungen.

Die anderen Figuren sind (bis auf wenige Ausnahmen) ebenso liebevoll ausgearbeitet und wirken dreidimensional – und manche von ihnen sind undurchschaubar. Man weiß lange nicht, wem man vertrauen kann – so etwas liebe ich ja sehr bei Büchern! Die kleine Liebesgeschichte fand ich zudem ganz nett und süß gemacht – ich mochte sie. Aus feministischer Sicht ist das Buch ebenfalls empfehlenswert, da es voller starker weiblicher Figuren steckt und zwar (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen vorkommt (hier kann man natürlich diskutieren, ob das in dem Ausmaß in einem Jugendbuch sein muss), diese aber dafür altersgerecht angesprochen und kritisiert wird.

In „Caraval“ beschäftigt sich die Autorin thematisch mit Familiengeheimnissen, Liebe, dem Widerspruch zwischen Vernunft und Gefühl, Verantwortung, Emanzipation vom Vater und Freiheit – und geht dabei für einen Jugendroman angemessen in die Tiefe. Die Schlussfolgerungen der Heldin werden dabei stets ausformuliert, sodass einem als Leserin auch ja nichts entgehen kann – hier merkt man dem Buch sein Zielpublikum an, was mich aber überhaupt nicht gestört hat.

Die dichte, mysteriöse Atmosphäre, die gerade im ersten Drittel geschaffen wird, und die faszinierende Insel von Legend mit ihren vielen liebevollen, kreativen Details zogen mich ganz in ihren Bann und erinnerten mich stark an „Alice im Wunderland“ und den „Nachtzirkus“ von Erin Morgenstern – beides Bücher, die ich ebenfalls (sehr) mochte. In seinen besten Momenten ist die Geschichte atemlos spannend, wendungsreich und man kann kaum aufhören, weiterzulesen!

Ein neues Lieblingsbuch ist „Caraval“ trotzdem leider nicht geworden. Woran es lag? Zum einen am Spannungseinbruch im Mittelteil, als die Handlung stagniert und einige Zeit lang nicht viel passiert. Zum anderen habe ich mir das SPIEL selbst nach den vielen begeisterten, schwärmerischen Rezensionen einfach viel actionreicher, viel großartiger, viel unvergesslicher, ja, einfach viel EPISCHER vorgestellt. In den Spielnächten mischen sich banaler Alltag (Restaurantbesuche und Einkäufe) und das gefährliche Spiel, Teilnehmer·innen und Tourist·innen, die sich die Insel einfach nur anschauen wollen – sodass einem oft nicht einmal klar ist, wer gerade spielt und wer nicht. Auch von der Suche nach den Hinweisen, von den verschiedenen Aufgaben, die gestellt werden, habe ich mir einfach mehr erwartet! Noch dazu verliert die Hauptfigur durch unvorhergesehene Ereignisse einen ganzen Spieltag; in dieser Zeit passiert dementsprechend wenig – verschenktes Potential in meinen Augen! Hier kam es mir so vor, als wären der Autorin nach ihrem grandiosen Anfang die Ideen ausgegangen…

Trotzdem hat mich „Caraval“ insgesamt gut unterhalten und da Band 2 noch besser als der Auftakt sein soll, werde ich natürlich weiterlesen – und zwar schon im November und erneut zusammen mit Melissa. Darauf freue ich mich schon sehr!

„Die Wärme schmeckte nach Licht, sie prickelte auf der Zunge, rann ihr süß die Kehle hinab, brachte alles von ihren Zehen bis zu den Fingerspitzen zum Kribbeln.“ Seite 90

Mein Fazit

„Caraval“ ist ein unterhaltsames, schön erzähltes, wendungsreiches, atmosphärisches Jugendbuch mit einer starken Heldin, mit dem ich ein paar schöne Lesestunden verbringen konnte. Meine hohen Erwartungen konnte es leider trotzdem nicht erfüllen: Das Spiel selbst habe ich mir einfach epischer, spannender und unvergesslicher vorgestellt! Für eine Leseempfehlung (sowohl für jung gebliebene Erwachsene als auch für Jugendliche) reicht es natürlich trotzdem aus. Wer „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll und den „Nachtzirkus“ von Erin Morgenstern mochte, wird mit diesem Jugendbuch (wie ich) seinen Spaß haben!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 5 Sterne ♥
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Tiefe: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 3,5 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 3 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 4 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Tempo: 3 Sterne
Wendungen: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: 4 Sterne
Einzigartigkeit: 5 Sterne ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir 4 Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere