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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.05.2019

Beklemmende, atmosphärische, faszinierende Dystopie, die mich ganz in ihren Bann gezogen hat

Milchzähne
1

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die junge Skalde und ihre Mutter Edith wohnen gemeinsam mit ihren zwei Doggen in einem abgeschiedenen Haus neben dem Wald. Das abgelegene Stück Land, auf dem sie (und ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die junge Skalde und ihre Mutter Edith wohnen gemeinsam mit ihren zwei Doggen in einem abgeschiedenen Haus neben dem Wald. Das abgelegene Stück Land, auf dem sie (und wenige andere Menschen) leben, ist von der Außenwelt abgeschnitten, seit vor Jahren die einzige Brücke über einen reißenden Fluss gesprengt wurde, um sich vor den drohenden Gefahren einer dystopischen Welt zu schützen. Das Leben dort ist hart, doch alles hat eine bestimmte, beruhigende Ordnung. Diese wird jedoch empfindlich gestört, als ein kleines Mädchen auftaucht und Skalde dieses mit nach Hause nimmt. Ihre Andersartigkeit und unbekannte Herkunft schüren die Angst der anderen DorfbewohnerInnen, die bald in Hass umschlägt. Skalde soll das Kind ausliefern…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blumenbar
Seitenzahl: 256
Erzählweise: Ich-Erzähler, hauptsächlich Präteritum, selten Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: sehr kurz (weniger als eine Seite) bis mittel
Tiere im Buch: -! Dieses Buch ist für TierfreundInnen nicht leicht zu ertragen: Kaninchen werden geschlachtet und gegessen, ihr Fell wird zu Mänteln verarbeitet, generell wird viel Fleisch verzehrt, Rehe werden zusammengetrieben und erschossen, Insekten werden grausam in Klebefallen gefangen, Schnecken werden mit kochendem Wasser übergossen (bitte, haltet von solcher Tierquälerei Abstand und greift zu einer tierfreundlichen Methode im Kampf gegen Schnecken (z.B. Schnegel, Laufenten).) Edith hat in ihrem Haus eine Sammlung toter Schmetterlinge, streunende Katzen werden ertränkt, eine Streunerkatze wird sich selbst überlassen und Hunde werden aus Rache ermordet. Als mildernder Umstand kann, was die Schlachtungen angeht, angesehen werden, dass Skalde und Edith das Fleisch brauchen, um zu überleben – und dass kein Tier von ihnen absichtlich gequält wird. Zudem werden die Hunde von ihnen sehr liebevoll und gut behandelt.

Traurige Information an dieser Stelle, was das Ertränken von Katzen betrifft: Es passiert leider immer noch! Auch diesen Frühling werden wieder unzählige Katzenbabys grausam ihr Leben verlieren, weil sie ertränkt, erschlagen oder auf andere Weise getötet werden, weil schlechte Menschen sich die Kastrationskosten sparen wollen. Deshalb mein Appell an euch: Lasst nicht zu, dass so etwas weiterhin passiert, sondern klärt über die Wichtigkeit von Kastrationen auf und zeigt jene TierquälerInnen an – auch dann, wenn es sich dabei um eure NachbarInnen, FreundInnen oder sogar Familienmitglieder handelt.

Warum dieses Buch?

Bei diesem Buch haben mich die Leseprobe und der Klappentext sehr neugierig gemacht – ich wollte die Geschichte unbedingt lesen. Dass das Buch schon Lob von KritikerInnen erhalten hatte, hat mein Interesse nur noch verstärkt.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg in die Geschichte ist mir sehr leicht gefallen, was nicht nur an den kurzen Kapiteln und dem gelungenen Schreibstil, sondern auch an der intensiven Stimmung liegt, die schon auf den ersten Seiten aufgebaut wird.

"Einige sagen, es hat ein Feuer gegeben. Die Trockenheit der Wälder. Ein einzelner Funke. Ungünstiger Wind. Ich stelle mir eine schwarze Ebene vor. Die Asche fällt wie Schnee." Seite 7

Schreibstil (♥)

Helene Bukowskis Schreibstil finde ich wunderbar. Er ist einfach, flüssig und angenehm lesbar, dennoch ist er niemals oberflächlich. Die Autorin schreibt sehr anschaulich, verliert sich jedoch nicht in Details. Teilweise wirkt die Sprache nüchtern, teilweise durch die tollen Vergleiche und Metaphern aber auch richtig schön und poetisch – und immer wohnt den kurzen, oft abgehackt wirkenden Sätzen eine unvermutete Intensität inne, die einen sofort in ihren Bann zieht.

„Mit dem Kind im Haus sind die Nächte heller geworden. Die Dunkelheit ist jetzt weich wie ein Mantel aus Pelz. Ich lege sie mir um die Schultern.“ Seite 43

„Der Himmel war von einem dunklen Blau, wie hundert Meter tiefes Wasser.“ Seite 210

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Mit „Milchzähne“ hat die junge Autorin eine erstaunlich düstere, schwermütige, beklemmende Dystopie geschaffen, die nicht immer einfach zu verdauen ist, die aber ohne Frage Faszination auslöst. Das Debüt wird durch die wenigen Figuren und die Einsamkeit im Wald zu einer Charakterstudie (fast schon zu einem Psychogramm) – Helene Bukowski nimmt sich Zeit, ihre Figuren in all ihren Facetten zu entdecken. Über allem hängt stets eine vage, nicht greifbare, unheilvolle Bedrohung. Die Welt scheint nämlich auf ihren Untergang zuzusteuern, während die DorfbewohnerInnen stoisch ihrem Alltag nachgehen. Es wird (durch den Klimawandel?) immer heißer, Tiere verlieren ihre Farbe und Obstbäume blühen das ganze Jahr, ohne Früchte zu tragen. Man erfährt nicht viel, die Fragen, die sich einem im Laufe der Lektüre stellen, werden immer drängender: Was passiert gerade auf der Welt? Warum wurde die Brücke damals gesprengt? Was befindet sich auf der anderen Seite? Doch genau diese Ungewissheit ist auch eine der größten Stärken des Buches (deshalb ziehe ich auch keine Sterne ab), denn man weiß nicht mehr als die Figuren darin, man erhält keine wissenschaftliche Erklärung – und das löst Unbehagen aus und macht Angst.

Vor allem zu Beginn handelt es sich bei diesem Buch um eine Aneinanderreihung verschiedener (mal bedeutender, mal alltäglicher) Momente der Kindheit und Jugendzeit von Skalde. Erst als Meisis, das unbekannte Mädchen, auftaucht und die bestehende Ordnung durcheinanderbringt, wird eine lineare Handlung erzählt. Helene Bukowski geht hierbei in die Tiefe, viel scheint zwischen den Zeilen zu stecken. Eine detaillierte Analyse der Symbole und verborgenen Bedeutungen würde vermutlich sehr interessante Erkenntnisse zutage fördern. Dabei ist der Roman von der Realität nur scheinbar weit entfernt – nach und nach treten Parallelen zu unserer Gesellschaft und aktuellen Lage (Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Angst vor Flüchtlingen) deutlich in den Vordergrund. Die Autorin befasst sich in ihrem Roman mit psychischen Krankheiten, Aberglauben, der Engstirnigkeit von Menschen, die nie ihren Geburtsort verlassen haben und mit der oft irrationalen Angst vor dem Fremden, die blitzschnell in Hass umschlagen kann. So wird die Dystopie an manchen Momenten zu einer Parabel und sehr gelungenen Gesellschaftskritik.

Der Schluss hat mir sehr gut gefallen, auch wenn die Geschichte meiner Meinung nach viel zu früh endet. So viele Fragen bleiben unbeantwortet – und während es einen Teil in mir gibt, der das gelungen findet, so gibt es auch einen Teil in mir, der sich wenigstens ein paar mehr Informationen und Antworten gewünscht hätte.

„‘Wieso haben sie Angst vor mir?‘, fragte sie.
‚Weil du nicht so bist wie sie'“, antwortete ich.“ Seite 78

Haupt- & Nebenfiguren (♥)

Die Figurenzeichnung ist sehr gut gelungen. Es handelt sich bei Skalde und ihrer Mutter Edith um zwei vielschichtige, dreidimensionale Figuren, die sehr liebevoll ausgearbeitet wurden und dennoch immer schwer greifbar und schwer einzuschätzen bleiben. Immer wieder entdeckt man als LeserIn neue, oft unerwartete Facetten an ihnen. Keine der Hauptfiguren ist eindeutig sympathisch oder unsympathisch, viel eher bewegen sie sich ständig auf dem Kontinuum dazwischen hin und her. Manchmal wirken sie labil, manchmal weiß man nicht so recht, ob man ihnen vertrauen kann. Skalde verliert sich z. B. oft in Mordfantasien über ihre Mutter. Trotzdem wachsen diese Menschen einem irgendwie, auf eine sich kompliziert anfühlende Weise, ans Herz. Besonders Edith fand ich sehr faszinierend, manchmal sogar unheimlich gezeichnet. Sie sperrt sich manchmal tagelang in ihrem Kasten ein, nimmt stundenlange Bäder, hat nie ihre Milchzähne verloren, scheint nicht zu essen und Hunde strömen von allen Höfen zu ihr, wenn sie nach ihnen ruft. Manchmal stellt sich unweigerlich die Frage: Ist Edith eigentlich menschlich? Ist sie real?

Die anderen Figuren haben nur kleine Nebenrollen, aber alle sind ausnahmslos sehr gelungen ausgestaltet. Sie wirken lebendig, eigenbrötlerisch, sehr authentisch. Dafür hat die Autorin ein großes Lob verdient!

„Ich möchte den Körper meiner Mutter nehmen, im staubigen Sand platzieren und darüber mit dem Pick-up meine Runden drehen.“ Seite 172

Spannung & Atmosphäre (♥)

Die beklemmende, dichte Atmosphäre in diesem düsteren Roman ist seine größte Stärke. Während man diese Geschichte liest, taucht man völlig in sie ab, ist wie gebannt, schwitzt mit Skalde und Edith in der Hitze und wartet darauf, dass etwas Schlimmes passiert. Manche Sequenzen wirken albtraumhaft, manchmal überträgt sich die träge, statische, trostlose Stimmung der heißen Sommertage auf einen selbst. Man fühlt sich zunehmend eingesperrt, ängstlich. Kryptische An- und Vorausdeutungen und so manche überraschende Wendung und dramatische Szene sorgen für zusätzliche Spannung und emotionale Momente, die mich nicht kaltgelassen haben. Hier hat Helene Bukowski meiner Meinung nach alles richtig gemacht!

„Der Wald ist ein anderer. Vielleicht wurden über Nacht die Bäume ausgetauscht, und nun stehen dort stattdessen Attrappen, deren einzige Funktion es ist, Verstecke zu sein, um das Auflauern zu optimieren.“ Seite 49

Feministischer Blickwinkel (♥)

Ich liebe die vielen starken, sturen, mutigen, manchmal merkwürdigen Frauen, die diesen Roman bevölkern. Der drohende Weltuntergang hat die alte Geschlechterordnung etwas durcheinandergewirbelt, Frauen jagen, verfallen dem Alkohol und kümmern sich ums Überleben – sie haben gelernt, sich durchzusetzen. Dennoch wäre es natürlich cool gewesen, wenn die Anführerin des Dorfes eine Frau gewesen wäre. Vielleicht ja beim nächsten Buch!

Mein Fazit

Helene Bukowski hat mich mit ihrer düsteren, beklemmenden Dystopie vollkommen in ihren Bann gezogen. Das liegt unter anderem an ihrem einfachen, aber sehr intensiven Schreibstil, und an ihren vielschichtigen, hochinteressanten Figuren, die immer wieder überraschen. Die Geschichte weist Parallelen zu unserer aktuellen Gesellschaft auf und kritisiert diese subtil. Die Autorin behandelt Themen wie Klimawandel, psychische Krankheiten, die Engstirnigkeit von Menschen, die nie ihren Geburtsort verlassen haben und die irrationalen Angst vor dem Fremden, die blitzschnell in Hass umschlagen kann, tiefgründig. Dabei wird auch mit Symbolen gearbeitet, viel steckt zwischen den Zeilen. Die größte Stärke dieses Debüts ist aber meiner Meinung nach die dichte, unheilvolle Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Dadurch und durch unerwartete Twists und kryptische Andeutungen entsteht eine ganz eigene Art von Spannung, bei der ständig eine vage Bedrohung im Hintergrund mitschwingt. Fazit: „Milchzähne“ ist ein einzigartiges, faszinierendes Debüt, das auch euch gefangen nehmen und erst nach der letzten Seite wieder loslassen wird! Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4,5 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 16.11.2018

3,5 Sterne: Gelungener, innovativ erzählter Roman - warum ich trotzdem ein bisschen enttäuscht bin

Verdammt perfekt und furchtbar glücklich
1

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Ottila McGregor hat immer noch an der Trauer um ihren Vater zu knabbern, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrer psychisch kranken Schwester ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Ottila McGregor hat immer noch an der Trauer um ihren Vater zu knabbern, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrer psychisch kranken Schwester gegenüber in der Jugend nicht immer sehr freundlich verhalten hat, hält sie nachts wach. Zudem hat Ottila ein Alkoholproblem, ist in eine ungesunde Affäre mit ihrem Chef verwickelt und hat das Gefühl, dass ihr Leben außer Kontrolle gerät. Doch damit soll von nun an Schluss sein. Ottila sucht sich eine Therapeutin, die sie bei ihrem nicht ganz einfachen Vorhaben unterstützt, endlich eines zu werden: verdammt perfekt und furchtbar glücklich…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blumenbar
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Ottila McGregor)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: + / - Tiere werden ohne Reflexion verspeist, manchmal schien es mir sogar so, als würde bei all dem lockeren Geplänkel über Tieropfer vergessen, dass es sich hierbei um fühlende Lebewesen handelt. Das hat mir nicht gerade gefallen. Zudem wird ein Opferritual zusammengefasst, bei dem zwei Ziegenböcke und ein Hund getötet werden. Einmal wird sogar gesagt, dass der einzige Grund, dass Ottila und Thales keine Opferung durchführen, nur sei, dass es illegal ist. Zudem werden die Lammschlachtungen zu Ostern als lustig dargestellt und Murmeln angepriesen, die Stinkkäfer enthalten. Weil auch in der Kindheit der Protagonistin wieder eine Katze alleine gehalten wurde, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Wer mich kennt, weiß, dass mich Anneliese Mackintoshs intensiver Erzählband „So bin ich nicht“ vor wenigen Jahren regelrecht umgehauen hat. Ich war wahnsinnig begeistert und schwor mir damals, das nächste Werk der Autorin zu lesen, egal, worum es gehen würde. Diesen Plan habe ich natürlich (wie man an dieser Rezension sehen kann) in die Tat umgesetzt.
Meine Meinung

Einstieg (+)

Den Einstieg fand ich auch dieses Mal sehr stark, da ich mich sofort an „So bin ich nicht“ erinnert fühlte, als ich die betrunkenen, gnadenlos ehrlichen SMS las, die von der Protagonistin an Silvester verschickt wurden. Meine Erwartungen stiegen weiter, als ich den interessanten Aufbau des Buches bemerkte: Die Autorin kreiert eine zusammenhängende Erzählung (und zeichnet ein Gesamtbild von Ottilas chaotischem Leben), die aus vielen kleinen Schnipseln besteht. Das ungewöhnliche, innovative und abwechslungsreiche Leseerlebnis setzt sich zum Beispiel aus SMS, Therapeutengesprächen, Zitaten, Flyern, Listen, Briefen, Tagebucheinträgen, Gästebucheinträgen, Totenscheinen, einem selbstgemachten Scrapbook, Blog-Einträgen und einem Übungsbuch für AlkholikerInnen auf Entzug zusammen – ein sehr interessanter Aufbau, der niemals langweilig oder vorhersehbar wird.

„Morgens probiere ich immer irgendwas zu machen, das mir guttut. Eine Banane essen, meditieren, Fotos von Leberzirrhose googeln. Manchmal schreie ich auch in mein Kissen.“ E-Book, Position 215

Schreibstil (+/-)

Der Schreibstil ist durch die vielen verschiedenen Beiträge verschiedener Menschen nicht einheitlich, die Sprache wird stets auf die verschiedenen Charaktere und ihre spezifischen Sprechweisen angepasst (zum Beispiel werden Orthographie und Stil verändert), was den Eindruck von Authentizität erzeugt. An den Kapiteln, die aus Ottilas Sicht geschrieben sind, gibt es eigentlich nicht viel auszusetzen. Die Sprache ist einfach, dabei jedoch niemals lieblos, flüssig, angenehm lesbar. Auch gibt es wieder manche Formulierungen, die mich entweder schlucken, nachdenklich werden oder schmunzeln haben lassen. Jedoch fehlte mir dieses Mal diese unverwechselbare Intensität, die mich am Vorgängerwerk so begeistern und emotional mitnehmen konnte. Meiner Meinung nach liegen der Autorin kürzere, verdichtete Werke mehr, weil sie da jedes Wort viel bewusster zu setzen scheint. Wow-Momente waren jedenfalls dieses Mal sehr selten.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

Auch dieses Mal zeigt Anneliese Mackinstosh keine Scheu vor schwierigen, ernsten und traurigen Themen und geht wieder in die Tiefe, wenn es um Alkoholismus, Krebs, Sterben, Trauer, psychische Krankheiten, selbstverletzendes Verhalten, Suizid, toxische Beziehungen und Gewalt gegen Frauen geht. Erneut konnte mich die Autorin mit ihrem ehrlichen und gleichzeitig sensiblen Umgang mit diesen Aspekten überzeugen, auch wenn sie mich nicht so emotional mitnehmen und treffen konnte wie mit ihrem Erstling. Das liegt möglicherweise am insgesamt lockereren Ton und einem Humor, der sich leichter zeigt als im Vergleichswerk. Jedoch könnte das Buch für labile Menschen, die gerade selbst mit einer schwierigen Phase oder Depressionen kämpfen, trotzdem schwer zu verdauen sein – daher nähert euch diesem Werk am besten mit Vorsicht. Das Ende fand ich gelungen, es wird mir aber nicht lange im Gedächtnis bleiben. Für mich war das Debüt der Autorin damals sehr nah an der Perfektion und meine Erwartungen an dieses Buch waren dementsprechend sehr hoch. Ich weiß, dass die Autorin es noch besser kann und dass man hier durchaus noch emotional viel mehr herausholen können hätte. Deshalb bin ich hier wohl strenger als ich es bei einem anderen Buch wäre und – ja, leider – auch ein kleines bisschen enttäuscht.

„Es gab zwar eine vernünftige Form der Trauer, die ich ausleben konnte. […] Aber es gibt noch eine andere Sorte Trauer, eine unbezähmbare, die immer wieder in mir hochkocht. Eine Trauer, die faucht und beißt. Eine Trauer, die sich an der gesamten Menschheit rächen will.“ E-Book, Position 4689

Protagonistin (♥)

Erneut gelingt es der Autorin, eine Protagonistin zu erschaffen, die man schnell ins Herz schließt. Ottila ist liebevoll ausgearbeitet, eine komplexe, komplizierte Person mit vielen authentischen Schwächen und Stärken und einer schwierigen Vergangenheit. Sie macht im Laufe der Geschichte eine glaubwürdige Entwicklung durch. Ihre Ehrlichkeit ist entwaffnend und schonungslos, ihr Humor oft düster, ihre Versuche, sich zu verändern, und ihr wiederholtes Scheitern dabei ließen mich mitfühlen und mitleiden. Ottila kennt keine Tabus, breitet ihre Fehler und kleinen, charmanten Verrücktheiten vor den LeserInnen aus, ohne sie jemals zu beschönigen oder sich zu rechtfertigen. Vielmehr präsentiert sie sich einfach, wie sie ist, und überlässt es dann uns, zu urteilen. Eine Situation, die sich sehr ungewöhnlich anfühlt! Ottila hat mich mit ihrer impulsiven, leicht verrückten, unbedarften Art ein wenig an Lucy in „Fische“ von Melissa Broder erinnert. Solche ungewöhnlichen Protagonistinnen finde ich einfach wunderbar!

„Meine Zunge wurde ein bisschen taub, und ich wusste, dass ich schon ziemlich betrunken war, weil ich die Augen weiter aufriss als üblich. Das war immer ein sicheres Zeichen. Keine Ahnung, warum ich das machte. Vielleicht ein Flirtversuch mit dem Leben.“ E-Book, Position 1296

(Neben)Figuren & Liebesgeschichte (♥)

Was die Nebenfiguren betrifft, gibt es hier nur Lob auszusprechen. Besonders beeindruckt hat mich die glaubwürdige Zeichnung der psychisch kranken Schwester Mina, die so viele Facetten von ihr einfängt, ihre schwierigen Verhaltensweisen beschreibt und sie dabei niemals unsympathisch oder gar monströs oder klischeehaft erscheinen lässt. Mir gefällt auch, wie hier oft mit Vorurteilen gebrochen wird (auch wenn die psychiatrische Anstalt teilweise auf mich doch sehr altmodisch, stereotypisch und nicht mehr zeitgemäß wirkte). Auch die Mutter, die immer wieder unerwartete Familiengeheimnisse enthüllt, langsam dem Alkohol verfällt und mit ihrem Leben und ihrer Trauer kämpft, empfand ich als sehr dreidimensional.

Die Liebesgeschichte strotzt vielleicht nicht unbedingt vor Chemie und kribbelnden Momenten, aber ich finde sie authentisch und gelungen: Endlich mal keine Insta-Love, sondern die Zuneigung entwickelt sich langsam, ist nicht perfekt, sondern einfach echt und gesund und dabei sehr schön zu lesen.

„Aber die Pfleger lassen sich nicht täuschen, genauso wenig wie ich: Minas Blick ist zwar ruhig, aber ihr Kopf ist hellwach, tüftelt immer neue Möglichkeiten aus, sich umzubringen, und fragt sich, ob sie je den Mut haben wird, es durchzuziehen.“ E-Book, Position 1698

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch wenn dieses Buch eine lockerere, positivere, weniger deprimierende Grundstimmung aufweist, so gibt es dennoch auch melancholische Momente, die es zu einer nicht immer leicht verdaulichen Lektüre machen. Obwohl ich neugierig war, wie es mit Ottila weitergeht, und trotz des interessanten Aufbaus hatte das Buch meiner Meinung nach ein paar Längen, genügend Spannung war für mich trotz mancher unerwarteten Wendung nicht immer vorhanden, manche Beschreibungen und Vorkommnisse fand ich im Vergleich zum Vorgängerband auch einfach ein bisschen banal und nicht so mitreißend.

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (♥)

Das Buch enthält sehr viele starke, interessante Frauenfiguren, was mir sehr gut gefallen hat. Die bisexuelle Protagonistin selbst kümmert sich nicht um gesellschaftliche Erwartungen, ist gebildet und eine Feministin, die in der Ehe eine frauenfeindliche, veraltete Institution sieht, die für Frauen nur Nachteile hat. Ihr Partner Thales ist ein moderner, sensibler Mann, der eine gleichberechtigte Beziehung mit Ottila lebt, ebenfalls feministisch eingestellt ist und zum Beispiel auch sehr gerne kocht. Das Buch verstärkt keine schädlichen Gender-Stereotypen, sondern bricht mit ihnen, wenn zum Beispiel die Mutter mit der Tochter einen Angelausflug macht oder mit Mitte 50 ihre Liebe für Paintball entdeckt. Die zwei Stellen, an denen frauenfeindliche Ausdrücke verwendet werden (1x Miststück, 1x Schla+++), kann ich verzeihen, obwohl sie natürlich trotzdem angesprochen werden sollen. So ist dieses Buch, was diesen Aspekt betrifft, sicher nicht perfekt, aber durchaus nah dran.

„Erstens wäre ich als Rapunzel völlig fehlbesetzt, allein schon, weil mein Haar so kurz und splissig ist. Und selbst wenn ich üppige, kräftige blonde Locken hätte, würde ich sie abschneiden und mich selbst aus dem Fenster abseilen, vielen Dank. Ich brauche keinen Man, der mich rettet.“ E-Book, Position 1057

Mein Fazit

Mit ihrem ersten Roman hat Anneliese Mackintosh eine gelungene Geschichte vorgelegt, die sich nicht nur durch die außergewöhnliche, innovative Erzählweise (ganz viele Schnipsel setzen sich zu einer zusammenhängenden Geschichte zusammen) auszeichnet, sondern sich auch durch die humorvolle und gleichzeitig tiefgehende und sensible Behandlung ernster und trauriger Themen wie Trauer, Alkoholismus und psychische Krankheiten von der Masse abhebt. Der Schreibstil zeigt sich einfach und angenehm (dabei niemals lieblos) und hat mich einige Male schmunzeln, nachdenklich werden oder schlucken lassen. Die Protagonistin ist so schonungslos ehrlich, kompliziert und liebevoll ausgearbeitet, dass ich sie sofort ins Herz schließen musste und auch die Nebenfiguren und die Liebesgeschichte wirken sehr „echt“. Trotz dieser positiven Punkte bin ich ein bisschen enttäuscht vom Buch, weil ich weiß, die Autorin kann es noch viel besser. Manche Schilderungen empfand ich als etwas banal, es gab ein paar Längen und obwohl „Verdammt perfekt und furchtbar glücklich“ durchaus einige sehr gelungene Momente aufweist, so fehlt ihm die unverwechselbare Intensität des Vorgängerwerkes („So bin ich nicht“). Ich habe mir so viel von diesem Buch erhofft, wollte erneut emotional mitgerissen werden, Worte lesen, die sich anfühlen wie ein Schlag in die Magengrube, so in das Buch verwickelt werden, dass ich mich fast darin verliere. Doch auch wenn die Geschichte gut ist, so steht sie wie die kleine, weniger talentierte Schwester im Schatten des tatsächlich „verdammt perfekten“ Debüts, "So bin ich nicht".

Leseempfehlung: Fans des Debüts sollten sich diesen Roman natürlich trotzdem nicht entgehen lassen, alle anderen sollten dem Buch einfach eine Chance geben. Wer „So bin ich nicht“ übrigens noch nicht kennt – es sei euch hiermit wärmstens und überschwänglich ans Herz gelegt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Ausführung: 3,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3,5 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2-3 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Liebesgeschichte: 4 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3,5 nicht ganz zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 27.03.2024

Meh… Hat mich leider emotional nicht erreicht!

Die Kriegerin
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Zwei befreundete (Ex-)Soldatinnen kämpfen mit ihren Traumata.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Zwei befreundete (Ex-)Soldatinnen kämpfen mit ihren Traumata.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: keine Kapitel, Unterteilung durch Absätze

Inhaltswarnung: Gewalt, Blut, (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen (bis Vergewaltigung), Tötung eines Tieres (Hund), Feuer, Suizid, psychische Krankheiten, Depression, Trauma, posttraumatische Belastungsstörung, Sexismus, Misogynie, selbstverletzendes Verhalten, Alkohol

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- ruhige und langsame Geschichten
- reduzierter, eher distanzierter Schreibstil
- Leben als Soldatin
- Trauma / posttraumatische Belastungsstörung
- psychische Krankheiten / Suizid / Selbstverletzung
- sexualisierte Gewalt (Vergewaltigung) als zentrales Thema
- Spuren von magischem Realismus (Träume)

Lieblingszitate

"Die Soldatinnen hier im Feldlager warnen sich gegenseitig vor ihm. Anzeigen tut ihn niemand." Seite 128

"Denn natürlich kann in diesen Nächten etwas passieren, kann die Nähe, die beim Tanzen entsteht, ausgenutzt, kannst du gegen deinen Willen in eine Toilette gedrängt, können in dein Getränk K.-o.-Tropfen gemischt, kannst du fotografiert, berührt, gepackt, geküsst werden, ohne dass du selbst dabei ein Mitspracherecht hast." Seite 195

"Die Dunkelheit schlug hohe Wellen, füllte Lisbeths Lungen, zerdrückte ihre Brust, schmeckte nach Asche.“ Seite 13

Meine Rezension

Nachdem mich vor einigen Jahren das düstere, tiefgründige Debüt von Helene Bukowski („Milchzähne“) so begeistert hatte, wurde ich natürlich aufgrund des Titels und Klappentexts (beides klang sehr feministisch) sofort auf ihr neues Buch aufmerksam und wollte es lesen.

Doch konnte mich auch die „Kriegerin“ wieder emotional so abholen und mitreißen? Das muss ich leider verneinen, denn die Lektüre ließ mich seltsam unbefriedigt, ernüchtert und leicht enttäuscht zurück. Müsste ich die Leseerfahrung in einem Wort zusammenfassen, wäre das wohl: Meh!

Natürlich gab es ein paar Dinge, die mir auch dieses Mal wieder gut gefallen haben, z. B. die Grundidee und die Wahl der Themen (das Leben als Soldatin, Sexismus, sexualisierte Gewalt, Trauma). Einzelne Szenen haben mir zugleich das Herz zerrissen und mich unglaublich wütend gemacht! Die Schauplätze fand ich gut gewählt und erfrischend (Kreuzfahrtschiff, Bungalow am Meer, Militäreinsätze in anderen Ländern) und ich mochte die teils kafkaeske Grundstimmung, die Spuren des magischen Realismus (große Bedeutung von Träumen) und manch interessante Wendung oder Nebenfigur.

Aus feministischer Sicht gibt es ebenfalls nicht viel auszusetzen, weil der Roman so frauenzentriert ist und Alltagssexismus in einer männerdominierten Branche und die Folgen von sexualisierter Gewalt in den Fokus rückt. Als positiv habe ich auch empfunden, dass LGBT-Aspekte eingeflochten wurden und dass der Freund der Hauptfigur als alleinerziehender Vater ganz und gar nicht toxisch ist. Ein Pünktchen Abzug gibt es für das eine oder andere Klischee. Wer gerne Bücher und ihre Symbolik analysiert, ist hier übrigens an der richtigen Adresse – die „Kriegerin“ gibt das (mit ihren rosaroten Vögen, ungewöhnlichen Träumen und großen Steinen) auf jeden Fall her!

Das klingt doch alles ganz positiv, oder? Warum dann trotzdem nur 3 Sterne? Nun, leider vermochte es das Buch nicht, mich nachhaltig zu berühren und zu fesseln. Die Thematik, von der ich aufgrund des Klappentexts dachte, sie wäre das Kernthema (sexuelle Gewalt), nimmt tatächlich nur wenig Raum in der Geschichte ein. Der Schreibstil war dafür auch zu reduziert und oberflächlich, lieferte zu wenige Details, blieb in Bezug auf die Figuren zu distanziert. Es ist sehr schwer, mit den Charakteren mitzufühlen, wenn man als Leser:in nicht an sie herangelassen wird (und diesen Eindruck hatte ich). Ich konnte zum Beispiel das egoistische Verhalten der Protagonistin sehr oft nicht nachvollziehen (warum verlässt sie einfach so ihre Familie und Tochter, ohne sich zu melden, warum tötet sie aus Rache einen unschuldigen Hund?) und hatte auch am Ende des Buches das Gefühl, sie eigentlich überhaupt nicht zu kennen. Wer an einem unschuldigen Wesen seine Rachegefühle auslässt, ist zudem bei mir sowieso „unten durch“ – EGAL wie traumatisiert die Person ist, das ist für mich keine Entschuldigung oder Ausrede!

Außerdem fehlten mir Spannung, Tempo und Handlung (man hat teilweise überhaupt keine Ahnung, worauf die Geschichte hinauswill) – ich fand sie besonders im Mittelteil zäh bis langweilig. Mit seinen 250 Seiten war der Roman trotzdem (beim immerhin dritten Versuch) ganz gut zu schaffen – ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich nicht durchgehalten hätte, wenn er 400 Seiten gehabt hätte. Jetzt beim Schreiben der Rezension – nur knappe zwei Wochen nach Beendigung des Buches – fällt mir leider auf, dass ich schon wieder viel vergessen habe. Die Geschichte wird mir wohl nicht lange im Gedächtnis bleiben, sie hat einfach keinen bleibenden Eindruck hinterlassen…

Mein Fazit

„Die Kriegerin“ ist ein Roman, den ich mit hohen Erwartungen begonnen, jedoch leider ernüchtert und etwas enttäuscht beendet habe. Das lag hauptsächlich daran, dass mich das Buch emotional einfach nicht erreichen und auch nicht fesseln konnte. Für große Fans sehr ruhiger, reduzierter Geschichten könnte es vielleicht etwas sein, alle anderen sollten lieber zu Helene Bukowskis Debüt greifen („Milchzähne“), das fand ich nämlich echt großartig!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 5 Sterne ♥
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Umsetzung: 3 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonistin: 2 Sterne
Figuren: 3,5 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Pacing/Tempo: 2 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 4 Sterne
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

☆★☆ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir drei Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.03.2024

Als Einstieg in das Thema perfekt, Fortgeschrittenen bietet das Buch kaum Neues

Es kann nur eine geben
0

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Kapitellänge: kurz bis mittel

Lieblingszitate

„Der weibliche Körper ist immer und überall zum Abschuss freigegeben. Jeder darf ihn immer und überall kommentieren ...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Kapitellänge: kurz bis mittel

Lieblingszitate

„Der weibliche Körper ist immer und überall zum Abschuss freigegeben. Jeder darf ihn immer und überall kommentieren und Optimierungsvorschläge einreichen.“ E-Book, Position 1168

„Warum ist es denn bitte so vermessen, dass ich alles will vom Leben? […] Ich will Karriere UND Kinder UND zudem ‘ne gerechte Bezahlung UND faire Rente. Ja, eat this.“ E-Book, Position 1516

„[…] weil ich schon mit so vielen Frauen gesprochen habe, die in einer ähnlichen Situation waren. Dass jemand sie kleingehalten hat. Sei es der Chef, der Geschäftspartner oder, nicht selten, der Lebenspartner.“ E-Book, Position 2363

„Aber lasst uns auf jeden Fall dranbleiben. Wir sind auf einem guten Weg. Versprochen.“ E-Book, Position 4067

Meine Rezension

Als Feministin war mir Carolin Kebekus natürlich immer schon sympathisch. Sie ist witzig, traut sich was und nutzt ihre Bühne dafür, Bewusstsein für Ungerechtigkeiten zu schaffen. Deshalb war mir sofort klar, dass ich ihr feministisches Sachbuch lesen würde. Ich erhoffe mir davon neue Erkenntnisse und eine Auffrischung meines Wissens.

Nun wollt ihr sicher wissen, ob ich das Buch uneingeschränkt weiterempfehlen kann… Meine Antwort darauf ist: Kommt drauf an! Wer frisch ins Thema einsteigt bzw. sich noch nie näher damit beschäftigt hat (und auch auf Social Media keinen feministischen Accounts folgt), der:dem bietet dieses Werk eine schöne, locker-leicht präsentierte, breit gefächerte Einführung. Viele verschiedene Aspekte werden angerissen, sodass für jeden Geschmack und alle Interessen etwas dabei sein sollte, und am Ende hat mensch das Grundproblem (Patriarchat, Ungerechtigkeiten, Notwendigkeit des Feminismus, Rivalität unter Frauen als etwas Schädliches, mögliche Lösungsansätze) sicher verstanden und ist sicher deutlich informierter – und wütender – als vorher.

Wer Kebekus‘ Humor bei ihren Bühnenshows mochte, wird ihren einfachen, oft ironischen, sarkastischen, etwas flapsigen, mit Anglizismen gespickten Schreibststil auch hier zu schätzen wissen. Besonders gut gefallen hat mir übrigens das Gaming-Kapitel. Mir war ja vorher schon klar, dass Carolin eine echt coole Frau ist – aber nicht, dass sie SO cool ist. Ich fand es erfrischend und toll, wie unapologetisch sie von ihren Lieblingsgames schwärmt (wir haben die gleichen, nämlich „The Last of Us – Part 2“ und „Horizon Zero Dawn“ ♥) und dass sie ebenso als Kunst ansieht wie ich! Als begeisterte GamerIN, die sich immer wieder für ihr Hobby rechtfertigen muss, habe ich mich da echt gesehen und verstanden gefühlt.

Wer sich allerdings schon relativ tief in die Materie eingelesen und dazu noch feministischen Accounts auf Instagram und anderen sozialen Medien folgt, dem:der bietet das Buch kaum Neues (außer vielleicht beim Thema „Religion/Bibel/Kirche“, das ich jetzt NOCH negativer wahrnehme). Es wird zwar eine Fülle an verschiedenen Problemen angesprochen (von der Frau in der Bibel/im TV/in der Kirche/im Märchen über Rivalität unter Frauen und Bodyshaming bis hin zum Gender Gap und zu Abtreibung), dabei bleibt das Werk aber extrem oberflächlich und legt den Fokus eher auf Biographisches und Anekdoten, statt auf Informationsdichte. Dazu enthält „Es kann nur eine geben“ (großartiger Titel übrigens!) nur wenige Studien und seriöse Quellen (fast nur zusammenfassende Zeitungsartikel und Wikipedia, statt wissenschaftlicher Bücher/Papers) – auch hier erwarte ich von einem Sachbuch mehr. Vielleicht bin ich auch einfach mit falschen Erwartungen an diese Veröffentlichung herangegangen. Kebekus‘ Humor, ihre sprachlichen Wiederholungen, ihr Abschweifen, das bei ihren Bühnenshows und im mündlichen Bereich sehr gut funktioniert, empfand ich im Schriftlichen hingegen stellenweise als anstrengend, unnötig und etwas nervig.

Ich habe beim Lesen übrigens immer wieder an „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez denken müssen (große Leseempfehlung an dieser Stelle! ♥) – aber nur, weil mir „Es kann nur eine geben“ wie das komplette Gegenteil davon vorkam (unwissenschaftlicher, weniger sachlich, weniger Informationsdichte, dafür flüssiger/angenehmer lesbar). Ich glaube, beide Bücher haben ihre Berechtigung, beide werden ihr Publikum finden und für beide bin ich dankbar, weil sie aufklären, sensibilisieren, Bewusstsein schaffen – es kommt eben darauf an, wonach man sucht. Gestolpert bin ich übrigens (das noch am Rande) hin und wieder über Bodyshaming/Fatshaming/generell Shaming DURCH Kebekus (z. B. wird Paris Hilton als dumm dargestellt, dicke Menschen indirekt als hässlich). Hier merkt man, dass sie sich selbst an manchen Stellen noch mehr reflektieren muss – und genau das würde ich mir auch von ihr wünschen. Perfekt sind wir allerdings alle nicht, wir lernen alle (im Optimalfall) jeden Tag dazu – also werfe ich hier sicher nicht den ersten Stein.

„Sie ist überhaupt nicht fett, sondern wunderschön. Okay, sie hatte zu dem Zeitpunkt damals
‘ne Glatze. Das hatte mich direkt etwas erleichtert.“ E-Book, Position 966

Mein Fazit

„Es kann nur eine gaben“ ist das perfekte Feminismus-Sachbuch für Einsteiger:innen und Fans von Carolin Kebekus, die sich einen ersten Überblick verschaffen möchten. Wer sich sich mit dem Thema allerdings schon etwas besser auskennt, dem bietet das Werk kaum Neues und nur wenig Tiefe – hier werden andere Lektüren sicher lohnenswerter sein. Von mir gibt es also nur eine bedingte Leseempfehlung!

Bewertung

Einstieg: 5 Sterne ♥
Inhalt: 4 Sterne
Feminismus: 5 Sterne ♥
Verständlichkeit: 5 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne

Insgesamt:

☆★☆★ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.02.2024

Gelungene Kombination aus unheilvoller, bedrohlicher Grundstimmung & Tiefgang

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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Hen und Junior leben ein beschauliches Leben auf einer abgelegenen Farm. Eines Tages bekommen sie allerdings unerwarteten Besuch. Ein Mann im Anzug erklärt den beiden, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Hen und Junior leben ein beschauliches Leben auf einer abgelegenen Farm. Eines Tages bekommen sie allerdings unerwarteten Besuch. Ein Mann im Anzug erklärt den beiden, dass Junior angeblich für eine mehrjährige Weltraummission ausgewählt wurde und schon bald seine Frau verlassen muss. Diese soll die Zeit aber nicht alleine verbringen müssen, denn es werde für Ersatz gesorgt…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz

Inhaltswarnung: Feuer, Gewalt, veraltete Rollenbilder
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): NICHT bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen:

- unheilvolle Grundstimmung
- schnörkellose Sprache
- Geschichten, die zum Nachdenken anregen
- wenig Handlung
- Slow-Burn-Geschichten
- Ehe/Beziehung/Alltag im Mittelpunkt
- Setting: abgelegene Farm, Landleben

Meine Rezension

“’But do any of us really have the freedom we think we have?’ she asks. […] Think about all the different forces and pressures that play a role in shaping what we do, how we act, how we dress, what we think. It’s hard, maybe impossible, not to be influenced by that.” Seite 192

Nach längerer Zeit (zum Glück: Jahren) hat mich im Jänner zum blödesten Zeitpunkt überhaupt (nämlich während 2 Buddyreads) wieder eine erwischt: eine böse Leseflaute – die Erzfeindin aller Bookstagrammer:innen. Weder das gehypte „Lied der Krähen“ noch das vielfach angepriesene „Fourth Wing“ konnten mich fesseln und aus dem Lese-Motivationsloch herausholen. Doch da sah ich in den Storys einer lieben Blog-Kollegin (@what.lilly.reads) ein Buch, das sofort mein Interesse weckte (nicht zuletzt, weil sie es schafft, einem eine Geschichte in nur wenigen Worten unglaublich schmackhaft zu machen, es ist eine Gabe!). Schließlich hatte mich „The Ending“ von Iain Reid schon damals aus meiner letzten Leseflaute geholt…

Ist das auch „Foe“ wieder gelungen? Jein, es hat mich zwar nicht nachhaltig von meiner Leseflaute befreit (sie dauert leider noch immer an), aber irgendwie hat es der Autor doch wieder geschafft, dass ich zumindest SEIN Buch innerhalb weniger Tage beendet habe. Das lag sicher auch an der einfachen, schnörkellosen, ja, fast schon reduzierten Sprache, die sehr gut zur Geschichte passt und eine:n auch auf Englisch nur so durch die Seiten fliegen lässt. Das war übrigens auch Iain Reids Ziel: Er wollte nach eigenen Angaben ein Buch schreiben, das mensch – wenn er:sie möchte – an einem einzigen Abend durchlesen kann. Eine Sache hat auch dieser Sci-Fi-Thriller (mit Horrorelementen) wieder geschafft: Er hat mich zum Nachdenken und ins Grübeln gebracht. Und zwar so intensiv, dass ich nach der Lektüre sofort andere Rezensionen und Theorien lesen musste, weil ich das Buch noch besser verstehen wollte. Das passiert mir selten und zeigt, dass es mich nicht kaltgelassen hat! Deshalb erhöhe ich meine Wertung im Nachhinein (= mit etwas Abstand zur Lektüre) nun von 3,5 auf 4 Sterne.

„Change is one of the only certainties in life. Human beings progress. We have to. We evolve. Wie move. We expand. What seems far-fetched and extreme becomes normal and then outdated pretty quickly.” Seite 14

Auch die Grundidee fand ich wieder sehr interessant, auch dieses Mal zahlt es sich aus, als Leser:in auf Details zu achten (zum Beispiel auf die Anführungszeichen), dann wird mensch nämlich am Ende belohnt. Worum es genau geht, werde ich hier nicht verraten, weil „Foe“ genau von dieser Ungewissheit, diesen Leerstellen, diesen vielen Fragen lebt, aber ich kann zumindest erwähnen, dass auch dieses Mal wieder diese für den Autor typische unheilvolle, beklemmende Stimmung das Buch durchzieht – wenn auch weniger intensiv als bei „The Ending“. Wer das also mag, ist hier definitiv an der richtigen Adresse! Die Figurenzeichnung hat mir ebenfalls wieder gefallen, erneut wirkten für mich die Charaktere sehr „echt“, auch wenn sie eine:n eigentlich nicht besonders nah an sich heranlassen.

“Habitual, comfortable activity is the worst kind of prison, because the bars are concealed.” Seite 39

Eine feministische Analyse lässt mich hier hingegen sehr zwiegespalten zurück: Einerseits besteht das Buch den Bechdel-Test leider NICHT und folgen Hen und Junior einer sehr klischeehaften Rollenverteilung (sie arbeitet im Haus, putzt und kocht, er repariert und erledigt körperlich anstrengende Arbeiten im Freien), andererseits wird diese zwischen den Zeilen durchaus auch in Frage gestellt bzw. kritisiert bzw. als negativ und einengend dargestellt. Außerdem lebt Hen als Ehefrau eine sehr selbstbestimmte, aktive Sexualität, was mir ebenfalls gefallen hat.

“There’s no way we could function if we didn’t forget the vast majority of new information we acquire throughout the day. In other words, Junior, we sleep so we can forget.” Seite 128

Punkteabzug gibt es von mir hingegen für die inhaltlichen Wiederholungen und Spannungseinbrüche im Mittelteil, wo die Geschichte längere Zeit auf der Stelle tritt und nicht vom Fleck kommt. Über das Zukunftssetting und die Weltraummission hätte ich jedoch gerne noch mehr erfahren (= Worldbuilding). Wichtig zu wissen ist, dass auch „Foe“ generell wieder eine eher handlungsarme Geschichte ist: Viele Gespräche (= Dialoge), der Alltag auf einer Farm (ein wiederkehrendes Motiv in Iain Reids Büchern, vermutlich weil er selbst auf einer aufgewachsen ist) und die Beziehung von Hen und Junior stehen im Mittelpunkt. Wer also viel Action, atemlose Spannung und Drama erwartet, sollte definitiv nicht zu diesem Werk greifen! Auch „Foe“ stellt wieder ein paar tiefgründige und philosophische Fragen, ist insgesamt jedoch deutlich oberflächlicher als das großartige „The Ending“. Das Ende fand ich zudem weniger überraschend, es hat mich nicht so eiskalt getroffen, weswegen es etwas hinter meinen Erwartungen zurückblieb.

Mein Fazit

Obwohl „Foe“ nicht ganz mit „The Ending“, einem meiner absoluten Lieblingsthriller, mithalten kann (nicht so düster, nicht so tiefgründig, nicht so spannend), war es dennoch das richtige Buch zur richtigen Zeit, weil es mich trotz meiner Leseflaute zum Nachdenken gebracht, gefesselt und mich motiviert hat, es in wenigen Tagen durchzulesen. Das ist eine beachtliche Leistung! Fans von Iain Reid können hier meiner Meinung nach bedenkenlos zugreifen (auch für mich wird es nicht das letzte Buch des Autors bleiben), alle anderen sollten lieber mit dem genialen „The Ending“ beginnen, denn das wird euch garantiert überzeugen!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 4 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne ♥
Umsetzung: 3,75 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonist: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Pacing/Tempo: 2 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: 3 Sterne
Einzigartigkeit: 5 Sterne ♥

Insgesamt:

☆★☆★ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier Sterne!

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