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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.11.2018

Still & faszinierend, langatmig, oberflächlich - konnte mich nicht ganz überzeugen!

Das Vogelhaus
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Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Rebellische Tochter, erfolgreiche Violinistin und schließlich gefeierte Tierforscherin und Autorin. Len Howard verbrachte ihre zweite Lebenshälfte in ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Rebellische Tochter, erfolgreiche Violinistin und schließlich gefeierte Tierforscherin und Autorin. Len Howard verbrachte ihre zweite Lebenshälfte in einem abgelegenen Cottage im Süden Englands, wo sie mit Vögeln zusammenlebte, diese erforschte und sich mit ihnen anfreundete. Sie war nicht nur eine Pionierin auf ihrem Gebiet, sondern auch eine ungewöhnliche, moderne, feministische Frau. Umso schöner, dass Eva Meijer ihr mit diesem Buch ein Denkmal setzt.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: btb
Seitenzahl: 320
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Len Howard)
Kapitellänge: mittel bis eher lang, dazwischen kurze Vogelbeobachtungen
Tiere im Buch: + / - Es wird Hummer gegessen, Vögel verhungern, sterben aus Kummer, werden bei Heckenarbeiten grausam getötet. Die Protagonistin tötet zudem eine Taube mit einem Stein, um sie zu erlösen. Positiv ist, dass der sorglose, rücksichtslose Umgang mit unseren Singvögeln und generell Tierversuche mit Vögeln von der Forscherin scharf kritisiert werden, weil sie keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Hier auch wieder meine Empfehlung: Wenn ihr ebenfalls gegen sinnlose, oft grausame Tierversuche seid, schaut bitte beim Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ vorbei, der schon jahrelang engagiert und teilweise sogar schon erfolgreich für Alternativen und für eine tierversuchsfreie Forschung kämpft.

Warum dieses Buch?

Als Tierliebhaberin bin ich natürlich immer daran interessiert, mehr über die großen und kleinen Lebewesen zu erfahren, die uns umgeben. Zudem habe ich mich immer gefragt, wie der Alltag als TierforscherIn aussieht. Weibliche Forscherinnen erhalten ja oft viel weniger Aufmerksamkeit als ihre männlichen Kollegen, daher freute ich mich umso mehr, dass Len Howard im Mittelpunkt dieser Geschichte steht und wollte dieses Buch unbedingt lesen.
Meine Meinung

Einstieg (+/-)

Der Einstieg machte mich sofort neugierig, auch wenn es schlussendlich nach dem Prolog, vor allem durch diesen großen Zeitsprung in die Jugend von Len Howard, länger gedauert hat, bis ich wirklich in der Geschichte angekommen war und auch mit der Hauptfigur eine Verbindung aufgebaut hatte. Woran das lag, darauf gehe ich später noch näher ein.

"'Sie können die Hecke jetzt nicht beschneiden. Sie ist voller Nester. Die meisten Jungen sind schon aus dem Ei geschlüpft.' Meine Stimme ist höher als sonst, mir ist, als drücke mir jemand die Kehle ab. [...]
' Wenn Sie die Hecke beschneiden wollen, müssen sie erst mich aus dem Weg räumen.'" Seite 6

Schreibstil (+/-)

Was den Schreibstil angeht, bin ich zwiegespalten. Einerseits schreibt Eva Meijer flüssig, angenehm und einfach, manchmal sind ihre Beschreibungen sehr treffend, sensibel und teilweise sogar poetisch. Andererseits war mir die Sprache teilweise auch ZU einfach, zu kühl, zu spannungsarm, mit zu wenigen Ecken und Kanten, um mich mitreißen und begeistern zu können.

„Ich erzähle ihr, dass ich Worte manchmal fürchte, weil sie Dinge einfangen, die man besser nicht einfangen sollte.“ Seite 65
„Das Früher ist ein Hügel in der Ferne, der nicht mehr näher, aber auch nicht weiter weg rückt. Das Jetzt ist ein Gesicht in der Menge, das einen Ausdruck annimmt, das deinen Blick erwidert und vorbeigeht.“ Seite 112

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Wie einige andere LeserInnen auch, habe ich mir nach dem etwas fehlleitenden Klappentext vom vorliegenden Buch etwas anderes erwartet. Ich rechnete damit, dass Len Howards späte Jahre und ihre Vogelbeobachtungen den größten Teil des Romans ausmachen würden, leider wurde dem Thema aber nur ein Drittel gewidmet (und auch in diesem Abschnitt hätte ich mir oft mehr Details gewünscht). Ein großer Teil des Buches beschäftigt sich jedoch biographisch (hier wurde wurden nach eigenen Angaben der Autorin Fakten und Fiktion vermischt) mit den früheren Jahren der Forscherin, mit ihrer Jugend und ihrer Zeit als Violinistin in einem Orchester. Manche Szenen konnten mich absolut überzeugen, die Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts konnte mich vollkommen für sich einnehmen, andere Kapitel und Schilderungen wirkten auf mich jedoch auch sehr banal, zu oberflächlich und nicht interessant genug.

Verzaubern konnten mich an diesem Buch, das in den Niederlanden bereits einige Preise erhalten hat und zu einem Bestseller wurde, die Vogelbeobachtungen, die man immer am Beginn jeden Kapitels findet und Len Howards deutlich spürbare Liebe zu ihren Vögeln, die man auch in den Bildern erkennt, die am Ende des Buches beigefügt wurden. Manche Themen wie Erwachsenwerden und Selbstfindung, das Abnabeln von der Familie, werden tiefgründig und authentisch behandelt, viele andere Aspekte wie die Freundschaften von Gwendolen bekommen aber meiner Meinung nach zu wenig Raum. Zudem waren meine Erwartungen nach dem Lesen des Klappentexts hoch und ich wartete ständig darauf, dass mich der Roman wie angekündigt „zwingt, herkömmliche Vorstellungen in Frage zu stellen“, was aber leider nicht so richtig geschehen wollte. Das Ende fand ich rund und gelungen, auch wenn es mir nicht lange im Kopf bleiben wird.

„Im September und Oktober packte die Kohlmeisen die Zerstörungswut: Sie zerfetzten Papier und pickten Löcher ins Holz. Das schien ihnen ganz einfach Spaß zu machen, außerdem hatten sie viel freie Zeit, nun da ihr Nachwuchs selbst für sich sorgen konnte und sie noch nicht mit Vorbereitungen für den Winter zu beginnen brauchten.“ Seite 101

Protagonistin (+/-)

Was die Heldin betrifft, bin ich ebenfalls zweigeteilt. Um ehrlich zu sein, war mir Len Howard in ihren frühen Jahren am sympathischsten. Ihren Drang, sich von der Familie und deren (konservativen) Werten zu emanzipieren und die Welt zu entdecken, kennt wohl jede/r Heranwachsende. Jedoch gelang es mir im ganzen Buch nicht, eine wirklich enge Bindung zur Hauptfigur aufzubauen. Sie schien mir oft kühl, wenig emotional und bot (abgesehen von ihrer Tierliebe und ihrem Engagement für die Vögel) wenig Identifikationsfläche. Mit zunehmendem Alter wird die Forscherin immer mürrischer und scheint immer weniger Geduld mit den Menschen zu haben (was an sich eigentlich schon eine glaubwürdige Entwicklung ist). Nicht immer konnte ich dabei Lens Verhaltensweisen verstehen. Zum Beispiel hatte ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass sie sich nach ihrem Umzug überhaupt nicht mehr bei ihrer Familie gemeldet hat – angeblich, weil sie so viel zu tun hatte. Meiner Meinung nach eine Ausrede. Sie entschloss sich bewusst, ihre Schwester, die ihre Mutter und ihren Bruder alleine pflegte, vollkommen im Stich zu lassen. Das hat meine Gefühle ihr gegenüber nicht gerade erwärmt.

„Auf dem Rückweg fängt es an zu schneien. Der Schnee bringt Trost und Verheißung. Kinder dürfen noch kurz nach draußen, Erwachsene begreifen wieder, dass sie auch mal Kinder waren.“ Seite 96

(Neben)Figuren (-)

Auch hier muss ich mich einigen anderen RezensentInnen leider anschließen. Während die tierischen Mitbewohner der Forscherin detailliert beschrieben und liebevoll ausgearbeitet werden, so bleiben menschliche WegbegleiterInnen meist nur kurz in Lens Leben, sind dabei oft blass und austauschbar. Man erfährt (bis auf wenige Ausnahmen) einfach zu wenig über sie, um sie ins Herz zu schließen, obwohl man das eigentlich doch möchte. Manchmal fehlt dieses gewisse Etwas, das sie unverwechselbar und unvergesslich macht. Dieser Eindruck hängt wohl auch mit den großen Zeitsprüngen zwischen den Kapiteln zusammen, nach denen man sich immer erst einmal wieder in Gwendolens Leben zurechtfinden muss.

Spannung & Atmosphäre (-)

„Das Vogelhaus“ ist ein ruhiges, stilles, manchmal melancholisches, teilweise sehr atmosphärisches Buch, das stark von Lens alltäglichen Beobachtungen durchzogen ist. In manchen Momenten fand ich das Buch wunderbar entschleunigend, faszinierend, überzeugend, poetisch, oft fand ich es jedoch auch langatmig, teilweise sogar langweilig und musste mich zwingen / motivieren, weiterzulesen. Einen durchgehenden Spannungsbogen gibt es nicht, es sind eher Neugier und Interesse für diese ungewöhnliche, progressive Frau, die einen weiterlesen lassen. Punktuell wird durchaus Spannung aufgebaut, was gut gelingt, die Durststrecken dazwischen haben mich jedoch immer wieder gestört.

„Am Strand zieht feiner Regen graue Streifen durch die Luft – grauer Strand, graues Meer, grauer Himmel. Meine Lippen sind salzig, ich summe Noten, um meine Stimme zu hören. Sie verwehen.“ Seite 120

Geschlechterrollen (♥)

Gwendolen Howard war ohne Frage eine Frau, die für ihre Zeit ungewöhnlich, vielleicht sogar geradezu empörend emanzipiert war. Sie verteilt Flyer für die Suffragetten-Bewegung und lässt sich auch sonst von niemandem etwas vorschreiben, geht ihren eigenen Weg. Zudem weigert sie sich zeitlebens, zu heiraten, unter anderem wohl auch, um ihre Freiheit zu behalten. Trotz ihrer konservativen Familie, die ihr versichert, dass sie nicht arbeiten müsse, dass es ihre Aufgabe sei, sich wie eine Dame zu verhalten und einen respektablen Ehemann zu finden, beschließt Len, Violinistin zu werden und in einem Orchester zu spielen. Sie arbeitet hart für ihre Erfolge, wehrt sich gegen Sexisten und kritisiert immer wieder die Tatsache, dass in der Wissenschaft Frauen oft nicht so ernst genommen werden wie Männer. Lens Freundinnen leben ebenfalls lange Jahre ein sehr selbstbestimmtes Leben, manche haben zahlreiche Liebhaber – niemals wird dieses moderne Liebesleben im Buch verurteilt, was ich großartig finde (vor allem in einem Roman, der in der Vergangenheit spielt)! Aus all diesen Gründen konnte mich „Das Vogelhaus“, was diesen Aspekt betrifft, auf ganzer Linie überzeugen!

Mein Fazit

„Das Vogelhaus“ ist ein interessanter, stiller Roman, der mich leider insgesamt nicht ganz überzeugen konnte. Der Schreibstil ist angenehm und flüssig, sensibel, manchmal aber auch langatmig, kühl und distanziert, auch zur Hauptfigur blieb leider immer eine gewisse Distanz, was mit Sicherheit auch an den großen Zeitsprüngen im Buch liegt. Die Nebenfiguren fand ich leider blass und austauschbar (bis auf wenige Ausnahmen), überhaupt fehlten mir insgesamt Tiefe und Spannung. Dennoch gab es auch Aspekte, die mich überzeugen konnten: Manche Beschreibungen waren poetisch bis philosophisch, Lens enge Freundschaft zu den Vögeln und ihre Beobachtungen sind faszinierend und lehrreich und ihre Liebe zu den Tieren ist auf jeder Seite spürbar. Die Forscherin war eine interessante, ungewöhnlich moderne, leidenschaftliche und feministische Frau, daher ist es schön, dass die Autorin mit diesem Buch dafür sorgt, dass sie nicht in Vergessenheit gerät.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 3,5 Sterne
(Neben)Figuren: 2-3 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Interessant und lehrreich!

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 nicht ganz überzeugte Lilien!

Veröffentlicht am 31.10.2018

Rundum gelungene Fortsetzung: überzeugende Figuren, atemlose Spannung & Tiefe

Rache der Orphans
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Evan Smoak ist als der „Nowherre Man“ bekannt. Er hilft Menschen, die in großen Schwierigkeiten stecken und geht dabei nach einem strengen Moralkodex vor. Doch das war ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Evan Smoak ist als der „Nowherre Man“ bekannt. Er hilft Menschen, die in großen Schwierigkeiten stecken und geht dabei nach einem strengen Moralkodex vor. Doch das war nicht immer so – früher war Evan ein Auftragskiller der Regierung – dieselben Auftraggeber wollen ihn und das gefährlich Wissen, das er besitzt, nun auslöschen. Dabei machen sie auch nicht vor jenen Menschen halt, die Evan die Welt bedeuten. Als Jack, sein Ziehvater und Ausbilder, von seinen Feinden getötet wird, zählt für Evan nur noch ein Gedanke: Rache, denn dieses Mal ist es persönlich. Vor seinem Tod gelingt es Jack jedoch noch, Evan eine mysteriöse Nachricht zu hinterlassen: Er soll ein Paket abholen. Eine Mission, die ganz anders verlaufen wird, als der erfahrene Killer denkt, und die sein Leben auf den Kopf stellen wird…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #3 der Orphan-Reihe
Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 464
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich aus männlicher Perspektive (Evan Smoak), manchmal auch weibliche Perspektive, wechselnde Perspektiven
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: - Eine Ente wird als Köder benutzt und im Anschluss kaltblütig erschossen. Ansonsten werden keine Tiere verletzt oder getötet. Unangebracht fand ich den Vergleich des Geräusches, das die Bremsscheiben eines Autos machen, mit dem Geräusch, das ein Huhn macht, wenn man ihm den Hals umdreht. Es sollte wohl lustig sein, aber das ging daneben, da ich Gewalt gegen Tiere absolut nicht witzig finde.

Warum dieses Buch?

Da mich der erste Band damals vollkommen begeistern konnte und bis heute einer meiner absoluten Lieblingsthriller ist, begleite ich Evan Smoak nun schon seit einigen Jahren auf seinem Weg. Der Protagonist ist einmalig, nicht nur gnadenlos effektiv und gefährlich, sondern ebenso gnadenlos sympathisch. Daher führte an diesem dritten Band natürlich kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Wie immer ist mir der Einstieg wieder sehr leicht gelungen. Sofort war ich wieder in Evans Welt, es ist mittlerweile ein bisschen so wie heimkommen – ein Gefühl, dass bei mir nur beim Lesen absoluter Lieblingsreihen aufkommt. Der spannende Prolog, in dem Evan verletzt am Steuer sitzt, von der Polizei verfolgt wird und besorgt an die Person denkt, die laut im Kofferraum gegen die Wand hämmert, macht sofort neugierig, denn natürlich will man wissen, wie Evan in diese Lage geraten konnte.

„Evan seufzte.
Jetzt hatten sich hinter ihm drei Streifenwagen mit voller Weihnachtsbeleuchtung und heulenden Sirenen auf beide Fahrbahnen verteilt und kamen immer näher.
Genau in diese Moment wurde auch das Hämmern aus dem Kofferraum lauter.“ E-Book, Position 38

Schreibstil (♥)

Auch dieses Mal gibt es am Schreibstil wieder nichts auszusetzen. Erneut schreibt Gregg Hurwitz einfach (dabei aber nicht oberflächlich), flüssig, angenehm – routiniert erzeugt er mit seinen Worten atemlose Spannung und beschreibt nuancierte Gefühle sehr intensiv, so dass man als LeserIn wieder stark emotional involviert ist. Evan Smoak lässt seine LeserInnen auch in diesem Band nicht kalt. Auch Spuren von Humor lassen sich im Buch finden. Die Erzählweise ist wieder sehr filmisch, schnell, temporeich – manche Szenenübergänge wirken wie Schnitte, das Kopfkino leuchtet in allen Farben auf und man kann die Verfilmung des Buches schon fast vor sich sehen. Man merkt definitiv, dass der Autor auch Drehbücher schreibt. (Übrigens soll die Reihe nun als Serie verfilmt werden – Vorfreude!)

„Trotz der großzügigen Dimensionen seiner Wohnung bekam Evan keine Luft mehr. Er spürte einen wilden Schmerz in seiner Brust, etwas, das er nicht einordnen konnte. Angst?“ E-Book, Position 70

Wie blutig schreibt Gregg Hurwitz?

Auch in diesem Band wird es mitunter wieder sehr blutig und brutal. Evan lässt seinen Rachegelüsten freien Lauf und zeigt nur wenig Mitleid mit seinen Feinden, die er gerne auch mal leiden lässt, bevor er sie endlich erlöst. Mir erschien Evan in diesem Band viel brutaler, gewissenloser, kälter und vielleicht sogar ein bisschen weniger liebenswürdig (den Ton Joey gegenüber fand ich teilweise unangebracht und zu schroff) als in den letzten Bänden – eine Veränderung, die mir zwar nicht wirklich gefallen hat, die jedoch aber auch irgendwie verständlich und nachvollziehbar ist (er trauert immerhin und ist wütend, macht eine schwierige Phase durch).

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Auch dieses Mal gelingt es dem Autor wieder, einen wendungsreichen, unvorhersehbaren Plot mit klassischen Thrillerelementen und ernsten Themen zu verbinden und dabei in die Tiefe zu gehen. „Rache der Orphans“ bietet nicht nur actionreiche Verfolgungsjagden und Kampfszenen, sondern ebenso wieder stille und intensive Momente, in denen Evan seine sensible Seite, sein Mitgefühl und seine Trauer zeigen darf. Erneut spielen Themen wie Kindheit, Pflichten, Opfer, die man bringen muss, die Frage, was ein glückliches Leben, was Stärke ausmacht, Verantwortung, Trauer, Rache, moralisches Handeln und Familie wieder eine wichtige Rolle. Teilweise nimmt Evan in diesem Buch erstmals die Rolle eines Vaters ein – neues Terrain für den eigentlich distanzierten Einzelgänger. Der Showdown am Ende macht neugierig auf die Fortsetzung und kann wieder mit einigen unerwarteten Wendungen und gelungenen Momenten aufwarten – Gregg Hurwirtz hat erneut ein Buch geschrieben, das das Label „Thriller“ verdient.

Etwas negativ aufgefallen ist mir erstmals das übertriebene Product Placement im Buch. Wahrscheinlich gab es das auch schon in den Vorgängerbänden, dieses Mal wurde aber meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Meiner Meinung nach hätte man nicht von jedem Wasserhahn-, Mikroskop- und Tintenrollerhersteller den Namen nennen müssen, aber bitte. Weil es sich hier um ein Buch für Erwachsene handelt, die dies kritisch evaluieren können, sehe ich diesen Punkt nicht wirklich als problematisch, finde ihn nur etwas anstrengend manchmal.

Protagonist & Figuren (♥)

Auch wenn der Protagonist dieses Mal auch Seiten von sich gezeigt hat, die mir nicht wirklich gefallen haben (Rachegelüste, Grausamkeit, Gewissenlosigkeit, kein Mitgefühl bei seinen Feinden), so ist die Figurenentwicklung doch wieder eine der größten Stärken des ganzen Buches. Evan entwickelt sich weiter, hadert immer noch mit seinem Schicksal, verzaubert immer noch mit Szenen voller Mitgefühl und beweist erneut viel Herz. Gregg Hurwitz baut bekannte Figuren weiter aus, lässt sie gänzlich neue (und teilweise wunderbar überraschende) Facetten von sich zeigen, verleiht ihnen mehr Tiefe und Glaubwürdigkeit. Aber auch neue Charaktere werden eingeführt, auch sie sind liebevoll ausgearbeitet und können wieder vollkommen überzeugen. Von diesem Schriftsteller können sich einige andere AutorInnen eine dicke Scheibe abschneiden, denn ausgezeichnet kann ein Thriller nur sein, wenn er Spannung, Tiefe und dreidimensionale Figuren vereint. Gregg Hurwitz zeigt auch dieses Mal wieder, wie das geht.

„Er lag da und starrte an die wasserfleckige Karte an der Decke, auf der die ganze Welt in all ihrer Düsternis und Vielschichtigkeit abgebildet schien.“ E-Book, Position 1467

Spannung & Atmosphäre (+)

Auch wenn die Spannung nicht durchgehend atemlos ist (auch ruhigere Momente stehen im Fokus), so konnte mich der Autor dennoch mit vielen unerwarteten Wendungen, einem interessanten Plot und vielen actionreichen, spannenden Momenten überzeugen. Es machte wieder Spaß, Evan auf seinem Weg zu begleiten, sogar ein bisschen als als im ruhigeren, langsameren zweiten Band. Den Auftakt kann „Rache der Orphans“ zwar nicht toppen, aber Gregg Hurwitz schließt mit diesem Buch nahtlos daran an und beweist einmal mehr, dass diese Reihe zu einer der besten überhaupt gehört. Insgesamt sollen fünf Bände geplant sein – ich werde mit Sicherheit bis zum Schluss dabei sein und kann es kaum erwarten, bis die Fortsetzungen erscheinen!

Geschlechterrollen (+/-)

Dieses Mal gibt es in diesem Bereich zwar wieder viel, aber nicht nur Lob von mir. Einerseits ist Evan selbst kein Sexist, sondern putzt und kocht mit Leidenschaft, bewundert manche Dame für ihre ausgefeilte Kampftechnik und fühlt sich beispielsweise auch von einer erfolgreichen Anwältin nicht eingeschüchtert. Zudem gibt es ein breites Spektrum von Frauen im Buch – mächtige, gut ausgebildete, erfolgreiche Frauen, alleinerziehende Mütter, eiskalte Killerinnen – und wichtige Themen wie Gewalt gegen Frauen werden angemessen aufgegriffen und kritisiert. Auch klassische Geschlechterstereotypen wie die Behauptung, dass Mädchen kein räumliches Vorstellungsvermögen hätten, werden widerlegt. Andererseits lässt sich hin und wieder leider auch frauenfeindliche Sprache im Buch finden, Frauen werden (selten zwar, aber immerhin) als Schlam+++, sogar Fo++++ bezeichnet, Mädchenparfüm wirke angeblich fehl am Platz neben Computern, Prostitution wird nicht genügend verurteilt, sondern Prostituierte werden sogar noch abwertend von Evan als Nu++++ bezeichnet, einmal werden zurechtgemachte Frauen als „nuttig aufgemachte Tussis“ beschrieben. Wenn der Autor in den nächsten Bänden noch ein kleines bisschen sensibler auf diesen Aspekt eingeht, bekommt er auch hier die volle Punktzahl!

„‘Es heißt doch immer, Mädchen haben kein räumliches Verständnis. Hat man offenbar vergessen, mir zu sagen.‘
‚Du hättest sowieso nicht hingehört.‘“ E-Book, Position 1730

Mein Fazit

Gregg Hurwitz liefert wieder ab und beweist einmal mehr, dass die „Orphan X“-Reihe zu den besten überhaupt gehört und dass man sie sich keinesfalls entgehen lassen sollte. Der Schreibstil ist wie gewohnt angenehm, erzeugt routiniert Spannung und beschreibt Emotionen intensiv und nuanciert – lässt die LeserInnen also niemals kalt. Inhaltlich gelingt es dem Autor wieder, einen interessanten, unvorhersehbaren Plot mit klassischen Thriller-Elementen und Tiefe zu verbinden, Themen wie Verantwortung, Familie, Trauer, Opfer, die man bringen muss, und Rache stehen dieses Mal im Mittelpunkt. Die Figurenzeichnung gehört wieder zur den größten Stärken des Buches, Evan darf neben seinen Rachegelüsten und seiner Wut auch wieder seine sensible Seite und viel Herz zeigen, altbekannte Charaktere enthüllen neue, wunderbar überraschende Facetten von sich, neue Figuren überzeugen ebenso. Auch, was die Spannung, die actionreichen Szenen, die unerwarteten Wendungen und die Spuren von Humor betrifft, die das Buch wieder durchziehen (obwohl auch wieder Zeit für ruhigere Momente ist), gibt es hier nichts auszusetzen. Kurz: Für Fans sowieso ein Muss, und wer die Reihe bisher noch nicht auf dem Schirm hatte, dem möchte ich sie hiermit wärmstens ans Herz legen (unbedingt mit Band 1 beginnen!). Für mich und alle anderen Fans heißt es nun erst einmal wieder warten, bis Evans Geschichte 2019 endlich weitergeht und der Nowhere Man sich endlich wieder am Telefon meldet mit den Worten: „Brauchen Sie meine Hilfe?“

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Dialoge: 5 Sterne ♥
Protagonist: 4,5 Sterne
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4,5 Sterne
Humor: +
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4,5 Sterne
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 5 verdiente Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 11.10.2018

Gelungenes, sensibel geschriebenes Jugendbuch

Der nächstferne Ort
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Spoilerfreie Rezension

Inhalt

Das Schlimmste, was Kindern überhaupt passieren kann, widerfährt dem 15-jährigen Dylan und seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Griff: Bei einem schrecklichen Autounfall ...

Spoilerfreie Rezension

Inhalt

Das Schlimmste, was Kindern überhaupt passieren kann, widerfährt dem 15-jährigen Dylan und seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Griff: Bei einem schrecklichen Autounfall verlieren sie beide Eltern und sind nun auf sich gestellt. Eine schwierige, schmerzhafte Zeit der Trauerverarbeitung beginnt und die Brüder müssen ihren neuen in Platz in ihrem veränderten Leben erst finden. Dylan tut sein Bestes, um Griff dabei zu unterstützen, auch wenn dieser manchmal alle von sich wegstößt…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Königskinder Verlag
Seitenzahl: 336
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus männlicher Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: ♥ Es werden keine Tiere im Buch verletzt oder getötet – im Gegenteil, die Jungen entwickeln eine Freundschaft zu zwei Katzen und einem Hund und behandeln diese sehr liebevoll. Wichtig ist mir, an dieser Stelle zu betonen, dass Katzen unbedingt immer mindestens zu zweit gehalten werden müssen, da sie KEINE Einzelgänger sind. Kleine Kätzchen und reine Wohnungskatzen alleine zu halten ist besonders grausam, da der Mensch einen Katzenfreund niemals ersetzen kann. Auf Dauer werden aufgrund von Einsamkeit dann oftmals Depressionen und Verhaltensstörungen wie Aggressivität und exzessives Kratzen an Möbeln entwickelt. Wer also seine Katze liebt, schenkt ihr einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang einfach berührend, und ich habe im Vorfeld einige begeisterte LeserInnenstimmen gehört. Daher führte an diesem Buch kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg hat mir gut gefallen, denn hier lernt man Dylans und Griffs Familie genauer kennen und bemerkt sofort ihre liebevollen Neckereien untereinander und den Humor der Eltern. Das ist wichtig, da auf diese Weise aufgezeigt wird, wie glücklich die Kindheit der beiden Brüder bis zu diesem Punkt war. Umso schockierender endet das Kapitel dann, als die Familie auf der Rückfahrt aus dem Urlaub in einen furchtbaren Unfall verwickelt wird. Natürlich wollte ich sofort weiterlesen und herausfinden, wie Griff und Dylan mit diesem unaussprechlichen Verlust umgehen.

"Alles bleibt stehen, als würde man bei einem Film die Pausentaste drücken, und nichts wird mehr so sein, wie es war." E-Book, Position 166

Schreibstil (+)

Der Schreibstil ist für junge LeserInnen ab 14 Jahren sehr gut geeignet, auch wenn mir scheint, dass ältere Jugendliche damit bereits unterfordert sein könnten, da er doch recht einfach ist und keine wirkliche Herausforderung darstellt. Hayley Long schreibt angenehm und flüssig, wird dabei aber niemals oberflächlich, sondern geht besonders bei den Gefühlen, Gedanken und Reflexionen der Hauptfigur in die Tiefe. Durch diese intensive Schilderung der Innenwelt fällt die Identifikation mit dem Protagonisten leicht und man ist schnell emotional involviert.
Interessant und auffällig ist die Formatierung des Textes, die ebenfalls zur Emotionalität beiträgt: So werden geschriene Worte größer gedruckt und geflüsterte Sätze ganz klein und zart. Auch diese Besonderheit konnte mich überzeugen, weil die Gestaltung sich innovativ zeigt und alle Ebenen nutzt, um die Gefühle der Figuren zu vermitteln.

„Wobei ‚groß‘ nur ein Wort ist. Es sagt für sich genommen eigentlich nicht viel aus. Groß kann alles bedeuten, wenn man nicht weiß, wie groß die Größe ist.“ E-Book, Position 468

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Die Autorin beschäftigt sich in diesem Buch mit einem Thema, das schon unzählige Male in der Literatur behandelt wurde: Trauer und ihre Verarbeitung und Bewältigung. Dennoch findet Hayley Long ihren ganz eigenen Zugang und schreibt eine leise, aber kraftvolle Geschichte für Jugendliche, in der das Thema altersgerecht und angemessen aufbereitet wird. Trotz des schlimmen, schmerzhaften Verlustes, ist die Stimmung dabei niemals deprimierend, sondern enthält immer wieder hoffnungsvolle und positive Momente, die zeigen, dass das Leben weitergeht. Und dass das genau so sein muss, weil die Toten nichts davon haben, wenn die Lebenden in Hoffnungslosigkeit versinken. Die Geschichte zeigt auch, dass das Schwelgen in Erinnerungen an „bessere Zeiten“ zum Trauern dazugehört, dass man dabei jedoch niemals die Zukunft aus den Augen verlieren darf.

Die Geschichte beschäftigt sich zusätzlich mit vielen weiteren Aspekten: Es geht um elterliche und besonders brüderliche Liebe, um gute Menschen, die eine Stütze sind, um das Schließen neuer Freundschaften und um die Frage, was eine Heimat eigentlich ausmacht. Besonders gut gefallen hat mir auch, dass gezeigt wurde, welche positive Wirkung Tiere auf trauernde Menschen haben können. Wer selbst eine Katze, einen Hund oder einen anderen tierischen Gefährten besitzt, weiß, dass auch der größte Schmerz nur mehr halb so schlimm scheint, wenn etwas Flauschiges um die Beine streicht oder sich an einen schmiegt. Die Autorin bemüht sich sichtlich, die Themen tiefgründig zu behandeln und meist gelingt ihr das auch. Manchmal hatte ich aber das Gefühl, dass an manchen Stellen das Potential nicht vollständig genutzt werden konnte, dass manches nur angerissen und nicht so detailliert ausgearbeitet wurde, wie ich mir das gewünscht hatte. Hier vermute ich auch, dass es eventuell einfach daran lag, dass ich nicht mehr in die Zielgruppe falle.

Manche Momente fand ich wirklich intensiv, kraftvoll und ganz stark und erschütternd beschrieben, andere konnten mich nicht erreichen. Beim Lesen blieb manchmal eine gewisse Distanz zu den Figuren, das Buch konnte mich an solchen Stellen leider nicht so berührend und emotional mitnehmen, wie ich mir das gewünscht hätte. So kam es, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen Menschen niemals beim Lesen weinen musste (einmal war ich immerhin kurz davor), obwohl ich eigentlich ein sehr emotionaler Mensch bin. Das Ende fand ich dann aber sehr gelungen und berührend, ich mochte es sehr.

„Meine Mum und mein Dad haben nie etwas aufbewahrt. ‚Wir sind wie rollende Steine‘, hatte meine Mutter mehr als ein Mal erklärt, ‚wir setzen kein Moos an.‘“ E-Book, Position 587

Protagonist & Figuren (+/-)

Dylan konnte mich als Protagonist überzeugen, ich mochte seine ruhige, nachdenkliche Art und fand es ganz wunderbar, wie er auf seinen Bruder aufpasst und ihm hilft, diese schwierige Zeit durchzustehen. Auch Griff war mir sympathisch, auch wenn es oft schwer ist, herauszufinden, was in ihm vorgeht, da er seine Trauer oft durch Rückzug, Wut und Verschlossenheit zeigt. Sein Verhalten, diesen Kampf mit den Emotionen, beschreibt die Autorin im Buch wirklich sehr authentisch. Dylan kam mir interessanterweise beim Lesen immer viel jünger vor als 15 Jahre. Auf mich wirkten aber beide Jungen für ihr Alter noch recht kindlich, bei Dylan war mir das stellenweise etwas zu viel.

Die Nebenfiguren waren ebenfalls gut ausgearbeitet, erhalten Stärken, Schwächen und sind interessante Persönlichkeiten. Besonders gern mochte ich hier natürlich wieder die tierischen Mitbewohner, deren bedingungslose Liebe und Unterstützung sehr anschaulich geschildert wurden. Dennoch konnten mich die Nebencharaktere nicht ganz erreichen und begeistern, es blieb eine gewisse Distanz, auch hier hätte ich mir bei manchen Figuren mehr Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Tiefe gewünscht.

„Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mir die Fernbedienung geschnappt und diese ganze schreckliche Geschichte einfach weggezappt. Und dann wäre ich losgerannt zum nächstfernen Ort und für immer dort geblieben.
Doch das ging nun mal nicht.
Weil da noch andere Leute mit mir in diesem Film waren. In diesem Auto.
Und einer von ihnen brauchte mich.“ E-Book, Pos. 179

„Und in diesem Augenblick wollte ich ihn unbedingt berühren. Ich musste einfach. Also nahm ich seine Hand, so wie Eva vorhin, und versuchte es noch einmal. ‚Es geht jetzt nur um dich, Griff,‘ flüsterte ich. ‚Nur um dich. Und ich verspreche dir, dass ich stark sein werde und dir da durchhelfe.‘“ E-Book, Position 311

Spannung & Atmosphäre (+)

Nach dem schrecklichen Unfall am Beginn des Buches wollte ich unbedingt wissen, wie es den Jungen mit ihrer Trauer ergehen würde und ich habe sie gerne auf ihrem Weg begleitet. Auch wenn „Der nächstferne Ort“ ein ruhiges, stilles Buch ist, wurde mir beim Lesen niemals langweilig. Eine wirklich überraschende Wendung, mit der ich in diesem Jugendbuch niemals gerechnet hätte, hat die Autorin übrigens auch eingebaut. Nur wenige Seiten vor der Enthüllung wusste ich plötzlich viele kleine Puzzlesteinchen und Zeichen zu deuten. Hayley Long hat das extrem geschickt gemacht – wenn man sich manche Szenen im Nachhinein noch einmal durchliest, wird das besonders deutlich (weshalb ich es euch dringend empfehlen möchte). Toll!

Geschlechterrollen (+)

Hier gibt es kaum etwas auszusetzen, die Frauen im Buch sind stark und selbstbewusst und lassen sich nichts gefallen. Dabei haben sie angesehene Berufe und arbeiten in Führungspositionen. Lediglich entsteht das Gefühl, dass die Frauen vermehrt zu Hause kochen, hier hätte ich mir gewünscht, das auch einmal bewusst ein Mann beim Kochen gezeigt wird.

Mein Fazit

„Der nächstferne Ort“ ist ein gelungenes Jugendbuch, das schwierige Themen wie Trauer(bewältigung), Freundschaft, Hoffnung, Liebe und die Frage danach, was eine Heimat ausmacht, gelungen, tiefgründig und altersadäquat behandelt. Der einfache, angenehme Schreibstil mit seiner besonderen, innovativen Formatierung und seiner eindringlichen Schilderung der Gefühle und Gedanken der Figuren konnte mich ebenso überzeugen wie die liebevolle Zeichnung des Protagonisten und der vollkommen unerwartete Twist. Bei einigen Nebenfiguren hätte man noch mehr in die Tiefe gehen können, ich hätte mich stellenweise über noch etwas mehr Unverwechselbarkeit, Tiefe und Einzigartigkeit gefreut. Trotz der Bemühungen der Autorin und manch erschütternder, kraftvoller, intensiver Szene war bei mir in anderen Momenten eine gewisse Distanz zur Geschichte vorhanden und ich habe leider nicht so mitgelitten und war nicht emotional so stark involviert, wie ich mir das gewünscht hätte. Kurz: „Der nächstferne Ort“ ist ein überzeugendes, sensibel geschriebenes Jugendbuch, das mir gut gefallen hat und das ich ohne Zögern Jugendlichen empfehlen würde – um ein absolutes Lieblingsbuch zu sein, fehlte mir aber hier und da das gewisse Etwas.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Einstieg: 4,5 Sterne
Schreibstil: 4 Stern
Protagonist: 4 Sterne
(Neben)Figuren: 3-4 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 3-4 Sterne
Geschlechterrollen: +

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 05.10.2018

Unterhaltsamer Jugendroman mit Schwächen

Tell me three things
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Nach dem Tod ihrer Mutter hat sich Jessies Vater neu verliebt. Nach der überraschenden Hochzeit mit seiner neuen Frau namens Rachel zieht die Familie nach Los Angeles ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Nach dem Tod ihrer Mutter hat sich Jessies Vater neu verliebt. Nach der überraschenden Hochzeit mit seiner neuen Frau namens Rachel zieht die Familie nach Los Angeles um – sehr zum Missfallen von Jessie. Sie verliert auf einen Schlag alles, was sie kennt – ihre Freunde, ihr Haus, ihre gewohnte Umgebung – und wird nicht einmal gefragt, was sie davon hält. In der schönen Villa der neuen Frau steht Jessie mit Rachel und Theo, ihrem Stiefbruder, auf Kriegsfuß. Ihr erster Schultag an der Schule der Reichen und Schönen ist eine Katastrophe. Doch dann erscheint unerwartet ein Lichtblick am Horizont: Ein anonymer Fremder schreibt ihr eine E-Mail und bietet an, ihr zu helfen, die größten Hindernisse im Schulalltag zu umschiffen. Aus Mangel an Alternativen beschließt Jessie, dem Verfasser zu vertrauen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: ONE
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext hat mich vage an das Buch „Nur drei Worte“ / „Simon vs the Homosapiens Agenda“ erinnert, das ich sehr gerne mochte. Zusätzlich haben mich die begeisterten LeserInnenstimmen neugierig gemacht.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Den Einstieg fand ich absolut gelungen. Die Geschichte beginnt mit der ersten rätselhaften Mail, die Jessie nach ihrer ersten Schulwoche erhält. Diese interessante Ausgangsituation und die humorvolle Art, in der das Schreiben verfasst ist, haben mich einige Male zum Schmunzeln gebracht und natürlich auch Neugierde in mir geweckt.

„Siebenhundertdreiunddreißig Tage nachdem meine Mom gestorben ist, fünfundvierzig Tage nachdem mein Dad heimlich eine fremde Frau aus dem Internet geheiratet hat, dreißig Tage nachdem wir daraufhin Hals über Kopf nach Kalifornien gezogen sind und nur sieben Tage nachdem ich zum ersten Mal meine neue Schule besucht habe, auf der ich so gut wie niemanden kenne, erhalte ich eine E-Mail.“ E-Book, Position 50

Schreibstil (+)

An Julie Buxbaums Schreibstil gibt es nichts auszusetzen. Sie schreibt flüssig, locker, angenehm und leicht verständlich, dennoch ist die Sprache nicht ZU einfach, unterfordernd oder oberflächlich. Die Gefühle und Gedanken der Hauptfigur werden zudem anschaulich, intensiv und verständlich geschildert. Das jugendliche Zielpublikum wird also keine Probleme haben, sofort in die Geschichte einzutauchen.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Der Fließtext über Julies Leben wird immer wieder unterbrochen von den mysteriösen Mails und – später dann – auch von verschiedenen Chatverläufen. Diese haben die Geschichte aufgelockert und waren sehr gut mit dem Text verwoben. Tatsächlich hat mich die Story an einigen Punkten (zu) stark an „Nur drei Worte“ / „Simon vs the Homosapiens Agenda“ erinnert. Zwar hatte ich nicht wirklich das Gefühl, eine Kopie vor mir zu haben, jedoch hätte ich mir schon gewünscht, dass die Autorin hier stärker ihren eigenen Weg gegangen wäre. Das Ende fand ich ebenfalls nett – nichts was mir lange in Erinnerung bleiben wird, aber ich war damit zufrieden.

Das Buch behandelt typische Jugendthemen wie Selbstfindung, Emanzipation von der Familie und Schule, wagt sich jedoch auch an erstere Themen wie Verlust, Trauer, Einsamkeit und Mobbing heran. Einige dieser Themen wurden durchaus tiefgehend behandelt, an manchen Punkten hätte die Autorin aber noch mehr in die Tiefe gehen müssen. Zudem war mir für die gewählten Themen der Ton manchmal etwas zu locker und fröhlich, hier hätte man keine Scheu vor traurigeren, emotionaleren Momenten haben dürfen. Dann hätte mich die Geschichte bestimmt noch stärker berührt.

„Eine der schlimmsten Erfahrungen, wenn jemand stirbt, ist, an all die Momente zurückzudenken, in denen man nicht die richtigen Fragen gestellt hat, all die Momente, in denen man fälschlicherweise geglaubt hat, noch unendlich viel Zeit zu haben.“ E-Book, Position 368

Protagonistin & Figuren (+)

Jessie mochte ich als Protagonistin gern. Die Autorin hat sie liebevoll gezeichnet und verleiht ihr sowohl eine sympathische Persönlichkeit und Stärken als auch authentische Schwächen, Zweifel und Probleme. Als Gesamtpaket ist Jessie eine auf angenehme Weise nicht perfekte, dreidimensionale Heldin, mit der sich auch das Zielpublikum gut identifizieren können wird. So besonders und einmalig, dass sie mir für immer in Erinnerung bleiben wird (wie zum Beispiel June aus „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ von Carol Rifka Brunt), fand ich sie allerdings leider nicht. Aber das ist wohl einfach Geschmackssache.

Auch viele der Nebenfiguren sind gut ausgearbeitet und konnten mich überzeugen. Einige bleiben aber leider auch sehr blass und austauschbar und verkörpern das eine oder andere Klischee (z. B. Gem als das gemeine, schöne, beliebte Mädchen der Schule). Hier hätte ich mir doch etwas mehr Individualität, Innovation und Tiefe gewünscht.

Humor (+)

Der Humor hat zwar nicht durchgehend meinen Geschmack getroffen (manchmal war er mir ein wenig übertrieben), aber teilweise musste ich echt schmunzeln und manchmal sogar lachen. Dafür gibt es ein Lob, da das nur wenige Bücher bei mir schaffen.

"- weiß du, man sagt, je zufriedener du in der schulzeit bist, desto weniger erfolgreicher wirst du später im leben sein. […]
- Ach ja? Dann sieht es für mich ja super aus, und ich werde Vorstandsvorsitzende der ganzen verdammten Welt.“ E-Book, Position 715

Liebesgeschichte (+/-)

Ich mochte die Liebesgeschichte und konnte auch verstehen, warum sich die Beteiligten zueinander hingezogen fühlen und warum sie einander mögen (in manchen Büchern scheitert es ja bereits daran). Manche Entwicklungen gingen mir allerdings eine Spur zu schnell und auch die Chemie zwischen den Liebenden war nicht so stark, dass ich beim Lesen dieses berühmte Kribbeln gefühlt hätte. Vor allem bei Erzählungen aus der Ich-Perspektive muss ich mich selbst ein bisschen in den/die Angebetete/n verlieben, sonst ist die Beschreibung der Liebesgeschichte meiner Meinung nach nicht hundertprozentig gelungen. Sehr gut gemacht hat das beispielsweise John Green in „The Fault in our Stars“ / „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Ich war zwar durchgehend neugierig, wie die Geschichte ausgehen würde und wer sich hinter dem Unbekannten verbirgt, und fühlte mich auch meist gut unterhalten, jedoch gab es immer wieder langatmige Stellen, denen mehr Spannung wirklich gutgetan hätte. Ein bisschen weniger Vorhersehbarkeit (ich lag mit meinen Vermutungen fast immer richtig) und mehr unerwartete Wendungen hätten das Buch sicher noch besser gemacht.

Die Stimmung im Buch hat mich tatsächlich auch stark an „Nur drei Worte“ erinnert, denn auch hier fühlt sich die Lektüre trotz ernster Themen hoffnungsvoll, beschwingt, locker und irgendwie positiv an, auch wenn die Hauptperson eigentlich noch stark um ihre Mutter trauert. Zusätzlich gibt es auch immer wieder humorvolle, emotionale, traurige und sogar wütend machende Szenen, die dafür gesorgt haben, dass ich mit Jessie mitfühlen konnte und stellenweise stark emotional involviert war (auch wenn hier sicher noch Luft nach oben war).

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (-!)

Es gibt nur wenige positive Aspekte, die mir aufgefallen sind. Gefallen hat mir zum Beispiel, dass Jessie eine starke, intelligente Hauptfigur ist, die auch einmal den ersten Schritt macht, und dass das Liebesleben von Jessie und ihren Freundinnen, ihre Wünsche und Zweifel offen angesprochen wurden. Das finde ich gut, da heutzutage Mädchen in Jugendbüchern immer noch viel zu oft als absolut unschuldig und passiv dargestellt werden.

Leider gibt es auch einige Aspekte, die mir absolut nicht gefallen haben. Zum Beispiel die altmodischen Rollenbilder (Mutter kocht immer, Vater hat keine Ahnung von Haushaltsdingen) und die Behauptung, dass eine „echte“ Mutter nicht darauf bedacht sei, attraktiv auszusehen (aha, und warum nicht?). Hier gab es einfach zu viele Rollenklischees, die unreflektiert wiedergegeben wurden. Auch was ein positives Körperbild betrifft, das gerade für junge Mädchen (bei all den falschen Erwartungen, die durch die Medien geweckt werden!) sehr wichtig ist, bin ich hier sehr enttäuscht. Eine Mutter empfiehlt beispielsweise ihrer (keineswegs übergewichtigen Tochter), dass sie besser aussehen würde, wenn sie fünf Kilo abnehmen würde und wird dafür noch von der Hauptfigur gelobt. Auch die Formulierung, dass sich Jessie an einer Stelle vorkommt wie eine „peinliche Feministin“ finde ich absolut furchtbar! Es ist niemals peinlich, Feminist oder Feministin zu sein, vielmehr ist es peinlich, als vernünftig denkender Mensch NICHT für Gleichberechtigung zu kämpfen! Solche Worte in einem Jugendbuch sind absolut inakzeptabel.

Am meisten hat mich jedoch die Verwendung von frauenfeindlichen / sexistischen Ausdrücken wie „Schlam++“, „Zicke“, „Tussi“ und sogar „Hu++“ gestört. Einmal wird sogar angedeutet, dass es in manchen Fällen gerechtfertigt sei, so genannt zu werden. Ich bin es langsam wirklich leid, solche Ausdrücke in Jugendbüchern zu lesen, die dann unreflektiert von den Jugendlichen ebenfalls verwendet werden. Medien, auch Bücher, beeinflussen unterbewusst unsere Vorstellungen von Geschlechterrollen und verfestigen damit Rollenstereotypen, die einengen und gleichzeitig einen Risikofaktor für Gewalt an Frauen darstellen. AutorInnen müssen endlich sensibler mit dem Thema umgehen lernen und – wenn sie es selbst nicht schaffen – wäre es sehr wichtig, dass Verlage aufhören, Textstellen mit solchen Wörtern durchzuwinken.

Zum Thema mangelnde Vielfältigkeit (alle sind weiß, schlank, schön etc.) wurde von einer anderen Rezensentin ja schon genug geschrieben, also verweise ich hier nur auf ihre Rezension, die beim Stöbern leicht zu finden sein sollte.

Beispiele:

„Ich bin unschlüssig, ob ich eher wie ein Proll oder eine Schla+++ klinge […]“ E-Book, Position 138

„Monatelang hatte mein Dad Fragen gestellt, aus denen hervorging, dass er keine Ahnung hatte, wie unser Alltag funktionierte. Wo befindet sich bei uns das Kehrblech? Wie heißt der Direktor deiner Schule?“ E-Book, Position 530

„‘Meine Schwester ist auf der University of California und hu++ da total rum‘, sagte Agnes.“ E-Book, Position 1594

„Ich: Ich freue mich für dich, du liederliche Schla+++!“ E-Book, Position 3890

„‘Hu++‘, niest sie noch einmal […]“ E-Book, Position 2484

Mein Fazit

„Tell Me Three Things“ ist ein Jugendroman mit Schwächen, der mich insgesamt gut unterhalten konnte, der mich aber auch teilweise (zu) stark an „Nur drei Worte“ / „Simon vs the Homosapiens Agenda“ erinnert hat. Der Schreibstil ist flüssig, locker und angenehm lesbar und somit perfekt geeignet für die Zielgruppe, und auch die sympathische Hauptfigur konnte mich überzeugen. Von den Nebenfiguren sind manche sehr gelungen, einige von ihnen bleiben leider blass oder verkörpern Klischees. Themen wie Selbstfindung, Unabhängigkeit, Verlust und Mobbing werden angemessen behandelt, teilweise hätte man hier aber noch mehr in die Tiefe gehen und traurigere Momente zulassen können. Der Humor und die Liebesgeschichte haben mir insgesamt gefallen, mehr Spannung hätte dem Buch aber gutgetan, da ich manche Abschnitte langatmig fand. Was die Geschlechterrollen, die Thematisierung von Feminismus und die Verwendung von frauenfeindlichen Ausdrücken angeht, gibt es leider einiges zu kritisieren und ich würde mir hier wünschen, dass die Autorin im nächsten Buch DEUTLICH sensibler mit diesem Aspekt umgeht. Aus diesem Grunde würde ich das Buch Jugendlichen eher nicht empfehlen, sondern stattdessen auf das meiner Meinung nach gelungenere „Nur drei Worte“ von Becky Albertalli verweisen. Kurz: Julie Buxbaums Jugendbuch konnte mich insgesamt gut unterhalten, aber leider nicht ganz überzeugen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 3,5 Sterne
(Neben)Figuren: 3 Sterne
Humor: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 3-4 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2,5 Sterne
Ende: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Geschlechterrollen: -!

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 nicht ganz zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 02.10.2018

Ernüchterung: Ganz unterhaltsam, aber es fehlt an Tiefe

Blutrausch - Er muss töten (Ein Hunter-und-Garcia-Thriller 9)
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Es ist trotz ihrer jahrelangen Erfahrung ein Schock für Hunter und seinen Partner Garcia, die beide auf UV-Morde, ultra gewalttätige Verbrechen, spezialisiert sind, als ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Es ist trotz ihrer jahrelangen Erfahrung ein Schock für Hunter und seinen Partner Garcia, die beide auf UV-Morde, ultra gewalttätige Verbrechen, spezialisiert sind, als sie den Tatort ihres neuesten Falles zum ersten Mal sehen. Ein junges Model wurde brutal getötet, ihre Leiche ist in einem schockierenden Zustand. Der Täter hat den Schauplatz nach seinen Wünschen umgestaltet und hinterlässt den ErmittlerInnen eine rätselhafte lateinische Nachricht. Offensichtlich sieht er sich als Künstler. Und gerade arbeitet er daran, seine persönliche Galerie des Grauens zusammenzustellen.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 einer Reihe
Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus zahlreichen männlichen und weiblichen Perspektiven, auch aus der Perspektive des Mörders
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: - Wie so oft in Thrillern muss leider auch hier wieder eine Katze sterben (sie erfriert), um zu verdeutlichen, wie grausam der Killer ist. Das bin ehrlich gesagt langsam ein bisschen leid. Gut gefallen hat mir jedoch, wie empört die verschiedenen Figuren auf den Tod der Katze reagiert und dass sie viel Mitgefühl gezeigt haben. Wichtig ist mir, an dieser Stelle zu betonen, dass Katzen unbedingt immer mindestens zu zweit gehalten werden müssen, da sie KEINE Einzelgänger sind. Kleine Kätzchen und reine Wohnungskatzen alleine zu halten ist besonders grausam, da der Mensch einen Katzenfreund niemals ersetzen kann. Auf Dauer werden aufgrund von Einsamkeit dann oftmals Depressionen und Verhaltensstörungen wie Aggressivität und exzessives Kratzen an Möbeln entwickelt. Wer also seine Katze liebt, schenkt ihr einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Langsam habe ich es mich ja fast nicht mehr zuzugeben getraut, dass ich bisher noch keinen einzigen Carter gelesen hatte. Der Autor ist unter Thrillerfans sehr beliebt und es gibt einen regelrechten Hype um seine Bücher. Mit meiner „Bildungslücke“ in diesem Bereich, mit diesem dunklen, dunklen Geheimnis, wollte ich nun nicht mehr länger leben, daher habe ich mit dem neunten Band den Einstieg in die Reihe gewagt.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg ist mir sehr leicht gefallen. Bereits das erste Kapitel endet herrlich unheimlich und verursacht Gänsehaut. Danach begegnen wir Hunter, der vor einer Gruppe Studierender einen Vortrag über sein Berufsfeld hält, aber durch einen wichtigen Anruf unterbrochen wird und sich sofort zum Tatort aufmachen muss. Die ersten Seiten haben mich so neugierig gemacht, dass ich unbedingt weiterlesen wollte. Obwohl dieser Band meinen Reiheneinstieg darstellte, hatte ich keinerlei Verständnisschwierigkeiten. Es gibt zwar manchmal Anspielungen auf frühere Bände, jedoch hatte ich nie das Gefühl, dass mir wichtiges Vorwissen fehlt. Wer also auch überlegt, ob er in der Mitte der Reihe einsteigen kann, kann sich ganz beruhigt an seinen ersten Carter wagen.

Linda ist gerade dabei die Face-Swap-App an ihrem Kater auszuprobieren:
„Gleich darauf erschien ein erster roter Kreis um ihr Gesicht. Der zweite folgte wenig später – und als sie ihn sah, war ihre Brust auf einmal wie zugeschnürt, als hätte jemand einen Druckverband um ihr Herz festgezogen.
Die App hatte nicht Mr Boingos Gesicht markiert, sondern etwas im dunklen Türrahmen hinter ihr.“ Seite 9

Schreibstil (+/-)

Dem Schreibstil stehe ich zwiegespalten gegenüber. Chris Carter schreibt zwar sehr routiniert, flüssig, anschaulich und angenehm lesbar, jedoch kratzt er mir viel zu oft nur an der Oberfläche. Hier hätte ich mir detailliertere Schilderungen der Gefühle und Gedanken der Figuren gewünscht und generell mehr Tiefe. Mir ist auch nach den ersten Seiten aufgefallen, dass das Buch sehr dialoglastig ist, was zwar einerseits dazu führt, dass man es sehr schnell lesen kann, andererseits geht das leider auch zulasten der Tiefe. Gerätselt habe ich, warum man das halb übersetzte Wort „Promkönigin“ gewählt hat und nicht einfach das deutsche „Ballkönigin“. Hier sollte bedacht werden, dass viele Menschen nicht gut Englisch sprechen und dass solche Ausdrücke dann zu Frustration führen könnten.

„Seine Augenlider zuckten nicht einmal. Sie senkten sich nur wie schwere Jalousien, die am Ende eines sehr, sehr langen Tages heruntergelassen wurden.“ Seite 296

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Der Autor hat sich für dieses Buch einen interessanten Plot mit vielen Wendungen ausgedacht, der eine klassische Thrillerstruktur aufweist und zwar nicht mit Innovationen begeistert, mich aber insgesamt dennoch gut unterhalten konnte. So besonders und ungewöhnlich wie der Fall dargestellt wurde, fand ich (als erfahrene Thrillerleserin) ihn allerdings nicht. Sehr gut gefallen hat mir jedoch, dass vom Autor immer wieder interessante Fakten und Einblicke in die Ermittlungsarbeit eingewebt wurden. Der Showdown kurz vor dem Ende war sehr spannend und beinhaltete einige unerwartete Momente, bei denen ich gar nicht wusste, wie mir geschieht. Manche Aspekte am Ende waren erstaunlich unaufgeregt abgehandelt (hier hätte ich mir mehr erwartet), und natürlich ist der Schluss so geschrieben, dass die Neugier auf den Folgeband geweckt wird.

Besonders neugierig war ich, wie blutig Chri Carter tatsächlich schreibt, da ich von allen Seiten vorgewarnt wurde. Da ich gerne Horrorfilme ansehe, kann mich zwar nichts so schnell erschüttern, aber ich war natürlich trotzdem gespannt. Das Ergebnis: Ja, es gibt blutige, grausig geschilderte Stellen (der erste Schauplatz ist mit Sicherheit die größte Bewährungsprobe für sensible LeserInnen und empfindliche Mägen), aber diese halten sich doch weitgehend in Grenzen. Ich fand beispielsweise Karin Slaughters Schilderungen weitaus schockierender.

Leider fehlte mir auch bei der Behandlung der (wenigen) Themen wieder Tiefe. Viele Aspekte, die man sehr gut noch ausbauen hätte können, werden leider nur ganz kurz angeschnitten und dann nicht weiter ausgeführt. Ein guter Thriller muss aber meiner Meinung nach beides vereinen können: Spannung und Tiefe. Daher lässt mich dieser Aspekt ernüchtert zurück.

Dialoge (-)

Enttäuschend fand ich oft die Dialoge. Hier gab es mir zu viele Wiederholungen und zu viele sinnlose Fragen wie „Wie meinen Sie das?“, die das Buch künstlich strecken und den Spannungsaufbau hemmen. Auch die ständigen Sticheleien zwischen den Ermittelnden haben mich zunehmend genervt. Absolut unglaubwürdig fand ich die langsamen Schlussfolgerungen und Ermittlungserfolge der Polizisten und FBI-Agenten. Sehr oft verstand ich als Leserin schon lange vorher Zusammenhänge, die dann pathetisch und mit vielen Cliffhangern offenbart wurden. Daher klappt es natürlich oft auch nicht mit dem Überraschungseffekt und dem AHA-Moment. Ich verstehe zwar, dass man niemanden überfordern, sondern sicherstellen will, dass die LeserInnen folgen können, aber die Darstellung der Ermittelnden hat für mich einfach viel ruiniert. Auf mich wirkten sie sehr inkompetent und unglaubwürdig – und wenn das wirklich schon das Beste ist, was Polizei und sogar FBI zu bieten haben, dann gute Nacht!

Protagonist & Figuren (-)

Auch der Protagonist und die meisten anderen Figuren (Timothy ist hierbei beispielsweise eine Ausnahme) konnten mich nicht vollkommen überzeugen. Hunter fand ich zwar nett, und ich mochte seine ruhige, besonnene Art und seine schlauen Schlussfolgerungen, aber ich konnte absolut keine Bindung zu ihm und zu den meisten anderen Personen aufbauen, obwohl ich mich sehr bemüht habe. Dazu fehlte mir einfach Tiefe in Bezug auf die Gefühls- und Gedankenwelt. Die Figuren erschienen mir blass, eindimensional und austauschbar. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass die Geschichte aus so vielen verschiedenen Perspektiven erzählt wurde (was mich aber eigentlich überhaupt nicht gestört hat, weil es sehr gut gemacht war) oder daran, dass der Großteil der Charakterarbeit (die Hauptfigur betreffend) schon in den vorherigen Bänden steckt.

Manche Figuren waren mir leider auch unsympathisch, zum Beispiel fand ich die Zankereien zwischen der bissigen Agent Fisher und dem kindischen und provokanten Partner Garcia einfach nur nervig. Auch gab es kaum Charakterentwicklung, was mich ebenfalls enttäuscht hat. Wer von der Charakterzeichnung in diesem Buch ebenfalls nicht begeistert war und Lust auf einen Thriller hat, der atemlose Spannung mit großen Emotionen und liebevollster Figurenzeichnung kombiniert, dem kann ich nur die Thrillerreihe von Daniel Cole empfehlen, besonders „Hangman“.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch in diesem Bereich gab es Aspekte, die mich überzeugen konnten und Dinge, die mich enttäuscht zurückgelassen haben. Zuerst zum Positiven: Ich fand das Buch niemals langweilig, meine Neugier war eigentlich konstant hoch, ich wollte immer und durchgehend wissen wie es weitergeht. Ein Pageturner war es trotzdem nicht, weil die Spannung, (vermutlich auch durch die langwierigen Dialoge) immer wieder einbricht. Es gibt zwar schon einige absolut unerwartete Wendungen, die mich wirklich unvorbereitet trafen, und gekonnt platzierte Cliffhanger, jedoch hat der Autor es meiner Meinung nach bei Letzteren teilweise übertrieben. Beinahe jedes Kapitel endet mit solch einem Cliffhanger, manchmal wirken sie gewollt, fast parodistisch (als würde der Autor das Genre satirisieren) und erinnerten an Clickbait im Internet. Hier wäre also weniger meiner Meinung nach manchmal doch mehr gewesen.

„Die Fotos von Kristine Rivers hatten Hunter, Garcia und Captain Blake vielleicht überrascht – die Bilder des zweiten Opfers jedoch versetzten ihnen regelrecht einen Schock.“ Seite 145

„‘Was ist denn das?‘
Trotzdem schnitt er weiter, bis er den Brustkorb des Toten komplett geöffnet hatte.
Er traute seinen Augen nicht.
‚Das ist doch … unmöglich.‘“ Seite 254

Geschlechterrollen (♥)

Auch wenn im Verhältnis der Geschlechter etwas mehr Männer im Buch vorkommen als Frauen, finde ich den Umgang des Autors mit modernen Frauenrollen (bis auf einen kleine Szene in einem Restaurant, in dem bei der Toilettenbeschilderung angedeutet wird, dass Frauen starke Getränke nicht vertragen würden) wunderbar. Es gibt im Buch ein selbstbewusstes, erfolgreiches Model, eine starke, mutige FBI-Agentin, die sich nichts gefallen lässt (gut, hier hat der Autor ein bisschen übertrieben) und zahlreiche Frauen in hohen Führungspositionen. Sie sind Leiterinnen verschiedener polizeilicher oder rechtsmedizinischer Abteilungen, Hochschuldozentinnen, intelligent, kompetent und stark. Dafür ein großes Lob!

Mein Fazit

Insgesamt habe ich mir vom berühmten, gefeierten Chris Carter doch etwas mehr versprochen. „Blutrausch – Er muss töten“ konnte mich zwar insgesamt gut unterhalten, aber leider nicht ganz überzeugen. Das lag vor allem an der Oberflächlichkeit und der mangelnden Tiefe bei der Behandlung der Themen, bei den Figuren, beim Protagonisten und beim Schreibstil. Ein detaillierterer Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der manchmal leider auch unsympathischen Charaktere hätte es mir sicher leichter gemacht, eine emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen. Leider waren auch die langwierigen Dialoge (voller Sticheleien und banalem Geplänkel) oft anstrengend zu lesen. Die Leistungen der angeblich besten Ermittler der Polizei und des FBI fand ich dürftig, enttäuschend und unglaubwürdig, die Personen wirkten auf mich teilweise sehr inkompetent (wenn man als Laie schneller Schlussfolgerungen treffen kann, ist das besorgniserregend!). Obwohl ich den Hype also nicht nachvollziehen kann, fand ich meinen ersten Carter insgesamt durchaus interessant und unterhaltsam und habe auch viele gute Ansätze gesehen. Deshalb werde ich dem Autor mit Sicherheit noch eine Chance geben und nun am besten mit dem ersten Teil beginnen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 2,5 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Dialoge: 2,5 Sterne
Protagonist: 2,5 Sterne
(Neben)Figuren: 2 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Ende: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2 Sterne
Geschlechterrollen: ♥

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 knappe, ernüchterte Lilien!