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Veröffentlicht am 03.05.2020

2,5*: Alice im Land der sexualisierten Gewalt – für mich trotz guter Ansätze leider eine Enttäuschung!

Die Chroniken von Alice - Finsternis im Wunderland
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Autorin erzählt „Alice im Wunderland“ neu – modern, düster, verstörend. Am Beginn der Geschichte ist Alice in einer Psychiatrie gefangen, weil alle glauben, dass ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Autorin erzählt „Alice im Wunderland“ neu – modern, düster, verstörend. Am Beginn der Geschichte ist Alice in einer Psychiatrie gefangen, weil alle glauben, dass sie durch ein erlittenes Trauma verrückt geworden ist. Sie selbst kann sich leider an nichts erinnern. Ihr einziger Trost ist ihr Zimmernachbar, mit dem sie sich durch ein Mauseloch unterhält: Hatcher, ein gefährlicher Axt-Mörder. Als ein Feuer im Krankenhaus ausbricht, gelingt den beiden die Flucht. Doch sie sind nicht die Einzigen, die aus dem Gebäude entkommen können. Etwas Großes, unvorstellbar Böses ist nun ebenfalls auf freiem Fuß - und nur Hatcher und Alice können es aufhalten.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 der Reihe um Alice; die Fortsetzung wird im August 2020 erscheinen
Erzählweise: auktorialer Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: - Im Buch werden Tiere verletzt, gequält und getötet (Ratte, Kaninchen, Tierkämpfe).
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt (u. a. Vergewaltigung), exzessive Gewalt, Blut, Zwangsprostitution, Menschenhandel, Feuer, Tierquälerei

Warum dieses Buch?

Da ich sowohl die Geschichte um Alice als auch düstere Bücher liebe, war ich hellauf begeistert, als ich den Klappentext gelesen habe. Der Hype um das Buch und die positiven Rezensionen haben mich dann noch neugieriger gemacht.

Meine Meinung

Einstieg (5 Sterne ♥)

„Als man sie gefunden hatte, hatte sie nichts anderes gesagt als: ‚Das Kaninchen. Das Kaninchen. Das Kaninchen.‘ Wieder und wieder. […] Und jedes Mal wurde sie für verrückt erklärt.“ E-Book, Position 41

Der Einstieg fiel mir trotz des gewöhnungsbedürftigen Schreibstils leicht. Schon nach wenigen Seiten war ich in die Geschichte eingetaucht.

Schreibstil (3 Lilien)

Ich weiß nicht genau, was es ist, aber Christina Henrys Schreibstil hat irgendetwas an sich, das mir Schwierigkeiten bereitet. Ich fand irgendwie keinen richtigen Zugang zu ihrer Sprache. Einerseits gefällt es mir, wie atmosphärisch, filmisch und bildlich sie in manchen Momenten schreibt, andererseits waren ihre Formulierungen oft auch sehr holprig für mich zu lesen. Ihre Sätze enden und beginnen an seltsamen Stellen, und manches musste ich mir bewusst vorstellen, weil ich nicht automatisch ein Bild im Kopf hatte. Durch den eher distanzierten Schreibstil hatte ich auch das Gefühl, dass ich nicht so richtig an die Figuren herankam. All das führte dazu, dass streckenweise leider kein richtiger Lesefluss entstehen wollte.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (2,5 Lilien)

„‘Warum bist du hier?‘, fragte sie ihn eines Tages […].
‚Ich habe eine ganze Menge Leute mit einer Axt umgebracht.‘, sagte er.“ E-Book, Position 108

Dieses Buch klang, als wäre es perfekt für mich und als hätte es vielleicht sogar Lieblingsbuch-Potential. Ich bin mit sehr hohen Erwartungen herangegangen, auf die mit jeder gelesenen Seite mehr Ernüchterung und Enttäuschung folgten. Zuerst einmal ist es wichtig zu wissen, dass Christina Henry eigentlich nicht die Geschichte von Alice im Wunderland neu erzählt, sondern dass ihre Handlung danach – nach dem Trauma, das sie dort erlitten hat – angesiedelt ist. Alice versucht ihre Erinnerungen zurückzubekommen und herauszufinden, was damals geschehen ist. Dadurch entfernt sich die Neuerzählung auch sehr weit von der Quelle. Nur einzelne Elemente und Figuren aus Lewis Carrolls Kinderbuch tauchen auf. Diese Momente haben mir auch am besten gefallen.

Meiner Meinung nach beginnt das Buch wirklich stark! Alice‘ Aufenthalt in der schrecklichen Psychiatrie ist geprägt von Medikamenten, Langeweile, Einsamkeit, Vernachlässigung und körperlichen Misshandlungen und die Atmosphäre ist trist und düster. Alice‘ seltsame Freundschaft mit dem unberechenbaren Hatcher löst Faszination aus. Ab der Flucht aus dem Krankenhaus ging es allerdings langsam, aber stetig bergab. Etwa in der Mitte des Buches ist noch fast nichts passiert und man wartet, dass es endlich losgeht – was aber nie passiert. Die gleichförmige Handlung ließe sich am besten so zusammenfassen: Sie gehen von A nach B – Gemetzel. Sie gehen von B nach C – Gemetzel. So geht es bis zum Schluss weiter, der leider unerwartet lahm und enttäuschend ist. Nach der langen Reise hätten wir einen großen, dramatischen Showdown verdient? Tja, Pustekuchen!

Nun möchte ich noch auf das „Wunderland“ in diesem Buch eingehen. Es wirkt eigentlich (bis auf die Häuser der verschiedenen Bösewichte) wie ein ganz normales Armutsviertel (Gestank, Krankheiten, Menschen, die sich irgendwie durchkämpfen) mit der einen oder anderen übernatürlichen Figur darin. Ich hätte mir eine magischere und faszinierendere Welt erhofft – und mehr Tiefe beim Worldbuilding. Auch „düster“ habe ich mir ganz anders vorgestellt. Ich schaue gerne Horrorfilme und halte – was blutige Schilderungen angeht – einiges aus. Auf dieses Buch, das laut Verlag „nichts für schwache Nerven“ ist, fühlte ich mich also bestens vorbereitet. Tatsächlich war beim Lesen auch nicht die ausufernde Gewalt, das Töten und Morden, das Problem.

Mit einer Sache hatte ich nämlich nicht gerechnet: Für Christina Henry bedeutet „düster und verstörend“ anscheinend, so viel sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Frauen in die Welt zu stopfen, wie irgendwie reinpasst. An jeder Ecke warten Vergewaltiger auf ihr nächstes Opfer, werden junge Frauen gestohlen, wie Waren behandelt, misshandelt, gefoltert, gequält und in die Prostitution gezwungen. Für Alice gleicht die Reise in dieser Welt einem Spießrutenlauf, weswegen sie sich auch als Junge verkleiden muss. Ich hätte ja nichts gesagt, wenn einer (!) der Bösewichte Mädchen zur Prostitution zwingt, aber fast alle diese Leute sind Mädchenhändler und quälen Frauen. Das ist einfach zu viel!

In einer anderen Rezension wurde das Buch aufgrund seiner brutalen, fast immer sexuell motivierten Gewalt gegen Frauen / Mädchen sogar als misogyn bezeichnet. Es wurde geschrieben, dass Christina Henry Glück hat, dass sie eine Frau ist. Dem muss ich leider zustimmen. Wie groß wäre wohl der Aufschrei gewesen, wenn diese Geschichte ein Mann geschrieben hätte? Man würde ihm vorwerfen, frauenfeindlich zu sein und seine fragwürdigen Fantasien in diesem Buch auszuleben. Ich bin nicht prinzipiell dagegen, dass schwierige Themen wie sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung und deren Folgen in Büchern behandelt werden. Allerdings wird hier nicht angemessen auf das Thema eingegangen, sondern es wird als billiges Mittel genutzt, um eine möglichst gefährliche und angeblich düstere Welt zu kreieren. Ich sehe Christina Henrys Version des Wunderlandes jedenfalls als höchst problematisch an und bin sehr enttäuscht davon. Das Buch bräuchte dringend (auch aufgrund der ausufernden Gewalt und der moralisch fragwürdigen Einstellungen von Hatcher) eine Triggerwarnung und einen Hinweis, dass es erst ab 18 Jahren gelesen werden sollte, denn das Cover könnte auch jüngere LeserInnen ansprechen!

Trotz meiner Kritik gibt es in der Geschichte viele gute Ansätze: „Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“ hat durchaus seine starken, düsteren, albtraumhaften, gelungenen und magischen Momente, die mich packen, faszinieren und begeistern konnten. Insgesamt gab es aber leider zu viel, das mich gestört hat. In der Fortsetzung, die wohl an einem anderen Ort spielen wird und in der zwei Königinnen im Mittelpunkt stehen werden, könnte es möglicherweise weniger sexualisierte Gewalt geben. Ob ich sie oder eines der nächsten (durchaus sehr interessant klingenden!) Bücher der Autorin lesen werde, weiß ich noch nicht.

Protagonistin (3 Lilien ) & Figuren (3 Lilien)

Alice war mir von Beginn an sympathisch – ich habe sie gerne begleitet. Aufgrund des Schreibstils war da aber leider immer eine gewisse Distanz, wodurch ich nicht so intensiv mit ihr mitfühlen und mitleiden konnte, wie ich mir das gewünscht hätte. Auch etwas mehr Tiefe hätte ihr gutgetan, auch wenn sie immerhin bis zum Ende eine spürbare Entwicklung durchmacht. Noch ein Problem hatte ich mit Alice: Immer wieder muss sie gerettet und gestützt werden, sie ist schwach, gibt oft nach und wirkt in manchen Momenten wie die berühmte „Jungfrau in Nöten“. Auch wenn es gegen Ende besser wird, hätte ich mir eine stärkere Heldin gewünscht.

Bezüglich der anderen Figuren habe ich gemischte Gefühle. Einige sind ganz gut gelungen und wirkten auf mich authentisch und dreidimensional (z. B. Nell), andere blieben sehr blass. Da Alice und Hatcher immer wieder weiterziehen, haben die meisten Charaktere nur ganz kleine Rollen, wodurch es schwierig wird, ihnen Tiefe zu verleihen. Schade fand ich, dass alle mächtigen Nebenfiguren und Bösewichte männlich waren. Und jetzt sagt mir bitte nicht, dass sie doch im Original auch männlich waren! Wir leben in einer anderen Zeit und in dieser Neuerzählung wurde so vieles geändert, da sollte es nicht am Geschlecht der Bösewichte scheitern.

Spannung & Atmosphäre (3 Lilien)

„[…] Feuer schoss unvorstellbar hoch in den Himmel hinauf […]. Es füllte den gesamten Himmel aus wie die ausgebreiteten Schwingen eines Drachen.“ E-Book, Position 358

Was Spannung und Atmosphäre betrifft, so hatte das Buch sowohl seine starken als auch seine schwachen Momente (siehe Unterpunkt „Inhalt“). Das Potential der Idee konnte trotz guter Ansätze leider nicht immer genutzt werden, was schade ist.

Feministischer Blickwinkel (2 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++, Miststück, Schwa++lu++++++

Zu diesem Thema habe ich dieses Mal ja schon alles beim Unterpunkt „Inhalt“ gesagt. Mehr als zwei Sterne (einer für das Bestehen des Bechdel-Tests, einer für Alice‘ Entwicklung am Schluss) kann ich hier nicht vergeben. Ich hoffe, im nächsten Buch macht die Autorin einiges anders und besser!

Mein Fazit

Christina Henrys Neuerzählung von „Alice im Wunderland“ hat mich leider enttäuscht. Das große Potential der Idee konnte nicht genutzt werden. Trotz meiner Kritik hat „Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“ durchaus seine starken, düsteren, albtraumhaften, gelungenen und magischen Momente, die mich packen, faszinieren und begeistern konnten. Der Schreibstil ist in manchen Momenten atmosphärisch und bildlich, aber gleichzeitig auch holprig und distanziert. Die Protagonistin ist sympathisch, aber oft auch schwach, wenig zugänglich und ihr fehlt Tiefe. Manche der anderen Figuren sind gut gelungen und dreidimensional, andere bleiben sehr blass. Die Neuerzählung, die sich weit von ihrer Quelle entfernt, wird leider nach einem starken Beginn immer schwächer, bis sie in einen lahmen, enttäuschenden Showdown mündet. Ich hätte mir eine magischere, faszinierendere Welt mit mehr Tiefe erhofft. Sehr problematisch ist, dass das Wunderland voller brutaler, meist sexualisierter Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist. Hier wird nicht angemessen auf das schwierige Thema eingegangen, sondern es wird als billiges Mittel genutzt, um eine möglichst gefährliche Welt zu kreieren. Das Buch bräuchte dringend eine Triggerwarnung und einen Hinweis, dass es erst ab 18 Jahren gelesen werden sollte. Ich kann dieses Mal leider keine Leseempfehlung aussprechen.

In der Fortsetzung, die wohl an einem anderen Ort spielen wird und in der zwei Königinnen im Mittelpunkt stehen werden, wird es hoffentlich weniger sexualisierte Gewalt geben. Ob ich sie oder eines der nächsten (durchaus sehr interessant klingenden!) Bücher der Autorin lesen werde, weiß ich aber noch nicht.

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 2,5 Lilien
Umsetzung: 2,5 Lilien
Worldbuilding: 3 Lilien
Einstieg: 5 Lilien ♥
Ende / Auflösung: 2 Lilien
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonistin: 3 Lilien
Figuren: 3 Lilien
Spannung: 3 Lilien
Atmosphäre: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 2,5 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 2 Lilien

Insgesamt:

❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir zweieinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.04.2020

Spannender, kurzweiliger Thriller mit Mystery-Elementen und atmosphärischem Setting – perfekt für zwischendurch!

Heimgesucht
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Lucas Radcliffe ist Anfang 40 und hat einen Horror-Bestseller geschrieben. Nun steht er unter Druck, einen ebenso erfolgreichen Nachfolger nachzulegen. Um intensiv und ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Lucas Radcliffe ist Anfang 40 und hat einen Horror-Bestseller geschrieben. Nun steht er unter Druck, einen ebenso erfolgreichen Nachfolger nachzulegen. Um intensiv und ohne Störungen an seinem neuen Buch arbeiten zu können, mietet er sich in einem abgelegenen Hotel für Schriftsteller in Wales ein. Irgendwann erfährt er, dass der Ehemann der Hausbesitzerin vor zwei Jahren im nahen Fluss ertrunken ist, als er die gemeinsame Tochter retten wollte. Die Leiche des Mädchens wurde allerdings nie gefunden. Im Haus passieren zunehmend rätselhafte und unheimliche Dinge. Lucas will Julia helfen und beginnt, gefährliche Nachforschungen anzustellen...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche und weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: Es werden einige bereits tote Tiere beschrieben und einmal wird davon gesprochen, dass ein Mann früher Katzen getötet hat, ansonsten werden im Buch keine Tiere verletzt, gequält oder getötet. Von einer Figur wird eine Katze allein gehalten, allerdings darf diese wenigstens in Freie, weswegen es nicht ganz so schlimm ist. Prinzipiell und besonders für Wohnungskatzen gilt aber: Katzen sind alleine niemals glücklich (sie sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.
Triggerwarnung: Tod von Menschen und Tieren, Alkoholismus, Missbrauch wird angedeutet, Gewalt, Drogenkonsum

Warum dieses Buch?

Der Klappentext hat mich (in Verbindung mit den positiven Rezensionen) so neugierig gemacht, dass ich dieses Buch unbedingt lesen musste!

Meine Meinung

Einstieg (4 Sterne)

„‘Kennst du das nicht? Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, aber wenn du dich umdrehst, ist das niemand?`“ E-Book, Position 761

Am Beginn wirkte es kurz, als würde der Einstieg schwierig werden, aber das täuschte! Es dauerte nicht lange, bis ich in der Geschichte angekommen war und das Buch kaum mehr aus der Hand legen konnte.

Schreibstil (4 Lilien)

„Etwas versteckt hinter dem Haus stand ein kleines Cottage, das wie ein schüchternes Kind hinter dem Rockzipfel seiner Mutter hervorschaute.“ E-Book, Position 111

Ich mag den schlanken Schreibstil von Mark Edwards, der niemals weitschweifig ist, denn hier wird auf Nebensächliches und Überflüssiges gänzlich verzichtet! Der Autor schreibt anschaulich und unheimlich flüssig und angenehm lesbar. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen! Für einen Thriller ist seine Sprache also perfekt geeignet. Trotzdem hätte ich mir manchmal etwas mehr Tiefe (zum Beispiel bei den Beschreibungen der Landschaft, der Figuren und ihrer Gefühle) und kreativere Satzanfänge (für meinen Geschmack beginnen die Sätze zu oft mit „ich“) gewünscht.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (4 Lilien)

„‘Ich habe sie mal gesehen‘, sagte er.
Jetzt wurden die Mädchen neugierig.
‚Hast du nicht‘, widersprach Megan.“ E-Book, Position 2818

Trotz des überzeugenden Klappentextss und der positiven Rezensionen waren meine Erwartungen an das Buch eher niedrig, weil es bei uns noch recht unbekannt zu sein scheint. Vielleicht konnte mich „Heimgesucht“ gerade deshalb so positiv überraschen und mitreißen. Tiefgründige, lebensverändernde philosophische Reflexionen sollte man nicht erwarten, aber wenn ihr der Realität für einige Stunden entfliehen möchtet, dann ist dieses Buch perfekt für euch. Es entwickelt einen richtigen Sog und bietet kurzweilige Unterhaltung für zwischendurch.

Thematisch steht nicht nur die gefährliche Suche nach der Wahrheit im Mittelpunkt, sondern auch Trauer, Familie, Liebe, Selbstzweifel, Bücher und das Leben als Autor (inklusive leidenschaftlichem Prokrastinieren!). Auch alte Legenden (wie die Geschichte von der roten Witwe) und die Macht des Aberglaubens sind ganz zentral. Lange weiß man nicht, ob der Thriller übernatürliche Elemente enthält oder ob es für die seltsamen Vorkommnisse im Haus (singende Stimmen, Türen, die sich nachts öffnen) eine rationale Erklärung gibt, was mir sehr gut gefallen hat. Das Miträtseln hat mir nämlich großen Spaß gemacht. Eine kleine Liebesgeschichte gibt es auch – die fand ich zwar ok, aber mir hätte eine Freundschaft hier eigentlich besser gefallen.

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen und aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt, wobei sich der Schreibstil spürbar der Sichtweise anpasst. Der Autor überrascht seine LeserInnen mit einigen unerwarteten und kreativen Twists, danach führt er die Geschichte zu einem gelungenen Ende, das mich das Buch mit einer Gänsehaut zuschlagen ließ. Übrigens scheint der Autor auf Facebook und Instagram sehr aktiv zu sein. Seine Figuren hat er interessanterweise nach Fans und LeserInnen benannt, was ich wirklich cool finde.

ProtagonistInnen (4,5 Lilien ) & Figuren (3,5 Lilien)

Das Protagonistenpaar, das aus dem Schriftsteller Lucas und Lily, der verschwundenen Tochter von Julia besteht, hat mir sehr gut gefallen. Beide wirkten auf mich sympathisch, greifbar, lebendig und dreidimensional und ich habe mit ihnen mitgefühlt und mitgefiebert. Lucas habe ich zudem sehr gerne bei seinen gefährlichen Nachforschungen begleitet.

Das Problem „mangelnde Tiefe“ zieht sich allerdings leider durch alle Aspekte des Buches. Auch mit den anderen Figuren bin ich zwar insgesamt zufrieden, da sie gut gelungen und interessant sind, gleichzeitig war aber auch hier noch Luft nach oben. Es hätte den Charakteren sicher gut getan, wenn der Autor noch etwas mehr Zeit und Liebe in ihre Ausarbeitung investiert hätte, anstatt sich hauptsächlich auf die Handlung zu konzentrieren. Etwas mehr Tiefe hätte sie noch dreidimensionaler und das Buch noch besser gemacht.

Spannung & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

„Von draußen kroch die Dunkelheit in die Fenster.“ E-Book, Position 159

Die größte Stärke des Thrillers sind mit Sicherheit die durchgehende, teilweise atemlose Spannung – wodurch das Buch zum Pageturner wird! – und die dichte, unheimliche Atmosphäre. Das vage Gefühl, dass etwas nicht mit diesem Haus stimmt, die kleinen Cliffhanger am Ende der Kapitel und die unerwarteten, großartigen Twists haben mich Seite um Seite umblättern lassen und mich auf ganzer Linie überzeugt. Großartig fand ich auch das Setting (abgelegenes Haus in Waldnähe, regnerisches Wetter), das der Autor eindrucksvoll zu nutzen weiß, um uns eine Gänsehaut zu bescheren. Meine Empfehlung: Lest das Buch am besten an regnerischen Tagen und wenn es draußen schon dunkel ist – erst dann entfaltet dieser Thriller sein volles Gruselpotential!

Feministischer Blickwinkel (4,5 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++, Miststück, Schwa++lu++++++

Einer feministischen Analyse hält dieser Thriller (überraschenderweise, denn ich habe aus irgendeinem Grund ein eher konservatives Buch erwartet) problemlos stand. Er besteht den Bechdel-Test, überzeugt mit vielen starken, intelligenten, selbstbewussten und eigenwilligen weiblichen Figuren, kritisiert Chauvinismus und ist frei von Slut Shaming und großteils auch von Geschlechterstereotypen. Ganz „gechillt“ wird auch über Tampons gesprochen, ohne dass es unserem männlichen Protagonisten plötzlich ganz unangenehm wird, was ich echt erfrischend fand! Getrübt hat die Idylle nur, dass meistens die Mütter beim Kochen oder der Kinderbetreuung gezeigt wurden und dass das Buch leider doch nicht ganz ohne frauenfeindliche Beleidigungen auskommt. Insgesamt hat der Autor aber in „Heimgesucht“ hat der Autor (besonders in Bezug auf das Frauenbild) ziemlich viel richtig gemacht, weswegen ich bestimmt noch mehr von ihm lesen werde!

Mein Fazit

„Heimgesucht“ ist ein Thriller, der mich positiv überraschen konnte. Er entwickelt einen richtigen Sog, sodass ich ihn kaum mehr aus der Hand legen konnte. Thematisch steht nicht nur die gefährliche Suche nach der Wahrheit im Mittelpunkt, sondern auch Trauer, Selbstzweifel und das Leben als Autor. Auch alte Legenden und die Macht des Aberglaubens sind ganz zentral. Lange weiß man nicht, ob der Thriller übernatürliche Elemente enthält oder ob es für die seltsamen Vorkommnisse im Haus (singende Stimmen, Türen, die sich nachts öffnen) eine rationale Erklärung gibt. Das Miträtseln hat mir hier großen Spaß gemacht. Einer feministischen Analyse hält dieser Thriller auch problemlos stand, was unter anderem an den vielen starken, intelligenten, selbstbewussten und eigenwilligen weiblichen Figuren liegt. Vieles an diesem Thriller hat mir sehr gut gefallen: der unheimlich flüssige und angenehme Schreibstil, der wendungsreiche Plot, die sympathischen, dreidimensionalen Protagonist_innen und die interessanten, gelungenen Nebenfiguren. Bei all diesen Aspekten hätte ich mir allerdings mehr Tiefe gewünscht – das hätte das Buch für mich perfekt gemacht. Die größte Stärke des Thrillers sind aber mit Sicherheit die durchgehende, teilweise atemlose Spannung und die dichte, unheimliche Atmosphäre. Das vage Gefühl, dass etwas nicht mit diesem Haus stimmt, die kleinen Cliffhanger am Ende der Kapitel und die vollkommen unerwarteten, kreativen Twists haben mich Seite um Seite umblättern lassen und dieses Buch zu einem Pageturner gemacht. Großartig fand ich auch das Setting (abgelegenes Haus in Waldnähe, regnerisches Wetter), das der Autor eindrucksvoll zu nutzen weiß, um uns eine Gänsehaut zu bescheren. Ich kann euch „Heimgesucht“ daher als kurzweiliges Lesevergnügen für zwischendurch nur empfehlen. Lest das Buch am besten an regnerischen Tagen und wenn es draußen schon dunkel ist – erst dann entfaltet dieser Thriller sein volles Gruselpotential!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 4 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
ProtagonistInnen: 4,5 Lilien
Figuren: 3,5 Lilien
Spannung: 5 Lilien ♥
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 4 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 4,5 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir vier Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.04.2020

Für mich trotz guter Idee und Intention leider keine Offenbarung, sondern eine große Enttäuschung!

Three Women – Drei Frauen
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Basierend auf den wahren Geschichten dreier Frauen behandelt die Autorin weibliches Begehren und das Spannungsfeld von Lust, Macht und Selbstbestimmung.

Übersicht

Einzelband ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Basierend auf den wahren Geschichten dreier Frauen behandelt die Autorin weibliches Begehren und das Spannungsfeld von Lust, Macht und Selbstbestimmung.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler / auktorialer Erzähler / Du-Erzähler, Präteritum / Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + Es wird Fleisch gegessen, ansonsten werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet. Von einer Figur wird eine Katze allein in einer Wohnung gehalten: Hierzu ein wichtiger Hinweis: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.
Triggerwarnung: Vergewaltigung, Tod von Menschen, Autounfall, Body Shaming, Slut Shaming, Sexismus, Misogynie, Depression und weitere psychische Krankheiten

Warum dieses Buch?

Angeblich soll dieses Buch ja eine Offenbarung sowohl für Frauen als auch für Männer sein. Es steht auf Bestsellerlisten, wird heiß diskutiert, in den Himmel gelobt und leidenschaftlich verrissen. Ich wollte mir unbedingt eine eigene Meinung zu diesem polarisierenden Buch bilden.

Meine Meinung

Einstieg (2 Lilien)

„Denn nach Jahrhunderten unter dem männlichen Blick ist es Teil unseres Erbes, das heterosexuelle Frauen andere Frauen oft genauso betrachten, wie Männer es tun.“ E-Book, Position 52

Der Einstieg fiel mir nicht gerade leicht, denn die Geschichte kommt nur langsam in Schwung. Es dauerte einige Kapitel, bis ich im Buch angekommen war.

Schreibstil (2 Lilien)

Trotz teilweise verschachtelter und komplexer Sätze kann die Sprache der Autorin als einfach und leicht verständlich beschrieben werden. Lisa Taddeo schreibt eigentlich flüssig und das Buch hat sicher seine Momente (es enthält einige feministische, wahre und weise Zitate!), trotzdem konnte mich ihre Art zu schreiben leider nicht überzeugen. Ihr schnörkelloser Schreibstil hat nichts Besonderes an sich, er ist ohne Ecken und Kanten, es fehlt das gewisse Etwas – und auf mich wirkte er leider seltsam lieblos und ohne jeden Charme. So als hätte die Autorin das Buch schnell und ohne große Leidenschaft heruntergeschrieben.

Inhalt, Themen & Ende (2 Lilien)

„Selbst wenn Frauen Gehör finden, müssen es die richtigen Frauen sein, damit man ihnen zuhört. Weiße Frauen. Reiche Frauen. Schöne Frauen. Junge Frauen. Am besten all das in einem.“ E-Book, Position

Das Interessante an „Three Women – Drei Frauen“ von Lisa Taddeo ist, dass es sich hierbei um eine Mischung aus Sachbuch und Roman handelt. Die Autorin hat acht Jahre und unzählige Stunden in ihre Recherche investiert, ist durch Amerika gereist und hat sogar an den gleichen Orten gewohnt wie die Frauen, die sie schlussendlich ausgesucht und mit denen sie viel Zeit verbracht hat. Diese wahren Geschichten hat Taddeo in ihrem Roman verarbeitet, in dem abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen erzählt wird. Ein Prolog und Epilog rahmen die Geschichte ein.

Ich wusste schon vor der Lektüre, dass das Buch polarisiert, dass es viel Lob, aber auch Kritik erhalten hat. Trotzdem habe ich (als überzeugte Feministin) ein wichtiges und auch gutes Buch erwartet, das mir neue Erkenntnisse bringt und vielen Menschen die Augen öffnen wird. Auf große Hoffnungen folgte leider große Enttäuschung. Ich fragte mich: Dieses Buch soll eine Offenbarung sein? Es soll schön, poetisch und berührend sein? Ein feministischer Meilenstein? Ein brillantes Buch, in dem wir Frauen uns wiederfinden? Während der Lektüre hatte ich viele Fragezeichen im Kopf, weil das überschwängliche Lob nicht mit dem zusammenpasste, was ich da vor mir sah: Ich fand die Schilderungen oft banal und alles andere als fesselnd; das Buch brachte mir kaum neue Erkenntnisse.

Ja, der Roman (der übrigens auch explizite Sexszenen enthält) macht oft wütend und adressiert und kritisiert wichtige Themen wie den schwierigen Umgang mit weiblicher Sexualität in einer patriarchalischen Gesellschaft, Doppelmoral, Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Geschlechterstereotypen, sexualisierte Gewalt, Slut Shaming und Body Shaming. Er zeigt auch, dass unsere Mädchen zu Frauen heranwachsen, die kein Selbstvertrauen haben, die sich von den Männern in ihrem Leben viel zu viel gefallen lassen, die denken, dass nur ihre Schönheit zählt, die nur für andere leben und nie gelernt haben, auf ihre eigene Bedürfnisse zu achten. Er beschäftigt sich auch damit, dass Frauen oft nicht geglaubt wird, wenn sie beliebten, erfolgreichen oder prominenten Männern Vergewaltigung, Belästigung oder Missbrauch vorwerfen, obwohl bekannt ist, dass der Prozentsatz an Falschanzeigen sehr, sehr gering ist.

„Three Women“ spricht viele wichtige Dinge an, aber – und das ist mein Kritikpunkt – das ginge viel besser, viel aufrüttelnder und überzeugender. Man fragt sich unweigerlich, ob sich die lange und aufwendige Recherche der Autorin gelohnt hat – und bevor man sich versieht, schwirrt einem das Wort „Zeitverschwendung“ beim Lesen im Kopf herum. Wie vielen Frauen und Männern wird dieses Buch wirklich die Augen öffnen? Die wichtigen Botschaften der Autorin werden oft nicht deutlich genug ausgesprochen, fürchte ich. Besonders Leuten, die sich mit Feminismus noch nicht näher beschäftigt haben, werden viele Nuancen und Symptome von struktureller weiblicher Unterdrückung und von schädlichen, misogynen Einstellungen und Verhaltensweisen vermutlich nicht einmal auffallen. Schön wäre es außerdem gewesen, auch ein positives Gegenbeispiel – also eine Frau, die sich aus ihrer misslichen Lage befreit und selbstbestimmt weiterlebt – im Buch vorzufinden. Der Roman zeigt nämlich keinerlei Lösungswege auf, was betroffene Frauen entmutigen könnte und ihnen nicht gerade helfen dürfte, etwas zu ändern.

Besonders im Epilog bringt die Autorin noch einmal einige Dinge auf den Punkt und äußert wichtige Gedanken und Kritik, dann bricht das Buch plötzlich ab. Wir begleiten die Frauen also nur einen Teil des Weges. Insgesamt ließ mich das Buch nicht nur aufgrund der genannten Kritikpunkte, sondern auch weil meiner Meinung nach viel Potential verschenkt wurde und weil es mir nicht lange in Erinnerung bleiben wird, unzufrieden und enttäuscht zurück. Wer sich wirklich für weibliches Begehren interessiert und dafür, wie sexistisch unser Sex ist, dem möchte ich das feministische Buch „Sie hat Bock“ empfehlen, in dem die Autorin Katja Lewina sehr direkte und deutliche Worte findet.

„Wir geben vor, Dinge zu wollen, die wir nicht wollen, damit niemand sieht, dass wir nicht bekommen, was wir brauchen.“ E-Book, Position 135

Protagonistinnen (2,5 Lilien) & Figuren (2,5 Lilien)

„‘Lina, wo du herkommst, bringt man Frauen bei, dass ihr Wert sich darüber definiert, was sie für andere tun.‘“ E-Book, Position 1599

Da die Autorin so lange recherchiert hat und so weit für ihr Buch gereist ist, wundert es mich, dass die Frauen, die sie schlussendlich für ihren Roman ausgewählt hat, sich alle so ähnlich sind. Vielleicht war sonst niemand bereit, intime Details mit der Autorin zu teilen, anders kann ich mir die Auswahl nicht erklären. Die Frauen waren sich sogar teilweise so ähnlich und blieben (vor allem in den ersten Kapiteln) so blass und farblos, dass ich sie kaum unterscheiden konnte und manchmal sogar verwechselte! Manche AutorInnen brauchen kaum ein Kapitel, um einmalige, dreidimensionale und sympathische Figuren zu erschaffen, Lisa Taddeo gelingt das leider bis zum Ende nicht so richtig. Ihre Frauen sind austauschbar, oft stutenbissig (es kam oft zu Body Shaming), arrogant oder oberflächlich – und sie waren mir dadurch stellenweise sehr unsympathisch. Für ihre Leben interessierte ich mich nur bis zu einem gewissen Grad und es ist mir nur in manchen Momenten gelungen, mit ihnen mitzufühlen. Maggie fand ich ganz okay, aber mit Lina und besonders Sloane konnte ich nicht viel anfangen.

Auch viele der anderen Figuren blieben blass, unsympathisch und waren schlecht ausgearbeitet. Auch wenn das vielleicht bis zu einem gewissen Grad so gewollt ist, kann mich ein Buch mit Figuren, deren Schicksal mir egal ist, nicht fesseln und emotional mitreißen.

Spannung & Atmosphäre (2 Lilien)

Auch wenn ich irgendwann in die Geschichte fand und es durchaus auch einige gelungene Stellen gab, zog sich das Buch insgesamt doch sehr. Es gibt keinen Spannungsbogen, die verschiedenen Kapitel über das Leben der drei Frauen plätschern dahin und haben mich über weite Strecken gelangweilt. Gleichzeitig haben sie mich aber auch runtergezogen. Zumindest das empfinde ich als positiv: die düstere, deprimierende Stimmung, die unweigerlich aufkommt, wenn man realisiert, dass alle diese Frauen (wie viele andere) in einem Leben gefangen sind, das sie nicht glücklich macht, und dass sie großteils nur das tun, was andere wollen.

Feministischer Blickwinkel (4 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: unzählige frauenfeindliche Beleidigungen (Fo+++, Hu++, Schlam++, Fli++++++,)

Die Idee und die Intention hinter dem Buch waren gut und wichtig. Lisa Taddeo wird damit zumindest hitzige Debatten über Slut Shaming, weibliches Begehren in einer immer noch patriarchalischen Welt und ungesunde Machtverhältnisse auslösen, was nur positiv sein kann. Das Buch besteht den Bechdel-Test und alle frauenfeindlichen Beleidigungen werden verziehen, weil es ja gerade das Ziel des Buches ist, Doppelmoral und Slut Shaming zu kritisieren. Gerade das gelingt allerdings nur unzureichend. Manches (wie die traditionelle Rollenverteilung) wird zudem nicht deutlich genug kritisiert und auch auf die Vergewaltigung und ihre Folgen wurde mir nicht genug eingegangen, wodurch es fast ein wenig wirkte, als würde sie verharmlost. Geschlechterstereotypen (wie das der stutenbissigen Frau) werden außerdem leider immer wieder reproduziert, was ich aber immerhin zu einem Teil verzeihe, weil es gesellschaftliche Missstände aufzeigt. Einer feministischen Analyse hält das Buch trotz einiger Schwächen stand.

Über das Rape Shield Law (wie traurig ist es bitte, dass es so etwas überhaupt geben muss?): „‘Rape Shield‘ heißt, dass man ein vermeintliches Vergewaltigungsopfer nicht zu anderen sexuellen Aktivitäten befragen darf. Es heißt, man darf nicht versuchen zu beweisen, dass die Frau im Grunde eine Schlam++ ist.“ E-Book, Position

Mein Fazit

Ich habe ein wichtiges Buch erwartet, das vielen Menschen (auch mir!) die Augen öffnen wird, doch leider hat mich Lisa Taddeos polarisierendes Mischung aus Sachbuch und Roman trotz einiger guter Ansätze und gelungener Momente (das Buch enthält einige feministische, wahre und weise Zitate!) sehr enttäuscht. Das lag nicht nur am eigentlich flüssigen, aber irgendwie auch lieblos wirkenden Schreibstil, dem jeglicher Charme fehlt, sondern auch an den blassen, austauschbaren und teilweise auch unsympathischen Frauen, die sich teilweise so ähnlich waren, dass ich sie beim Lesen verwechselte. Leider kann mich ein Buch mit Figuren, deren Schicksal mir fast egal ist und mit denen ich nur in einzelnen Momenten mitfühlen kann, nicht fesseln und emotional mitreißen. Für mich zog sich die Lektüre sehr, die Kapitel aus dem Leben der Frauen plätscherten dahin und waren teilweise langweilig. Gefallen hat mir immerhin die düstere, deprimierende Stimmung, die unweigerlich aufkommt, wenn man realisiert, dass alle diese Frauen (wie viele andere) gefangen in einem Leben sind, das sie nicht glücklich macht, und dass sie großteils nur das tun, was andere wollen. Mein größter Kritikpunkt betrifft den Inhalt des Buches: Ich fand die Schilderungen oft banal; das Buch brachte mir kaum neue Erkenntnisse. Ja, der Roman (der übrigens auch explizite Sexszenen enthält) macht oft wütend und adressiert und kritisiert wichtige Themen wie den schwierigen Umgang mit weiblicher Sexualität in einer patriarchalischen Gesellschaft, Sexismus, sexualisierte Gewalt und Slut Shaming. Allerdings ginge das viel besser, viel aufrüttelnder und überzeugender. Wie vielen Frauen und Männern wird dieses Buch wirklich die Augen öffnen? Die wichtigen Botschaften der Autorin werden oft nicht deutlich genug ausgesprochen. Besonders Leuten, die sich mit Feminismus noch nicht näher beschäftigt haben, werden viele Nuancen und Symptome von struktureller weiblicher Unterdrückung und von schädlichen, misogynen Einstellungen und Verhaltensweisen vermutlich nicht einmal auffallen. Hier wurde leider viel Potential verschenkt, was ich sehr schade finde. Da mich das Buch insgesamt leider sehr enttäuscht hat, kann ich dieses Mal keine Leseempfehlung aussprechen. Trotzdem waren die Idee und die Intention hinter „Three Women – Der Frauen“ gut und wichtig. Lisa Taddeo wird mit ihrem Buch trotz seiner Schwächen zumindest hitzige Debatten über Slut Shaming, weibliches Begehren in einer immer noch patriarchalischen Welt und ungesunde Machtverhältnisse auslösen – und das kann nur positiv sein.

Wer sich wirklich für weibliches Begehren interessiert und dafür, wie sexistisch unser Sex heute noch ist, dem möchte ich das feministische Buch „Sie hat Bock“ empfehlen, in dem die Autorin Katja Lewina sehr direkte und deutliche Worte findet.

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 2 Lilien
Worldbuilding: 2 Lilien
Einstieg: 2 Lilien
Ende / Auflösung: 3 Lilien
Schreibstil: 2 Lilien
Protagonistinnen: 2,5 Lilien
Figuren: 2,5 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 2 Lilien
Emotionale Involviertheit: 2,5 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 4 Lilien

Insgesamt:

❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir zwei Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.04.2020

Kein schlechtes Buch, aber die Begeisterung blieb leider aus – habe mir mehr von diesem Buchpreis-Gewinner erhofft!

HERKUNFT
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

„Herkunft“ ist eine Mischung aus Autobiografie und fiktionalem Roman, die sich mit der Flucht des Autors aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit seinen Erinnerungen, seiner ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

„Herkunft“ ist eine Mischung aus Autobiografie und fiktionalem Roman, die sich mit der Flucht des Autors aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit seinen Erinnerungen, seiner Kindheit und Jugend und seiner Familie (besonders mit seiner dementen Großmutter) beschäftigt.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Du-Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis sehr kurz
Tiere im Buch: Eine treue Ziege wird auf den Mond geschossen, wo sie stirbt, eine Taube stirbt bei einem Fahrrad-Unfall, Fleisch (bzw. Lamm) wird gegessen und es wird beschrieben, wie eine Schlange getötet wird.
Triggerwarnung: Rassismus, Flucht, Tod von Menschen und Tieren, Krieg, Gewalt, Vergewaltigung

Warum dieses Buch?

„Herkunft“ hat letztes Jahr (2019) den Deutschen Buchpreis gewonnen und sowohl von den LeserInnen als auch im Feuilleton viel Lob erhalten. Deswegen musste ich das Buch unbedingt lesen!

Meine Meinung

Einstieg (2 Sterne)

„Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt –“ E-Book, Position 201

In diesen Roman hineinzukommen, fühlte sich für mich an wie Arbeit. Die ersten Kapitel ließen sich schnell und flüssig lesen, trotzdem fand ich keinen richtigen Zugang zum Buch und empfand den Einstieg als langwierig und schwierig.

Schreibstil & Humor (3 Lilien)

„In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet.“ E-Book, Position 1412

Der Autor schreibt flüssig und angenehm lesbar. Seine Sprache ist einfach, teilweise auch locker und mündlich geprägt, wodurch das Buch stellenweise wirkt, als würde jemand einem gerade am Lagerfeuer eine Geschichte erzählen. Es gibt einige schöne, kreative und poetische Sätze und Vergleiche, und ich liebe es, wie der Autor über Sprache reflektiert und philosophiert und mit ihr experimentiert. Auch den subtilen Humor und den ironischen Unterton mochte ich sehr. Trotzdem konnte mich die Sprache nie ganz erreichen, mitreißen, überzeugen und begeistern.

Inhalt, Themen & Ende (3 Lilien)

„Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“ E-Book, Position 360

Thematisch konzentriert sich der Autor in „Herkunft“ auf seine Familie, seine Erinnerungen an die Flucht und die ersten schwierigen Jahre in Deutschland, auf geschichtliche Fakten und das komplexe Konzept der „Herkunft“. Diese Themen werden teilweise tiefgehend behandelt, manches bleibt aber auch oberflächlich, weil die Kapitel sehr kurz sind. Eindringlich, sehr authentisch und berührend fand ich die Schilderungen des Zustandes der dementen Großmutter, deren Gesundheitszustand sich immer weiter verschlechtert. Diese Beschreibungen haben mich echt betroffen und traurig gemacht, weil auch ich schon mit dieser Krankheit in Berührung kam. Sehr gut gefallen hat mir auch der innovative Schlussteil – es hat mich sehr überrascht, einen solchen in einem anspruchsvollen literarischen Werk zu finden! Ich fand es spannend und unheimlich erfrischend, dass ich mir mein eigenes Ende aussuchen durfte.

Die meisten Leute, die dieses Buch lesen, scheinen hingerissen zu sein und kommen ins Schwärmen. Nach den vielen positiven Rezensionen und dem Gewinn des Buchpreises waren meine Erwartungen sehr hoch. Ich habe mir ein großartiges Buch erhofft, das mir richtig gut gefällt. Leider war die Enttäuschung beim Lesen dann umso größer. Mir ist bewusst, dass ich mit meiner Meinung so ziemlich alleine bin. Ich möchte mich aber von den vielen positiven Bewertungen nicht einschüchtern lassen, denn auch in dieser Rezension will ich ehrlich sein. Die Wahrheit ist: Ich fand irgendwie keinen richtigen Zugang zur Geschichte (sie erreichte mich nur so halb) und Begeisterung wollte sich auch nicht einstellen. Obwohl es meiner Meinung nach einige schöne, gelungene und auch berührende Kapitel gab, wollte sich einfach kein Lesesog einstellen. Kapitel für Kapitel, in ganz kleinen Happen, arbeitete ich das eigentlich nicht sehr umfangreiche Buch pflichtbewusst ab – in der Hoffnung, dass es mich irgendwann schon noch packen und ebenso begeistern würde wie die anderen LeserInnen – und musste bis fast zum Ende zwingen, weiterzulesen. Lesespaß war leider über weite Strecken nicht vorhanden.

Das episodenhafte, unzusammenhängende, sprunghafte Erzählen voller Abschweifungen, die oft verwirrende Chronologie mit ihren Zeitsprüngen und das Fehlen einer linearen Handlung machten es mir schwer, in die Geschichte einzutauchen und sie zu genießen. Die Mischung aus Geschichten über die Familie und persönlichen Erinnerungen fand ich stellenweise gelungen, stellenweise langatmig. Ich verstehe, dass es für den Autor spannend und wichtig war, die eigene Familiengeschichte zu erforschen und für die Ewigkeit festzuhalten. Manche Anekdoten fand ich auch durchaus sehr interessant, witzig oder charmant. Jedoch ist es nicht meine Familie, über die der Autor schreibt. Für mich hatten die Schilderungen nicht die gleiche emotionale und persönliche Bedeutung wie für ihn, wodurch oft mein Interesse schwand. Auch die geschichtlichen Abhandlungen und Einschübe hätte man spannender formulieren können. Mich konnten sie nicht packen, sondern ich langweilte mich stellenweise sehr. Mich konnte dieser Roman leider nicht so überraschen, begeistern, berühren, zum Nachdenken bringen und überzeugen, wie ich mir das von einem Buchpreis-Gewinner und hochgelobten Buch gewünscht hätte. Geschmäcker sind verschieden – meinen konnte Saša Stanišić mit „Herkunft“ leider nicht treffen.

„Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“ E-Book, Position 414

Protagonist (5 Lilien ♥) & Figuren (3 Lilien)

„Heute erinnert sich Großmutter mal an Gavrilo, mal sagt der Name ihr nichts. Über ihr Jetzt hat sich ein Schleier aus Damals gelegt.“ E-Book, Position 533

Den Protagonisten des Romans fand ich unheimlich sympathisch und liebenswert. Ich mochte seine intelligente, aber auch unaufgeregte, lockere und humorvolle Art und habe ihn sehr gerne begleitet. Auch seine Reflexionen, seine Offenheit und seine Fähigkeit, über sich selbst zu lachen und sich über kuriose Eigenheiten beider Kulturen liebevoll (und niemals bösartig) zu amüsieren, haben mir sehr gut gefallen!

Die anderen Figuren sind meiner Meinung nach mit einigen Ausnahmen – die Großmutter ist z. B. sehr liebevoll ausgearbeitet und wirkt authentisch und dreidimensional – nicht so gut gelungen. Durch die Vielzahl an Figuren, die allerdings in einzelnen Episoden nur ganz kurz vorkommen und nicht näher beschrieben werden, bleiben viele von ihnen (besonders die FreundInnen des Protagonisten) leider sehr blass. Ich konnte leider keine Beziehung zu ihnen aufbauen oder mit ihnen mitfühlen, was ich sehr schade finde. Manchmal habe ich sie sogar miteinander verwechselt.

Spannung & Atmosphäre (2 Lilien)

„‘Wann kann ich nach Hause?‘
‚Du bist zu Hause, Oma.‘“ E-Book, Position 1994

Ich fand die atmosphärischen Beschreibungen der Schauplätze sehr gelungen und überzeugend, aber leider gibt es im Buch durch die episodenhafte Erzählweise keinen Spannungsbogen. Ich empfand „Herkunft“ leider als sehr langatmig und hätte es mehrmals am liebsten abgebrochen, weil es mich nicht erreichen und zum Weiterlesen motivieren konnte.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Beleidigung in einer anderen Sprache (Kur++), ich fi+++ deine Mutter, Hu++

Was die feministische Analyse betrifft, bekommt der Autor für sein Buch alle Punkte. Der Roman besteht den Bechdel-Test, und die wenigen frauenfeindlichen Beleidigungen kann ich verzeihen, weil sie von rebellischen Jugendlichen ausgesprochen werden. In vielen von Männern geschriebenen Autobiografien und Romanen spielen Frauen nur am Rande eine Rolle, aber scheinen kein Eigenleben zu haben. In „Herkunft“ ist das anders: Das Buch enthält viele starke weibliche Figuren, die ihrer Zeit zum Teil sogar weit voraus und sehr modern waren. Besonders die Großmütter sind hier positiv hervorzuheben. Immer wieder wird mit Geschlechterstereotypen gebrochen, sie werden nur selten reproduziert. Außerdem werden Sexismus und Gleichberechtigung angesprochen, was mir sehr gut gefallen hat. Ich habe dadurch Saša Stanišić als modernen, sympathischen Autor abgespeichert, dem ich sicher in Zukunft noch eine Chance geben werde!

Mein Fazit

Nach den positiven Rezensionen und dem Gewinn des Buchpreises waren meine Erwartungen sehr hoch, umso größer war dann auch meine Enttäuschung. Dabei mochte ich den flüssigen, teilweise mündlichen geprägten Schreibstil, den Humor, die vereinzelten schönen, poetischen Sätze und die Reflexionen und Sprachexperimente des Autors eigentlich. Trotzdem konnte mich seine Sprache nie ganz erreichen, mitreißen und begeistern. Den Protagonisten des Romans fand ich hingegen unheimlich sympathisch und liebenswert. Ich mochte seine intelligente, unaufgeregte Art und seine Fähigkeit, sich über kuriose Eigenheiten beider Kulturen liebevoll zu amüsieren. Die anderen Figuren bleiben leider mit einigen Ausnahmen blass. Was die feministische Analyse betrifft, bekommt der Autor aufgrund seiner starken weiblichen Figuren alle Punkte! Ich fand die atmosphärischen Beschreibungen der Schauplätze gelungen, doch insgesamt empfand ich „Herkunft“ leider als sehr langatmig und hätte es stellenweise am liebsten abgebrochen. Das episodenhafte Erzählen, die Zeitsprünge und das Fehlen einer linearen Handlung machten es mir schwer, in die Geschichte einzutauchen und sie zu genießen. Die Mischung aus Geschichten über die Familie, persönlichen Erinnerungen, Reflexionen und geschichtlichen Einschüben fand ich stellenweise tiefgründig, gelungen, berührend, interessant, charmant und witzig, stellenweise aber auch oberflächlich und sehr zäh. Sehr gut gefallen hat mir der innovative und erfrischende Schlussteil. Kurz: Mich konnte dieser Roman leider nicht so überraschen, begeistern, berühren, zum Nachdenken bringen und überzeugen, wie ich mir das von einem Buchpreis-Gewinner und hochgelobten Buch gewünscht hätte. Geschmäcker sind glücklicherweise verschieden – meinen konnte Saša Stanišić mit „Herkunft“ aber leider nicht treffen. Ich werde das Buch zwar nicht zum Geburtstag verschenken, trotzdem würde ich euch empfehlen, ihm eine Chance zu geben, da es so vielen Menschen so gut gefallen hat. Ich selbst werde dem Autor bestimmt auch noch eine Chance geben!

Bewertung

Idee: 4 Lilien
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 3 Lilien
Einstieg: 2 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonist: 5 Lilien ♥
Figuren: 3 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.04.2020

Eindringlicher, intensiver Roman über menschliche Fehler, Schwächen und Schuld

Miracle Creek
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht bei einer HBO-Therapiesitzung, bei der die PatientInnen mit purem Sauerstoff versorgt werden, um damit unter anderem ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht bei einer HBO-Therapiesitzung, bei der die PatientInnen mit purem Sauerstoff versorgt werden, um damit unter anderem Autismus zu heilen, ein Sauerstofftank in Flammen auf. Es war Brandstiftung. Kitt, Mutter von fünf Kindern, und Henry, ein achtjähriges Kind, sterben, drei weitere Menschen werden schwer verletzt. In einem Gerichtsprozess soll nun geklärt werden, wer das Feuer gelegt hat. Auf der Anklagebank sitzt Elizabeth, Henrys Mutter. Doch sie ist nicht die Einzige in Miracle Creek, die Geheimnisse hat…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive (im Wechsel)
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + Eine Mücke wird getötet, ein Hund stirbt (wird nur kurz erwähnt) und Tierversuche werden angesprochen. Ansonsten werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt, Suizid, Tod von Menschen (Erwachsene und Kind) und schwere Verletzungen durch Feuer, Rassismus, Misogynie

Warum dieses Buch?

„Miracle Creek“ hat mich sofort angesprochen. Der Klappentext klang nämlich so vielversprechend! Die Geschichte erinnerte mich an "Kleine Feuer überall" von Celeste Ng, das ich auch sehr mochte. Das Buch hat außerdem schon sehr viel Lob erhalten und wurde von einigen Magazinen zu einem der besten Bücher des Jahres gewählt - das machte mich zusätzlich neugierig!

Meine Meinung

Einstieg (4 Sterne)

Obwohl die Geschichte am Anfang nur langsam ins Rollen kommt, dauerte es nicht lange, bis ich ins Buch fand. Das Buch konnte mich aufgrund des eindringlichen, unaufgeregten Schreibstils sofort in seinen Bann ziehen. Ich wollte unbedingt weiterlesen.

Schreibstil (4 Lilien)

"Eine Tragödie macht einen nicht immun gegen weitere Tragödien, und Schicksalsschläge werden nicht gerecht hier und da verteilt - mit Unglück wird klumpenweise, gebündelt nach einem geworfen, unkontrollierbar und chaotisch." Seite 10

Ich liebe den Schreibstil von Angie Kim! Sie schreibt relativ komplex und anspruchsvoll (ihre oft verschachtelten Sätze gehen nicht selten über mehrere Zeilen), dabei aber sehr flüssig und angenehm lesbar. Ihre unaufgeregte, ruhige Sprache ist unheimlich eindringlich und voller wunderschöner Vergleiche und Beschreibungen. Am meisten beeindruckt hat mich aber, wie unvergleichlich nuanciert sie Menschen beschreibt: ihre Gefühle in allen Schattierungen, ihre Gedanken, ihre Gesten, Blicke und Mimik. Großartig!

Inhalt, Themen & Ende (4 Lilien ♥)

„‘Wir haben alle hin und wieder Gedanken, für die wir uns schämen.‘“ Seite 481

Menschliche Fehler und Schwächen und ihre tragischen Folgen – sie machen den Kern dieses tragischen, intensiven und berührenden Romans aus, der auch euch nicht kaltlassen wird. Es geht in „Miracle Creek“ um jene düsteren Gedanken, die wir uns verbieten, um Seiten an uns, die wir verleugnen, um starke negative Emotionen wie Neid, Frustration und Kränkung, um Lügen und Fehler, die man nicht wiedergutmachen kann, und um Bereuen und brennende Schuldgefühle. Diese Themen behandelt die Autorin emotional und tiefgründig und bringt uns dazu, über unsere eigenen Unzulänglichkeiten nachzudenken. Wer von uns hatte noch nie einen unangemessenen, düsteren und verwerflichen Gedanken, auch wenn er uns nur einen Sekundenbruchteil durch den Kopf geschossen ist? Wer hat noch nie einen Anflug von Neid verspürt, wenn einer anderen Person etwas gelingt, das man sich schon lange wünscht? Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein! Und: Wer hat auch diese Gefühle sofort verdrängt und verurteilt und sich selbst einen schlechten Menschen geschimpft? Dieses Buch hat mich, auch wenn ich gerade nicht gelesen habe, nicht mehr losgelassen. Solche Bücher sind doch die besten, oder? Die offene Schilderung von Fehlern und Schwächen hilft vielleicht auch, eigene unerwünschte Gefühle ein Stück weit zu akzeptieren und als menschlich anzunehmen.

Neben Rassismus, Heimat und den Schwierigkeiten, die Migration mit sich bringt, wird auch Gewalt in der Erziehung und wie erschreckend weit verbreitet und alltäglich sie immer noch zu sein scheint, angesprochen – hier muss sich endlich etwas ändern! Sehr interessant fand ich zudem, dass verschiedene Menschen sich an eine Situation ganz unterschiedlich erinnern und diese auch ganz unterschiedlich bewerten. Und keine Sorge: Auch positive Themen wie Liebe, Familie und Freundschaft haben Einzug in die Geschichte gefunden.

Noch etwas anderes ist in „Miracle Creek“ ganz zentral: die Abwesenheit der Väter. Im Mittelpunkt stehen Mütter von Kindern mit Behinderung und ihre Liebe, aber auch ihre Probleme, ihre Fehler und Schwächen, ihre hohe Verantwortung, ihr Ganz-allein-für-alles-zuständig-Sein, ihre Überforderung, ihr Verzicht und alles, was sie aufgeben müssen. Unweigerlich stellt man sich eine Frage: Wo sind eigentlich die Väter? „Miracle Creek“ zeichnet leider ein authentisches, trauriges Bild unserer Gesellschaft, das leider der Wahrheit entspricht: Wenn es schwierig wird, sind es oft die Männer, die gehen und die Frauen, die ganz selbstverständlich bei ihrem Kind bleiben und am Ende ganz alleine dastehen. Mehr dazu beim Unterpunkt „Feministischer Blickwinkel“.

Für mich war „Miracle Creek“ bis zur gelungenen Auflösung und zum runden, mich zufrieden zurücklassenden Ende ein wahrer Lesegenuss! In der Geschichte, die aus mehreren Perspektiven erzählt wird und viele Rückblenden enthält, werden Stück für Stück neue Puzzleteile und überraschende Geheimnisse offenbart, wodurch sich ein richtiger Sog einstellt. Die spannende Gerichtsverhandlung mit ihren unerwarteten Wendungen wechselt sich hierbei auf gelungene Weise mit ruhigeren Schilderungen des Privatlebens der Figuren ab.

„Gute und schlechte Dinge – jede Freundschaft, jede Liebe, jeder Unfall, jede Krankheit – waren das Ergebnis der Verschwörung hunderter Kleinigkeiten, die jede für sich genommen vollkommen belanglos waren.“ Seite 500

ProtagonistInnen (5 Lilien ♥) & Figuren (5 Lilien ♥)

Die Figurenzeichnung ist ohne Zweifel eine der größten Stärken des Romans: Durch Kims nuancierte Schilderungen der Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen, durch deren authentische Schwächen, Träume, Zweifel und Ängste, wirken sie sehr plastisch und dreidimensional. Man fühlt und leidet unheimlich intensiv mit den liebevoll ausgearbeiteten Figuren mit und identifiziert sich mit ihnen. Auch die Nebenfiguren sind durchgehend sehr lebendig beschrieben und sehr gut gelungen. „Miracle Creek“ zeigt, dass es leider oft gute Menschen sind, die Fehler machen, die schlussendlich in eine Tragödie münden.

Spannung & Atmosphäre (4 Lilien)

Eine gewisse Grundspannung ist im Buch durchgehend vorhanden, ebenso wie zahlreiche hochemotionale und atemlos spannende Momente. Jedoch bricht der Spannungsbogen hin und wieder auch ein. Mir hätte etwas mehr Tempo an manchen Stellen gut gefallen, aber das ist Kritik auf hohem Niveau, denn auch so war ich mit „Miracle Creek“ und seiner dichten Atmosphäre sehr zufrieden.

Feministischer Blickwinkel (2 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++, Hu++

„‘Mein Mann ist das überhaupt nicht gewöhnt, sich um die Kinder zu kümmern.‘ […] ‚Bei mir genau das Gleiche. Hoffentlich ist der Prozess schnell vorbei.‘“ Seite 155

„Miracle Creek“ enthält viele starke und interessante Frauenfiguren und besteht problemlos den Bechdel-Test. Außerdem ist die Feministin Janine ein echter Lichtblick. Leider gibt es aber auch einiges, was ich kritisieren muss. Angie Kim, eine ehemalige Anwältin, die sich selbst als Feministin beschreibt, hat zwar eine Art authentische Milieustudie über das Leben von Müttern von Kindern mit Behinderung geschrieben und zeigt darin auf, wie sehr die Frauen unter der Belastung, ganz alleine für alles verantwortlich zu sein, leiden, aber sie kritisiert diese Situation meiner Meinung nach nicht deutlich genug. Stattdessen wird (vielleicht auch unabsichtlich) der Mythos der Mutter, die sich selbst für ihr Kind aufgibt, gefördert. Warum gibt es keinen einzigen Vater, der mit seinem Kind zur Therapie fährt? Warum sind es die Männer nicht gewohnt, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern? Das ist doch einfach nur traurig!

Das Buch enthält viele Rollenstereotype und besonders in Youngs Familie herrscht (bedingt durch Einflüsse aus der koreanischen Kultur) eine sehr traditionelle Rollenaufteilung, bei der der Mann als Familienoberhaupt Befehle verteilt und Entscheidungen trifft und bei der die Frau still zu sein und diese auszuführen hat, was mir als Feministin ebenfalls nicht gefallen hat. Zum Beispiel schreibt Young ihre Masterarbeit nicht fertig, weil ihr von ihrer Mutter gesagt wird, dass kein Mann eine besser ausgebildete Frau haben möchte. Auch wenn es zumindest bei einer weiblichen Figur im Laufe des Romans eine positive Entwicklung gibt, lassen sich die Frauen in diesem Buch (mit Ausnahme der einzigen Feministin Janine) viel zu viel von den Männern gefallen!

Auch die Doppelmoral hat mich wütend gemacht: Als eine Ehefrau vermutet, dass ihr Ehemann (der ihr die Treue geschworen hat!) eine Beziehung zu einer Minderjährigen unterhält, stellt diese nicht etwa ihren schuldigen Mann zur Rede, sondern beschimpft lieber die vermeintliche Affäre (die single ist und somit keine Verpflichtungen hat) als Hu++ und Schlam++. Das ist wieder ein wunderschönes Beispiel für verinnerlichte patriarchale Werte, Schuldumkehr und Slut Shaming! Ich würde mir wünschen, dass die Autorin beim Thema Geschlechterstereotype noch etwas sensibler wird und dass ihre feministische Einstellung beim nächsten Buch stärker Einzug in den Text findet. Dann gibt es auch alle Sterne!

Mein Fazit

„Miracle Creek“ ist ein intensiver, tragischer und berührender Roman über menschliche Fehler, Schwächen und Schuld, der auch euch nicht kaltlassen wird. Das lag vor allem am wunderbaren Schreibstil von Angie Kim: Sie schreibt relativ komplex und anspruchsvoll (ihre oft verschachtelten Sätze gehen nicht selten über mehrere Zeilen), dabei aber sehr flüssig und angenehm lesbar. Ihre unaufgeregte, ruhige Sprache ist unheimlich eindringlich und voller wunderschöner Vergleiche und Beschreibungen. Am meisten beeindruckt hat mich aber, wie nuanciert sie Menschen beschreibt: ihre Gefühle in allen Schattierungen, ihre Gedanken, ihre Gesten, Blicke und Mimik. Großartig! Die Figurenzeichnung ist ohne Zweifel eine der größten Stärken des Romans: Die Figuren haben authentische Schwächen, Träume, Zweifel und Ängste und wirken dadurch sehr plastisch und liebevoll ausgearbeitet. Man fühlt und leidet unheimlich intensiv mit ihnen mit. Es geht in „Miracle Creek“ (neben positiven Themen wie Liebe und Freundschaft) um die düsteren und verwerflichen Gedanken und Gefühle, die wir uns verbieten, um Seiten an uns, die wir verleugnen, um schwerwiegende Fehler und um Bereuen und brennende Schuldgefühle. Diese Themen behandelt die Autorin emotional und tiefgründig. Noch etwas anderes ist in „Miracle Creek“ ganz zentral: die Abwesenheit der Väter. Im Mittelpunkt stehen Mütter von Kindern mit Behinderung und ihre Liebe, aber auch ihre Probleme, ihre hohe Verantwortung, ihr Frust, ihre Überforderung und ihr Verzicht. Unweigerlich stellt man sich eine Frage: Wo sind eigentlich die Väter? „Miracle Creek“ zeichnet zwar (leider!) ein authentisches (und trauriges) Bild unserer Gesellschaft und zeigt auf, wie sehr Mütter unter der Belastung, ganz alleine für alles verantwortlich zu sein, leiden, aber sie hinterfragt und kritisiert diese Situation meiner Meinung nach nicht deutlich genug. Problematisch fand ich auch die traditionellen Rollenbilder, die Geschlechterstereotypen und die Doppelmoral (inklusive Slut Shaming). Dafür gibt es einen halben Stern Abzug. Ich würde mir wünschen, dass die Autorin im nächsten Buch sensibler mit diesen Aspekten umgeht und dass sich ihre feministische Einstellung stärker im Text spiegelt. In der Geschichte, die aus mehreren Perspektiven erzählt wird und in der sich die spannende Gerichtsverhandlung mit ruhigeren Schilderungen des Privatlebens der Figuren abwechselt, werden Stück für Stück neue Puzzleteile und überraschende Geheimnisse offenbart, wodurch sich ein richtiger Sog einstellt. Mir hätte etwas mehr Tempo an manchen Stellen gut gefallen, denn hin und wieder bricht der Spannungsbogen ein, doch auch so war ich mit „Miracle Creek“ und seiner dichten Atmosphäre sehr zufrieden. Für mich war der Roman jedenfalls bis zur gelungenen Auflösung und zum runden Ende ein wahrer Lesegenuss! Daher kann ich euch dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen! Lest „Miracle Creek“ aber nur, wenn ihr den Kopf in den nächsten Tagen nicht freihaben müsst. Denn: Ihr könnt das Buch zwar zuklappen, die Geschichte wird euch aber nicht mehr loslassen!

Wer dieses Buch mochte, mag wahrscheinlich auch:
„Kleine Feuer überall“ von Celeste Ng
„Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 5 Lilien ♥
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
ProtagonistInnen: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 4 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 2 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 ♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien und ein Herz und damit den Lieblingsbuchstatus!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere