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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.08.2019

Märchenhafte, herzerwärmende, berührende Geschichte, die ein warmes Gefühl im Bauch hinterlässt

Die wundersame Mission des Harry Crane
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Spoilerfreie Kurzrezension!


Inhalt

Harry Crane arbeitet bei der Forstbehörde; er hat einen langweiligen Bürojob, den er sich ganz anders vorgestellt hat und der ihn unglücklich macht. Aber er hat ...

Spoilerfreie Kurzrezension!


Inhalt

Harry Crane arbeitet bei der Forstbehörde; er hat einen langweiligen Bürojob, den er sich ganz anders vorgestellt hat und der ihn unglücklich macht. Aber er hat große Träume. Um sich diese erfüllen, spielt er jede Woche Lotto. Auch an jenem schicksalhaften Tag, der sein Leben auf den Kopf stellen wird, besteht er darauf, vor dem Kinobesuch mit seiner Frau noch einen Lottoschein zu kaufen. Im Nachhinein gibt es wohl keine Entscheidung in seinem Leben, die er mehr bereut. Während seine geliebte Ehefrau, Beth, leicht genervt auf ihn wartet, weil der Film bald beginnt, kommt es zu einem furchtbaren Unfall, an dem sie verstirbt. Harry ist am Boden zerstört und wird von heftigen Schuldgefühlen geplagt. Ohne seine Frau fühlt sich sein Leben so leer an, er sieht keinen Sinn mehr darin. Also beschließt er, inmitten seiner geliebten Bäume, aus dem Leben zu verschwinden. Jedoch macht ihm Oriana, ein kleines Mädchen, das ihren Vater verloren hat und ebenfalls trauert, einen Strich durch die Rechnung. Können Harry und Oriana sich gegenseitig helfen, ihren Verlust zu verarbeiten? Eine märchenhafte Geschichte beginnt…

Meine Meinung

„Die wundersame Mission des Harry Crane“ ist auf jeden Fall ein Buch, auf das man sich voll und ganz einlassen muss, um es genießen zu können. Man muss es im richtigen Moment lesen, um es zu lieben. Bei mir war dieser richtige Zeitpunkt leider nicht da, als ich die Geschichte gelesen habe; ich hatte viel um die Ohren, konnte nicht so richtig in die Geschichte eintauchen, weswegen ich dieses Buch mit Sicherheit noch einmal lesen und meine Rezension eventuell noch nach oben korrigieren werde.

Der Einstieg fiel mir, obwohl ich die Leseprobe doch gelesen und für sehr vielversprechend befunden hatte, wirklich schwer. Die Geschichte kommt nur langsam ins Rollen, enthält zu Beginn wenige Dialoge und auch mit den Figuren muss man erst warm werden. Ich habe lange mit dem Buch gekämpft, wollte es zwischendurch schon abbrechen, weswegen die Rezension auch so lange gedauert hat. Jedoch breche ich Bücher nur absolut ungern ab und so habe ich mich durchgekämpft – das hat sich auch gelohnt, denn irgendwann hat mich die Geschichte erreicht und ich kam in einen angenehmen Lesefluss.

Lediglich etwas mehr Spannung hätte es sein dürfen, da es immer wieder einmal Passagen gab, die mir fast etwas langatmig erschienen. Hier hätte ich mir gewünscht, dass die Geschichte am Anfang etwas schneller ins Rollen kommt und dass auch der Mittelteil etwas gestrafft worden wäre.

Den Schreibstil fand ich trotzdem von Beginn an wunderschön, er ist sehr angenehm, verträumt und verspielt und mit kleinen Weisheiten gespickt. Das hat mir sehr gut gefallen. Die Figuren, besonders natürlich Harry und Oriana, sind mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen. Ihre Gefühle konnte ich sehr gut nachvollziehen, die Kapitel aus verschiedenen Perspektiven haben es mir einfach gemacht, mitzufühlen und – vor allem – mitzuleiden. Jeder, der schon einmal jemanden verloren hat, wird diese Gefühle von Verlust und Verzweiflung sehr gut kennen – auch dieses Loch, in das man erst einmal fällt, und aus dem man sich nur aus eigener Kraft befreien kann.

Trotz seines traurigen Beginns ist das Buch keineswegs deprimierend – im Gegenteil, zwischen Harry und Oriana entsteht eine zarte Freundschaft, die beiden hilft, mit ihren Gefühlen umzugehen. Außerdem fühlt Harry nach einer Weile zum ersten Mal wieder ein ganz und gar kraftvolles und tröstliches Gefühl: Hoffnung. Die Liebe des Protagonisten zu seinen Bäumen, die eine heilende Wirkung auf ihn zu haben scheinen, ist in jeder seiner interessanten Informationen, die er mit den LeserInnen teilt, durchgehend spürbar und hat beim Lesen sogar auf mich abgefärbt. Nun sehe ich Bäume mit anderen – faszinierteren, staunenderen – Augen. Jon Cohen kreiert in seinem Roman eine zauberhafte, märchenhafte, berührende und ganz und gar herzerwärmende Geschichte, die ein warmes Gefühl im Bauch hinterlässt, wenn man das Buch am Ende schließt.

Mein Fazit

„Die wundersame Mission des Harry Crane“ ist ein Buch, mit dem ich sehr lange gekämpft habe, weil es mir einfach nicht gelingen wollte, in die Geschichte zu finden und vollkommen einzutauchen. Um dieses eher ruhige Buch zu lieben, muss man es nämlich im richtigen Moment lesen, der bei mir leider nicht da war. Es lag bestimmt auch daran, dass die Geschichte besonders am Beginn nur langsam ins Rollen kommt und daran, dass mir stellenweise im Mittelteil die Spannung fehlte. Der lange Atem hat sich jedoch gelohnt: Jon Cohen kann mit seinem angenehmen, verträumten und mit Weisheiten gespickten Schreibstil ebenso punkten wie mit seinen liebevoll ausgearbeiteten Figuren, mit denen ich sehr gut mitfühlen und mitleiden konnte. So wurde ich mit einer märchenhaften, berührenden und herzerwärmenden Geschichte über Verlust, Trauer, Schuldgefühle, aber auch Freundschaft, Liebe und Hoffnung belohnt, die mich mit einem warmen Gefühl im Bauch zurückgelassen hat, als ich sie beendet habe.

Bewertung

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 11.08.2019

Unterhaltsamer, humorvoller, tiefgründiger Jugendroman, aber leider schwächer als das Debüt

Liebe ist so scheißkompliziert
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nele fällt mit ihrer großen Körpergröße negativ auf, ansonsten ist sie an ihrer Schule aber eher unsichtbar. Außer ihrem besten Freund Tom hat sie keine Freunde, Jungs ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Nele fällt mit ihrer großen Körpergröße negativ auf, ansonsten ist sie an ihrer Schule aber eher unsichtbar. Außer ihrem besten Freund Tom hat sie keine Freunde, Jungs interessieren sich nicht für sie, weil sie sich von ihrer Größe eingeschüchtert fühlen. Eines Tages trifft Nele allerdings auf den Basketballstar der Schule: Jerome. Zum ersten Mal muss sie nicht nach unten schauen, wenn sie sich mit jemandem unterhält. Auf einer Party nimmt Nele unwissentlich Drogen zu sich und stürzt mit Jerome ab. Am nächsten Morgen ist er jedoch verschwunden und ein Video ist im Netz aufgetaucht, das Nele teilweise nackt zeigt. Hat Jerome es gemacht?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: FISCHER Kinder- und Jugendtaschenbuch
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive (Nele)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Es wird zwar Fleisch im Buch gegessen, Nele selbst ist allerdings überzeugte Vegetarierin! Dafür ein ♥!

Warum dieses Buch?

In Sabine Schoders Debüt „Liebe ist was für Idioten. Wie mich“ habe ich mich damals schockartig verliebt. Ich rechnete mit einem lockeren, oberflächlichen Jugendbuch und bekam ein tiefgründiges Meisterwerk, das mich aus den Socken gehauen hat! Dementsprechend musste ich auch dieses Buch wieder lesen (der zweite Teil von „Liebe ist was für Idioten. Wie mich“ steht natürlich auch noch auf der Wunschliste!) – und die Erwartungen waren sehr hoch. Da es im Vorfeld viel Kritik für den ursprünglichen Klappentext gab (der das schwierige Thema verharmloste) war ich natürlich doppelt so neugierig, wie die Autorin das Thema tatsächlich in der Geschichte behandelt.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Normalerweise dauert das bei mir länger, aber: Schon nach wenigen Seiten war ich in der Geschichte angekommen. Das liegt bestimmt am lockeren, großartigen Schreibstil!

Schreibstil (♥)

„Babs Vorfreude fällt in sich zusammen wie ein Kuchen, den man zu früh aus dem Ofen geholt hat.“ E-Book, Position 804

Wenn ich ein Buch von Sabine Schoder lese, denke ich immer: „Das könnte ich auch schaffen! Auch ich könnte eine Autorin sein.“ Aber nicht, weil der Schreibstil so schlecht wäre, dass man sich sicher ist: „Das kann ich besser!“, sondern weil die Autorin das Geschichtenschreiben so einfach erscheinen lässt. Der Schreibstil ist unheimlich angenehm und flüssig zu lesen und kommt so locker-flockig daher, dass die Lektüre richtig Spaß macht. Scheinbar mühelos baut die Autorin dann noch ihren unvergleichlichen Humor (♥), lebendige Dialoge und unzählige gelungene Vergleiche und Metaphern ein, sodass das Lesen zum Genuss wird. Für Jugendliche (auch für Lesemuffel!) ist die Sprache perfekt geeignet, weil sich Sabine Schoder altersadäquat, ehrlich, einfühlsam und verständlich mit relevanten Themen beschäftigt und sowohl in emotionalen als auch in spannenden Szenen glänzen kann. Für mich gilt jedenfalls mittlerweile: Wer zu einem Buch von Sabine Schoder greift, kann eigentlich nichts falsch machen.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„All die Kommentare auf seiner Seite, die danach fragten, ob er es [das Video] ihnen per WhatsApp zusenden könnte, waren allerdings noch da. Wie Unkraut, das man ausreißt, nur damit es an anderer Stelle wieder emporschießt. Das Internet mag verletzbar sein, aber töten kann man es nicht.“ E-Book, Position 2476

Am Beginn des Buches kann man die Autorin, die übrigens (und das finde ich als Österreicherin wunderbar) aus Österreich kommt, in einem ausführlichen Interview, das interessante Einblicke gibt, besser kennenlernen. Das hat mir schon einmal gut gefallen.

Wie auch schon beim letzten Buch hat mich auch hier wieder die feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit der Autorin begeistert. Sie scheut sich nicht davor, schwierige Themen wie Drogen, Sexualität, Sexismus, psychische Krankheiten und Suizid aufzugreifen und sie sehr tiefgründig und urteilsfrei zu behandeln. Die Autorin bevormundet ihr Zielpublikum nicht, sondern nimmt es ernst und traut ihm zu, sich selbst eine Meinung zu bilden. Das finde ich besonders als angehende Lehrerin immer wieder sehr erfrischend und angenehm!

Im Vorfeld gab es in einigen Rezensionen Kritik, dass Sabine Schoder mit ihrem Buch die falsche Botschaft sende, weil sie es verharmlose, dass ein Mädchen nackt gefilmt und das Video im Netz verbreitet wird. Ich persönlich finde nicht, dass die Kritik berechtigt ist. Meiner Meinung nach kann man nämlich an Neles Beispiel sehr gut erkennen, welche schwerwiegenden Folgen das Auftauchen eines solchen Videos für das Opfer hat. Das finde ich sehr wichtig. Nicht so gut gefallen hat mich hingegen, das Nele nicht „richtig“ handelt (und somit kein Vorbild für Betroffene sein kann), also nicht mit Erwachsenen redet und eine Anzeige erstattet. Einmal sagt sie sogar, dass sie das Video einfach nur vergessen will und keine weiteren Schritte einleiten möchte, was ich vollkommen unverständlich und unglaubwürdig fand. Denn das Internet vergisst schließlich nie! Daher sollte man alle rechtlich möglichen Schritte unternehmen, um dieses Video einer Minderjährigen aus dem Netz zu entfernen. Mir kommt es leider so vor, dass hier aus Plot-Gründen die Logik geopfert wurde. Das ist schade.

Ebenfalls etwas problematisch finde ich, dass Nele eine Ohrfeige von ihrer Mutter bekommt und dass diese Gewalt in der Erziehung nicht thematisiert und kritisiert, sondern schnell abgehandelt und wieder vergessen wird. Das ist kritisch zu sehen, weil auch heute noch unzählige Kinder unter körperlichen Züchtigungen leiden – und das obwohl das inzwischen seit vielen Jahren gesetzlich verboten ist. Daher mein Appell an euch: Schaut nicht weg! Egal ob es Gewalt in der Erziehung, Sexismus oder sexualisierte Gewalt / Belästigung betrifft, egal ob eure Nachbarn, Freunde oder Familienmitglieder betroffen sind – und vor allem: egal ob sie Opfer oder Täter sind. Lasst nicht zu, dass so etwas in eurem Umfeld passiert!

Obwohl Sabine Schoder uns auch dieses Mal eine wendungsreiche Geschichte voller Geheimnisse präsentiert, die sehr gut unterhält und niemals langweilig wird, hat mir (neben meinen schon genannten Kritikpunkten) doch das gewisse Etwas gefehlt, das dieses Buch nicht nur gut, sondern großartig macht. Diese intensiven Emotionen, die mich bei ihrem Debüt geradezu überrollt haben, fehlten mir. Das Ende fand ich rund und gelungen, auch wenn es mir nicht für immer im Gedächtnis bleiben wird.

Protagonistin (+)

Mit Nele wurde wieder eine sympathische Protagonistin geschaffen, mit der sich Jugendliche wohl sehr gut identifizieren können, da sie wie viele Teenager von großen Selbstzweifeln geplagt wird, besonders was ihren Körper betrifft. Andererseits ist sie in anderen Momenten auch wieder sehr stark, schlagfertig und selbstbewusst und kämpft für ihre Werte und Ideale. Trotzdem macht sie auch Fehler und ist nicht perfekt. Eine gelungene Mischung! Besonders toll finde ich, dass Nele sich als überzeugte Feministin sieht. Das ist wundervoll, denn genau diese Art von Protagonistinnen (die sich ganz selbstverständlich als Feministinnen begreifen) brauchen wir in Jugendbüchern! Trotz allem konnte mich Nele nicht ganz so verzaubern wie damals Viki, die einfach großartig war. Mir war Nele etwas zu fixiert auf ihre Größe; zudem ist sie nicht so erinnerungswürdig und einmalig wie Viki, die ich auch nach Jahren immer noch im Kopf habe.

Figuren (+)

Auch die anderen Figuren sind wieder sehr gut, liebevoll und glaubwürdig ausgearbeitet und überzeugen durch die Bank und bis in die Nebenrollen. Trotzdem war dieses Mal leider kein Jay dabei!

Liebesgeschichte (♥)

Die herrlich authentische, unperfekte Liebesgeschichte konnte mich übrigens wieder vollkommen überzeugen. Ich weiß nicht, wie sie es macht, aber die Autorin schafft es immer, dass ich mich auch ein bisschen in die Person verliebe und dass ich beim Lesen dieses Kribbeln und Knistern spüre! Und das liebe ich!

Humor (♥)

Der oft schwarze Humor und die Situationskomik waren erneut ein Genuss! Großartig, alleine dafür würde es sich eigentlich schon lohnen, zu Büchern der Autorin zu greifen!

Spannung & Atmosphäre (+)

Obwohl dieses Buch vielleicht keine atemlose Spannung enthält, fliegt man aufgrund des lockeren Schreibstils nur so durch die Seiten. Es gibt auch dieses Mal wieder viele Geheimnisse und unerwartete Wendungen, die entdeckt werden wollen – und wieder macht das Lesen großen Spaß!

Feministischer Blickwinkel (+)

Vieles, was diesen Aspekt betrifft, finde ich sehr gelungen: Nele ist eine Feministin, kritisiert immer wieder Sexismus, Stereotype und zieht traditionelle Rollenbilder ins Lächerliche. Zudem arbeiten beide Eltern Vollzeit. Andererseits kocht fast immer die Mutter (die übrigens zum Geburtstag ein Waffeleisen bekommt, damit sie alle noch besser bekochen kann) und es gibt wenige Szenen, in denen gegenderte Beschimpfungen wie Schlam**, Miststück und Zicke auftauchen. Irgendwo wird zudem angedeutet, dass Mädchen, die im Drogenrausch ausgenutzt werden, selbst schuld wären, was ich nicht in Ordnung finde. Insgesamt, überwiegen die positiven Aspekte dennoch bei weitem die negativen, weswegen ich insgesamt zufrieden bin.

„Keine Ahnung, woran Leute denken, wenn sie die gute alte Zeit in den Himmel loben. An Frauen jedenfalls nicht.“ E-Book, Position 425

Mein Fazit

Auch dieses Mal liefert Sabine Schoder wieder eine wendungsreiche Geschichte voller Geheimnisse ab, die sehr gut unterhält und niemals langweilig wird. Die Autorin überzeugt wieder mit ihrem angenehmen, ehrlichen, aber trotzdem locker-flockigen Schreibstil voller gelungener Metaphern und Vergleiche, mit ihren lebendigen Dialogen und ihrem unvergleichlichen Humor. Auch die Protagonistin – eine authentische, schlagfertige junge Feministin, die für ihre Werte kämpft und dennoch von Selbstzweifeln geplagt wird, ist (wie auch die anderen Figuren) gut gelungen. Die herrlich unperfekte Liebesgeschichte konnte mich ebenfalls wieder überzeugen, weil ich mich selbst ein bisschen verliebt habe und beim Lesen ein Knistern und Kribbeln gespürt habe. Besonders begeistern konnte mich auch dieses Mal wieder die feinfühlige, altersadäquate Ehrlichkeit der Autorin, die sich nicht davor scheut, schwierige Themen wie Drogen, Sexualität, Sexismus, psychische Krankheiten und Suizid tiefgründig und urteilsfrei zu behandeln. Sabine Schoder bevormundet ihr Zielpublikum nicht, sondern nimmt es ernst und traut ihm zu, sich selbst eine Meinung zu bilden, was ich besonders als angehende Lehrerin sehr erfrischend finde! Nicht so gut gefallen hat mir, dass an einem Punkt für den Plot die Logik geopfert wurde und dass Nele sich in Bezug auf das Video nicht immer nachvollziehbar und vorbildhaft verhält, was ich besonders in einem Jugendbuch problematisch finde. Auch hätte man nach der Ohrfeige kritischer auf das Thema Gewalt in der Erziehung eingehen müssen. Leider ist das Buch insgesamt etwas schwächer als das Debüt; neben den genannten Kritikpunkten hat mir vor allem dieses gewisse Etwas gefehlt, das dieses Buch nicht nur gut, sondern großartig macht. Diese intensiven Emotionen, die mich beim Erstling geradezu überrollt haben, habe ich dieses Mal schmerzlich vermisst.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Humor: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 5 Sterne ♥
Spannung: 4 Sterne
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 30.06.2019

Spannender, wendungsreicher Pageturner mit interessanter Thematik, aber überhastetem Ende

Auris
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Jula ist eine engagierte junge Journalistin, die in ihren True-Crime-Podcast viel Herzblut steckt. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, unschuldig Verurteilten zu helfen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Jula ist eine engagierte junge Journalistin, die in ihren True-Crime-Podcast viel Herzblut steckt. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, unschuldig Verurteilten zu helfen und zu erreichen, dass ihr Fall neu aufgerollt wird. Irgendwann stößt Jula auf einen ganz und gar unglaublichen Fall: Matthias Hegel - ein gefeierter, hoch intelligenter forsensischer Phonetiker - soll eine Obdachlose brutal ermordet haben. Zumindest hat er das gestanden. Für Jula gibt es in seinem Fall zu viele Ungereimtheiten, sie ist überzeugt von seiner Unschuld. Sie beginnt fieberhaft, nach der Wahrheit zu suchen - eine Suche, die sie bald in große Gefahr bringt...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: erster Teil einer Dilogie; Teil 2, „Aurelia“, wird 2020 erscheinen
Verlag: Droemer Taschenbuch
Seitenzahl: 352
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich weibliche Perspektive (Jula), zwischendurch auch männliche Perspektive (Matthias, Elyas)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Auch TierfreundInnen können dieses Buch problemlos lesen. Julas Katze wird von dieser liebevoll umsorgt und muss nicht – wie so oft in Thrillern – bereits im ersten Viertel das Zeitliche segnen, um die Grausamkeit des Täters zu betonen. Fleisch wird von den Figuren im Buch jedoch schon gegessen. Einmal wird das Ponyreiten erwähnt. Da es Tieren auf Jahrmärkten etc. meist sehr schlecht ergeht, ist jedoch von dieser Freizeitbeschäftigung für Kinder dringend abzuraten.

Warum dieses Buch?

Da ich vor einiger Zeit auf der Uni einen Einführungskurs zum Thema „Forensische Phonetik“ besucht habe und dieses Gebiet sehr faszinierend und interessant finde, war mein Interesse sofort geweckt, als ich den Klappentext gelesen habe. Ich war neugierig, wie der Autor das Thema in seinem Thriller verarbeiten würde. Die erstmalige Zusammenarbeit von Kliesch und Fitzek hat mich ebenfalls neugierig gemacht.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Ich hatte absolut keine Probleme, in die Geschichte zu finden. Der Einstieg ist direkt, das Buch beginnt nämlich mit einer nervenaufreibenden Geiselnahme. Auf diese Weise gelingt es dem Autor schon auf den ersten Seiten, Spannung zu erzeugen.

"Das Sonnenlicht fiel aus einem kinderbuchblauen Himmel auf die Ziegeldächer der Spandauer Neubausiedlung und ließ die Tragödie, die sich im Inneren des Einfamilienhauses abspielte, noch schrecklicher erscheinen." Seite 9

Schreibstil (♥)

Den Schreibstil empfand ich als einfach, flüssig und sehr angenehm lesbar. Für einen Thriller ist die Sprache perfekt: Sie ist sehr anschaulich (das Kopfkino springt sofort an), geht jedoch nicht zu stark ins Detail (was die Geschichte Tempo kosten würde) und kann sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten glänzen. So muss das sein! Man merkt jedem Satz an, dass der Autor Routine hat, da hier wirklich jedes Wort am richtigen Platz ist.

Teilweise hat mich der Schreibstil auch sehr an Fitzeks Bücher erinnert – ich weiß nicht, ob das an der sehr engen Zusammenarbeit der beiden liegt (wie stark Fitzek auf die Schreibweise Einfluss genommen hat, kann ich schlussendlich nicht abschätzen, da ich von Kliesch bisher kein Buch gelesen habe) oder daran, dass Klieschs Schreibstil einfach von Natur aus jenem von Fitzek ähnelt. Eines lässt sich aber mit Sicherheit sagen: Wer Fitzeks Thriller mag, wird wahrscheinlich auch mit diesem Buch von Kliesch seine Freude haben.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

„‘Von niemandem‘, dachte Jula, ‚kann man mehr missbraucht werden als von jemandem, dem man vertraut.“ Seite 47

Am Beginn des Buches steht ein charmantes Vorwort von Fitzek, in dem dieser erklärt, wie es überhaupt zur Zusammenarbeit kommen konnte. Interessant finde ich übrigens, dass sich das Hörbuch vom Buch unterscheiden soll – wie stark weiß ich allerdings nicht. Vielleicht hat ja eine/r von euch schon beides gehört / gelesen und kann es mir in die Kommentare schreiben? Sehr interessant finde ich zudem, dass der Autor nicht studiert hat, sondern eine Lehre zum Restaurantfachmann gemacht hat. Ich finde es schön, dass Menschen mit verschiedenen beruflichen Werdegängen und professionellen Hintergründen Geschichten schreiben.

Vincent Kliesch hat seine Sache meiner Meinung nach sehr gut gemacht. Er präsentiert uns in „Auris“ eine wendungsreiche Geschichte, die sich mit einem sehr interessanten Feld der Forensik auseinandersetzt. Manchmal hat der Autor sicherlich das Recht auf künstlerische Freiheit wahrgenommen, die Fakten und die Rechtslage etwas „angepasst“ und die Realität zum Wohle der Spannung / der Wirkung des Thrillers ein bisschen verändert. Das stört mich aber überhaupt nicht, solange das Thema noch plausibel dargestellt wird – und das wird es auf jeden Fall. Ein Thriller muss schließlich weder ein Sachbuch noch eine wissenschaftliche Abhandlung sein. In „Auris“ werden Themen wie Familie, Schuldgefühle, die Suche nach der Wahrheit, kompromisslose Nachforschungen, aber auch Vergewaltigung und Traumata gelungen behandelt. Bei vielen Aspekten schafft es der Autor auch in die Tiefe zu gehen, nur selten fielen mir eine gewisse Oberflächlichkeit oder auch Klischees auf.

Das Ende der Geschichte sehe ich mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge: Einerseits ist es gelungen und macht neugierig – man will sofort weiterlesen. Andererseits wirkt der Schluss überhastet (einige Seiten mehr hätten dem Buch mit Sicherheit gut getan) und so, als hätte man sich im letzten Moment dazu entschlossen, doch noch eine Fortsetzung zu schreiben und als hätte man deshalb dringend noch schnell einen Cliffhanger gebraucht. Ich finde, dass diese Tendenz, offene Enden und Fortsetzungen zu schreiben und die LeserInnen damit zu überraschen, in letzter Zeit exzessiv wird - es passiert ständig, dass ich beim Lesen mit einem Einzelband rechne und dann am Ende feststellen muss, dass ich mich geirrt habe (zuletzt bei "Ein wirklich erstaunliches Ding" von Hank Green). Ich weiß gerne im Vorhinein, worauf ich mich einlasse (!), und mag es nicht gerne, wenn versucht wird, mit dem Ende eines Buches zum Kauf der Fortsetzung zu „zwingen“.

Protagonistin (♥)

„‘Ich weiß, dass Sie es nicht waren!‘
‚WISSEN Sie es, oder WÜNSCHEN Sie es sich nur?‘“ Seite 154

Der größte Teil des Buches wird aus Julas Sicht erzählt. Ich mochte die sympathische Protagonistin und engagierte Podcasterin von der ersten Seite an. Sie ist eine mutige, starke, selbstbewusste Persönlichkeit mit Humor, die sehr schlagfertig und eloquent sein kann - trotz der schlimmen Dinge, die ihr widerfahren sind. Mir gefällt, wie zielstrebig und kompromisslos sie ihre Ziele verfolgt und dass sie sich nicht leicht beeindrucken oder abwimmeln lässt. Meiner Meinung nach ist Jula sehr liebevoll ausgearbeitet, was mir auch in Thrillern sehr wichtig ist. Mir gefällt zudem, dass ihre dunkle Vergangenheit Spuren an ihr hinterlassen hat und dass sie sich den LeserInnen manchmal auch sehr verletzlich präsentiert. Es ist mir aus diesem Grund sehr leicht gefallen, mit Jula mitzufühlen, mitzuleiden und mitzufiebern, wodurch die Geschichte einen gewissen Sog auf mich ausgeübt hat.

Figuren (+)

Auch die anderen Figuren, wie zum Beispiel der forensische Phonetiker Hegel und Julas Bruder Elyas, sind meiner Meinung nach sehr gut gelungen, auch wenn sie nur wenige Auftritte im Buch haben. Auch die Nebenfiguren wirkten auf mich authentisch und „echt“, was mir auch in einem Thriller sehr wichtig ist.

Spannung & Atmosphäre (♥)

„‘Sie rühren an einem Mordfall, der unberührt bleiben sollte.‘“ Seite 131

Die größten Stärken dieses Thrillers sind meiner Meinung nach das hohe Tempo und die oft atemlose Spannung. Geschickt platzierte, sehr effektive Cliffhanger, die allerdings nie zu konstruiert wirken, sondern sich sehr harmonisch in die Geschichte einfügen, die kurzen Kapitel und die unerwarteten Wendungen führen dazu, dass sich dieses Buch sehr schnell lesen lässt und schnell zu einem Pageturner wird, den man kaum zur Seite legen kann. Nur selten gab es kleinere Spannungseinbrüche in der Mitte des Buches, diese haben mich jedoch nicht weiter gestört.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Zuerst zu den positiven Aspekten: Jula ist eine sehr starke, selbstbewusste Protagonistin, die sich nichts sagen lässt und für das, was ihr wichtig ist, kämpft wie eine Löwin. Männer kochen, die Themen Diskriminierung und Sexismus werden zumindest beiläufig gestreift. Das alles hat mir sehr gut gefallen. Auch fand ich es gut, dass die Folgen der Vergewaltigung thematisiert wurden – obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es unbedingt diese Form von Gewalt sein musste, die Jula unbedingt erleben musste. Dieser Weg wird meiner Meinung nach zu leichtfertig eingeschlagen, wenn die Figur, die etwas Schlimmes durchgemacht haben soll, eine Frau ist.

Nicht so gut gefallen haben mir manchmal die stereotypen Beschreibungen verschiedener Nebenfiguren. Ein Beispiel aus dem ersten Kapitel: Die führende Psychologin schaut Matthias „mit großen Augen an“ und „scrollt eilig“, der männliche Einsatzleiter hingegen stemmt „mit festem Blick“ die Hände in die Hüften. Die eine gegenderte Beschimpfung des Bösewichts (Fo---) kann ich verzeihen, problematisch finde ich hingegen, dass ein Jugendlicher Frauen als „geile Bitches“ bezeichnet. Dieser toxische Blick auf Frauen macht mich zugleich traurig und wütend. Absolut nicht okay fand ich die Aussage „Der kämpft wie ein Mädchen“, die Frauen und Mädchen eindeutig abwertet. Weiblichkeit darf in der heutigen Zeit kein Synonym mehr für Schwäche sein!

Mein Fazit

„Auris“ ist ein rundum gelungener Thriller, der sich mit einer sehr interessanten Thematik – der forensischen Phonetik – beschäftigt und mich sehr gut unterhalten hat. Der anschauliche Schreibstil ist angenehm zu lesen und für einen Thriller perfekt geeignet: Er kann sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten glänzen. Die mutige, schlagfertige, aber auch verletzliche Protagonistin ist liebevoll ausgearbeitet, so dass es mir sehr leicht gefallen ist, mit ihr mitzufühlen. Auch die anderen Figuren sind gut gelungen. Die größten Stärken dieses Thrillers sind aber meiner Meinung nach das hohe Tempo und die oft atemlose Spannung: Geschickt platzierte, effektive Cliffhanger, unerwartete Wendungen und kurze Kapitel machen dieses Buch zu einem Pageturner, den man kaum zur Seite legen kann. Vincent Kliesch geht meist angemessen in die Tiefe, nur selten wird es klischeehaft oder oberflächlich. Das Ende und den unerwarteten Cliffhanger sehe ich mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge: Einerseits macht er neugierig, andererseits wirkt der Schluss aber auch sehr überhastet. Generell finde ich diese Tendenz, offene Enden und Fortsetzungen zu schreiben und die LeserInnen damit zu überraschen, in letzter Zeit exzessiv – eine Entwicklung, die mir nicht wirklich gefällt. Ich weiß gerne im Vorhinein, worauf ich mich einlasse (!), und mag es nicht gerne, wenn versucht wird, mich mit dem Ende eines Buches zum Kauf der Fortsetzung zu „zwingen“. Kurz: „Auris“ ist ein sehr unterhaltsamer, atemlos spannender Pageturner, der nur leider ein überhastetes, ihm unwürdiges Ende erhalten hat.

Den zweiten Band werde ich sehr wahrscheinlich auch lesen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 4-5 Sterne
Spannung & Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 28.04.2019

Gut, aber nicht großartig: hochinteressante Themen & eine unglaublich unsympathische Protagonistin

Ein wirklich erstaunliches Ding
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

April May ist die Einzige, der die riesige Roboter-Skulptur mitten am Gehweg von New York City auffällt – alle anderen scheinen davon keine Notiz zu nehmen und gehen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

April May ist die Einzige, der die riesige Roboter-Skulptur mitten am Gehweg von New York City auffällt – alle anderen scheinen davon keine Notiz zu nehmen und gehen einfach daran vorbei. Nach einem anstrengenden Arbeitstag ist April übermüdet und erschöpft – aber als Kunststudentin ist sie trotzdem sofort fasziniert von dem ungewöhnlichen Stück Kunst. Kurzerhand ruft sie ihren besten Freund an, dreht mit ihm ein Video und lädt es auf Youtube hoch. Mit einem Schlag ist April berühmt, denn überall auf der Welt sind Roboter aufgetaucht, und niemand weiß genau, warum oder woher sie gekommen sind. Die Ungewissheit führt auf der einen Seite der Menschheit zu Neugier und Hoffnung, auf der anderen zu Angst und Misstrauen – und April ist mittendrin…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 einer Dilogie, der Folgeband wird (zumindest auf Englisch) voraussichtlich im Juli 2020 erscheinen. Um den drängenden Fragen zuvorzukommen, hat Hank Green übrigens Humor bewiesen und sich auf Twitter kurzerhand in „Hank (Yes, I'm Working on the Sequel) Green“ (dt. Hank (Ja, ich arbeite am Folgeband) Green) umbenannt. Ziemlich coole Idee!
Verlag: bold, dtv
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich weibliche Perspektive, selten männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis sehr lang (60 Seiten)
Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt oder getötet.

Warum dieses Buch?

Da ich John Greens Erzählungen liebe („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ ist immer noch eines meiner absoluten Lieblingsbücher!) und generell die beiden Brüder und ihre lehrreichen Videos toll finde, war ich natürlich sehr neugierig, wie und was Hank Green schreibt. Zudem ist das Buch in Amerika bereits ein gefeierter Bestseller. Daher führte an diesem Werk kein Weg vorbei!

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

Ich muss leider sagen, dass ich nicht sofort in die Geschichte eintauchen konnte, was mit Sicherheit an der wenig zugänglichen Hauptfigur lag. Es dauerte einige Seiten – aber dann war ich in der Geschichte angekommen.

"Falls ihr am Ende aus alldem irgendwas mitnehmt, sollte das idealerweise nicht darin bestehen, dass ihr euch eher dem einen oder dem anderen Lager zurechnet, sondern verstanden habt, was ich in erster Linie bin (oder zumindest war) - nämlich ein Mensch." Seite 7

Schreibstil (+/-)

Vor allem was den Schreibstil betrifft, waren meine Erwartungen unglaublich hoch, denn auch wenn man es sich noch so oft vornimmt – es ist schwer, ein solches Buch tatsächlich absolut unvoreingenommen zu lesen. Bei John Green, der übrigens Englische Literatur studiert hat, merkt man meiner Meinung nach bei jedem Wort, dass er Sprache liebt und ihm Ästhetik wichtig ist. Hank Green hingegen kommt aus der Naturwissenschaft – genauso schreibt er auch: Sein Schreibstil ist anschaulich, sehr flüssig zu lesen und aufgrund seiner Lockerheit perfekt für die Zielgruppe geeignet. Aber: Seine Sprache ist auch pragmatisch, nüchtern, scheint für ihn nur ein Mittel zum Zweck zu sein und wirkt manchmal sogar ein wenig lieblos. Auf Poesie, sprachlichen Hochgenuss und gelungene sprachliche Bilder oder Metaphern wartet man hier vergeblich – stattdessen bekommt man flapsigen Humor und den einen oder anderen unangenehmen „Fremdschäm-Moment“ geboten. Zudem hätte es oft nicht geschadet, englische Begriffe kurz zu erklären – oder wisst ihr, was ein Elevator Pitch ist? Außerdem verstehe ich nicht, warum zunehmend englische Redewendungen, die es bei uns nicht gibt, wörtlich übersetzt werden, wie zum Beispiel: „Bist du okay damit?“ Warum nicht einfach: „Ist das okay für dich?“ Mein Tipp ist hier, die Erwartungen (was den Schreibstil betrifft) vor Beginn der Lektüre erst einmal drastisch runterzuschrauben.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

„Man kann nur bis zu einem gewissen Grad so tun, als wäre man jemand anders, ohne zu diesem anderen zu werden.“ Seite 97

„Und ich hatte mir angewöhnt, meine Lebensqualität in Likes zu messen.“ Seite 220

Hank Green hat sich für seinen Debüt-Roman auf jeden Fall eine sehr kuriose und kreative Geschichte ausgedacht, deren größte Stärke es ist, dass sie absolut niemals vorhersehbar ist. Zu keinem Zeitpunkt des Buches hatte ich das Gefühl, dass ich wüsste, was auf den nächsten Seiten passieren würde. Der Autor vermeidet Genre-Klischees und geht hier seinen ganz eigenen Weg – was sehr erfrischend ist, weil er einen damit tatsächlich immer wieder überraschen kann. Ich habe die Geschichte gerne gelesen, auch wenn vieles nur angerissen wird und man bei einigen Aspekten noch mehr in die Tiefe gehen hätte können und müssen. Begeisterungsstürme hat dieses gute, aber nicht großartige Buch leider trotzdem nicht in mir ausgelöst.

„Ein wirklich erstaunliches Ding“ weist viele Parallelen zur realen Welt (zum Beispiel zur Flüchtlingsdebatte) auf und kritisiert auf diese Weise teilweise auch unsere Gesellschaft, was mir sehr gut gefallen hat. Immer wieder regt der Roman auch zum Nachdenken an, weil man sich unweigerlich fragt: Auf welcher Seite würde ich stehen? Wie würde ich reagieren? Aktuelle, für Jugendliche relevante Themen nehmen im Buch eine große Rolle ein – auch wenn man es bei einer Geschichte über Aliens eigentlich nicht erwarten würde. Es geht um die Angst vor dem Unbekannten, menschliche Neugier, Hetze, Radikalisierung, die Sucht nach Anerkennung, die Gefahren des Ruhmes und die Sonnen- und Schattenseiten der sozialen Medien. Da der Autor selbst seit Jahren zusammen mit seinem Bruder John in der Öffentlichkeit steht, konnte er hier natürlich aus seiner eigenen Erfahrung einiges zum Buch beisteuern. So erlaubt er uns einen Blick hinter die Kulissen von Video-Dreharbeiten und Auftritten in TV-Formaten. Ich finde es toll, dass er sich an dieses Thema herangetraut und solch einen modernen Jugendroman geschrieben hat, der perfekt für die Zielgruppe geeignet ist.

Sehr enttäuscht hat mich jedoch das Ende. Es handelt sich beim Buch nämlich (wie mir vorher nicht bekannt war) um den ersten Teil einer Dilogie, die voraussichtlich 2020 fortgeführt wird. Leider war das Ende noch viel offener, als ich befürchtet hatte. Anstatt uns endlich Antworten zu liefern, werfen die letzten Seiten nur noch mehr Fragen auf. Das fand ich sehr unbefriedigend und schade! Den Folgeband werde ich wahrscheinlich trotzdem lesen – ich bin nämlich gespannt, wie Hank Green das alles erklärt und auflöst – außerdem ist er mir noch ein paar Antworten schuldig.

Protagonistin (-!)

„Ganz oben auf der Liste
Ja da stehe ich
Du mußt mir schon verzeih'n
Aber ich liebe mich“ – Songtext: Falco – „Egoist“

Falls ihr das oben zitierte Lied nicht kennt, solltet ihr es euch unbedingt anhören – April könnte es nämlich geschrieben haben. Mir ist schon lange keine dermaßen unsympathische Protagonistin mehr in einem Buch „begegnet“. Es ist zwar toll, dass April bisexuell ist und eine schwarze Freundin hat – denn Diversität in Romanen ist ziemlich cool – aber das war auch schon alles, was man hier loben kann. Mit der Wahl dieser prätentiösen Protagonistin (sie schaut zum Beispiel NUR Komödien aus den 80er-Jahren) hat sich Hank Green mit Sicherheit keinen Gefallen getan. Sogar sie selbst weiß, wie unsympathisch sie ist! Ich habe das ganze Buch über mit ihr gekämpft, habe versucht, sie zu verstehen (bin aber gescheitert!), konnte absolut keine Verbindung zu ihr aufbauen und habe sie bis zum Ende der Geschichte mit Leidenschaft gehasst. Warum? Ganz einfach: Sie tut ständig nur, was SIE will, nimmt auf niemanden Rücksicht, nutzt ihre Freunde aus, verletzt Leute, wie es ihr gerade in den Kram passt, kann ziemlich gemein sein und interessiert sich überhaupt nicht dafür, wie es anderen geht. Tut mir leid, aber mit einer Figur, die eigentlich nur aus schlechten Eigenschaften besteht (mit dem gelegentlichen Aufflackern von schlechtem Gewissen) kann ich leider nicht mitfühlen und mich identifizieren. „Aber was ist mit ihren guten Eigenschaften? Sie hat doch sicher auch gute Seiten!“, werdet ihr nun (zu Recht) fragen. Tja, nehmt eine Lupe mit und helft mir – ich suche nämlich immer noch.

Figuren (+/-)

Die anderen Figuren sind besser gelungen, aber auch nicht so liebevoll und einzigartig gezeichnet, dass sie mir ans Herz gewachsen sind. Viele von ihnen bleiben leider ziemlich blass, viel erfährt man nicht über sie. Sie scheinen nur aus jenen Fähigkeiten zu bestehen, die April weiterhelfen, und keine richtigen, lebendigen Menschen zu sein. Aber vielleicht ist das auch nur der Filter (Aprils Augen), durch den wir die Welt wahrnehmen – würde mich eigentlich nicht überraschen.

Spannung & Atmosphäre (+)

„Ein wirklich erstaunliches Ding“ ist zwar kein Buch, das von atemloser Spannung geprägt ist, aber ich habe die Geschichte mit großer Neugier verfolgt. Dadurch, dass Hank Green hier etwas Frisches, Neues erschaffen hat, wollte ich immer wissen, wie es weitergeht. Mit vereinzelten Spannungsmomenten, kryptischen Vorausdeutungen und unerwarteten Wendungen gelingt es dem Autor spielend, immer wieder neues Interesse zu entfachen. Zwischendurch gibt es allerdings schon ein paar ruhigere, vielleicht sogar ans Langatmige grenzende Abschnitte. Hier hätte man kürzen und die Geschichte straffen können – das hätte ihr gutgetan und mehr Tempo verliehen.

Feministischer Blickwinkel (♥)

Was diesen Aspekt betrifft, hat mich der Autor vollkommen überzeugt. Die zwei Szenen mit frauenfeindlicher Sprache verzeihe ich da („Medienhu++“, „Verräterhu++“) gerne. Die Frauen in seinem Roman sind stark, intelligent und oft sehr erfolgreich. Oftmals haben sie Führungspositionen inne: Es gibt zum Beispiel eine weibliche Präsidentin (wie cool ist das, bitte!), eine gefeierte Agentin und eine schlaue Materialwissenschaftlerin. Oft kehrt Hank Green das traditionelle Geschlechterbild, das man in Büchern und anderen Medien ja leider immer noch regelmäßig serviert bekommt, einfach um. So ist Aprils charmanter und aufopferungsvoller Assistent männlich. Dennoch wird er wegen dieser Position niemals lächerlich gemacht – im Gegenteil, seine Fähigkeiten und seine tolle Leistung werden immer wieder gelobt. Sehr gut gefallen hat mir natürlich auch, dass LBGTQIA-Themen und Diversität ganz selbstverständlich eingewebt wurden. Zudem hat April ein erfülltes Liebesleben, wofür sie als Frau niemals verurteilt wird, was ich super finde. Mit „Ein wirklich erstaunliches Ding“ hat Hank Green ohne Frage einen zeitgemäßen, modernen Jugendroman erschaffen, in dem er mutig und engagiert gegen Intoleranz, gläserne Decken und die Verurteilung von Frauen aufgrund ihres Liebeslebens anschreibt. Toll!

Mein Fazit

In „Ein wirklich erstaunliches Ding“ beschreitet Hank Green neue Wege und präsentiert uns eine kreative, frische und sehr kuriose Geschichte, die mich gut unterhalten konnte. Der Schreibstil ist zwar für die Zielgruppe gut geeignet, locker, anschaulich und flüssig lesbar, war mir jedoch oft auch zu pragmatisch, nüchtern und irgendwie auch zu lieblos. Von John Greens poetischer Sprache ist Hank jedenfalls weit entfernt. Was die Figuren betrifft, so können manche überzeugen, andere bleiben leider blass und farblos. Mit der Wahl seiner unglaublich egoistischen, unsympathischen Protagonistin hat sich Hank Green allerdings sicherlich keinen Gefallen getan: Sie hat mir viel ruiniert. Aktuelle und zeitgemäße Themen wie die Angst vor dem Unbekannten, Hetze und Radikalisierung, die Sucht nach Anerkennung, die Gefahren des Ruhmes und die Sonnen- und Schattenseiten der sozialen Medien werden gelungen und für Jugendliche ansprechend aufbereitet. Vieles wird jedoch nur angerissen, hier hätte man noch mehr in die Tiefe gehen müssen. Sehr enttäuscht hat mich das offene Ende, weil uns der Autor keine Antworten liefert, sondern nur neue Fragen aufwirft. Mit der Unvorhersehbarkeit der Geschichte, mit vielen unerwarteten Wendungen, vereinzelten Spannungsmomenten und kryptischen Vorausdeutungen gelingt es dem Autor, eine permanente Neugier zu erzeugen, die einen nur selten loslässt. Zudem schreibt der Autor in seinem Buch engagiert gegen Geschlechterstereotypen, Intoleranz und gläserne Decken an, was ich großartig finde! Fazit: „Ein wirklich erstaunliches Ding“ ist ein guter Jugendroman – aber kein großartiger. Deswegen kann ich den Hype nicht wirklich nachvollziehen.

Den zweiten Band werde ich vermutlich lesen – der Autor schuldet mir nämlich noch einige Antworten!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 3,5 Sterne
Schreibstil: 3-4 Sterne
Protagonistin: 1 Stern
Figuren: 3,5 Sterne
Atmosphäre: 3,5 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3-4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir knappe 4 Lilien!

Veröffentlicht am 17.04.2019

Atemlos spannender, sehr unterhaltsamer Pageturner!

Die Party
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Zehn ehemalige Jugendfreunde erhalten eine mysteriöse Einladung zu einer Halloween-Party: Brandon lädt sie in seinen abgeschiedenen Luxus-Bungalow ein, will sich an ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Zehn ehemalige Jugendfreunde erhalten eine mysteriöse Einladung zu einer Halloween-Party: Brandon lädt sie in seinen abgeschiedenen Luxus-Bungalow ein, will sich an alte Zeiten erinnern und die 80er- Jahre wieder aufleben lassen. Einige Personen zögern, doch schlussendlich erscheinen sie alle aus den verschiedensten Gründen. Doch bereits in den ersten Minuten ereignet sich ein tragischer Unfall: Der Gastgeber wird von einem herabstürzenden Kronleuchter getötet. Alte Freundschaften und Feindschaften lodern wieder auf, als etwas Schreckliches klar wird: Ein Mörder geht um…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Heyne
Seitenzahl: 368
Erzählweise: Figuraler Erzähler, hauptsächlich Präteritum, selten Präsens
Perspektive: aus vielen verschiedenen weiblichen und männlichen Perspektiven
Kapitellänge: angenehm kurz, sorgt für Tempo
Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt oder getötet.

Warum dieses Buch?

Den letzten Thriller des Autors, „Murder Park“, habe ich geliebt! Ich fand ihn wahnsinnig spannend, atmosphärisch und unheimlich. (Ich kann euch dieses Buch übrigens nur wärmstens ans Herz legen!) Aus diesem Grunde habe ich schon lange auf das neueste Werk des Autors gewartet – als es dann endlich erschienen ist, musste ich es natürlich lesen.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Es hat nur wenige Kapitel gedauert, dann war ich bereits vollkommen in die Geschichte eingetaucht. Bereits auf den ersten Seiten überschlagen sich die Ereignisse – das Buch hat sofort einen Sog auf mich ausgeübt, dem ich mich nur schwer entziehen konnte.

„Es ist der 31. Oktober 2018.
Ein schöner Herbstnachmittag.
Und Brandon hat noch gut eine Stunde zu leben.“ Seite 11

Schreibstil (♥)

Der Schreibstil kann zwar nicht als poetisch beschrieben werden, aber er ist perfekt geeignet für einen Horrorroman / Thriller wie diesen. Denn: Jonas Winner schreibt einfach, flüssig, sehr angenehm und temporeich, so dass es beim Lesen niemals langweilig wird. Dabei sind die Beschreibungen sehr anschaulich, sodass alles im Kopf sofort Gestalt annimmt; jedoch verliert sich der Autor niemals in unnötigen Details. Auch dieses Mal gelingt es ihm wieder, eine unheimliche Grundspannung zu erzeugen, aber auch dann zu glänzen, wenn es darum geht, ruhigere Momente oder die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren zu schildern. Dabei verändert sich die Sprache (besonders die kursiv gedruckten Gedanken) stets so, dass sie zur jeweiligen Person passt, wodurch die einzelnen Kapitel sehr authentisch wirken.

Ein großes Lob gibt es auch für die unheimlich lebendigen, realistischen, temporeichen Dialoge, die wirklich sehr gut gelungen sind und sehr viel zur nervenzerreißenden Atmosphäre beitragen!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

Erneut ist es dem Autor gelungen, eine wendungsreiche und sehr spannende Geschichte zu konstruieren, die absolut unvorhersehbar ist. Das Setting und die Handlung selbst erinnern (wie viele Rezensentinnen vor mir schon angemerkt haben) an einen Horrorfilm aus den 80er-Jahren. Jedoch ist der Thriller viel tiefgründiger und weniger trashig als jene Filme. Menschen, die in den 80er Jahren aufgewachsen sind oder diese in ihrer Jugend oder in ihren frühen Erwachsenenjahren bewusst miterlebt haben, werden durch dieses Buch eingeladen, in Erinnerungen zu schwelgen und sich an eine Zeit zu erinnern, in der Berühmtheiten wie Madonna und Michael Jackson gerade ganz groß wurden und in der Filme wie „Der weiße Hai“ und „E. T.“ die Massen begeisterten. Immer wieder fließen nostalgische Erinnerungen, aufschlussreiche Rückblenden und alte Songtexte in die Geschichte ein und lassen so die 80er wieder auferstehen.

Thematisch stehen alte Freund- und Feindschaften im Mittelpunkt, auch die Figuren schwelgen in Erinnerungen und denken zurück an ihre Jugend. Aber auch die jugendlichen Hoffnungen und kühnen Träume, die im Laufe der Jahre an der Realität zerschellt sind, und die Spuren, die das Leben in all den Jahren bereits hinterlassen hat, werden gelungen und teilweise sogar tiefgründig thematisiert. Der Autor verwöhnt seine Leser
innen mit vielen überraschenden und völlig unerwarteten Wendungen, das Miträtseln und Verdächtigen macht hierbei großen Spaß! Die Kapitel sind so geschickt geschrieben, dass man ständig auf falsche Fährten gelockt wird, Theorien aufstellt und diese bald schon wieder verwerfen muss. Man beginnt irgendwann, jeder und jedem zu misstrauen – und schon fühlt man sich, als wäre man selbst dort.

Ich weiß, dass der Autor immer versucht, seinen Leser_innen kreative, überraschende und abgedrehte Auflösungen zu bieten. Und das fand ich in „Murder Park“ unglaublich gelungen! Die Auflösung hier war mir dann jedoch etwas zu konstruiert, abgedreht und an den Haaren herbeigezogen, manche Schlussfolgerungen der Figuren fand ich auch sehr unrealistisch und unlogisch (auf so etwas würde ein normaler Mensch doch nicht kommen!). Das tat dem Lesespaß allerdings nicht wirklich einen Abbruch!

„'Damals, als 1986 seine Halloweenparty hier stattgefunden hat. Das weiß ich doch noch! Wir glaubten, alles Mögliche erreichen zu können. Man macht sich große Hoffnungen – und dann, beim nächsten Mal, wenn man drüber nachdenkt, ist die Zeit abgelaufen und man hat nichts erreicht.'“ Seite 218

Protagonistin und Figuren (+)

Was die Figuren betrifft, so bietet uns der Autor hier einen bunten Mix, verschiedenste Charaktere sind dabei. Manche davon waren mir sofort sympathisch, andere habe ich vom ersten Moment an gehasst. Am Beginn war es für mich nicht immer leicht, die verschiedenen Personen, ihre Berufe und Kostüme auseinanderzuhalten – doch auch hier wurde vorgesorgt: Am Ende des Buches gibt es ein sehr praktisches Personenverzeichnis, dass mir sehr weitergeholfen hat. Irgendwann braucht man das aber auch gar nicht mehr. Nicht alle Figuren sind gleich gut ausgearbeitet, aber bei allen hat sich der Autor erkennbar bemüht, sie möglichst dreidimensional zu zeichnen. Großteils ist das auch gelungen – in einem für dieses Genre angemessenen Maß, das mich zufrieden gestellt hat.

Etwas gestört hat mich das teilweise nicht nachvollziehbare bis dumme Verhalten einiger Figuren. Wie auch in den Horrorfilmen, auf die immer wieder angespielt wird, möchte man die Figuren immer wieder mal anschreien und sie schütteln. Beispielsweise ist es einfach nur lebensmüde, sich in Zweiergruppen aufzuteilen, wenn man weiß, dass ein Mörder umgeht! Möglicherweise war aber auch das eine Hommage an die trashigen Gruselfilme.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Die größte Stärke des Buches ist auch dieses Mal wieder die atemlose Spannung, die sich durch die ganze Geschichte zieht. Das Buch glänzt mit unerwarteten Wendungen und gelungenen Cliffhangern, die einen (auch durch die oft sehr kurzen Kapitel) nur so durch die Geschichte fliegen lassen. Erneut gibt es herrlich unheimliche Momente – man hält die Luft an, bekommt Gänsehaut und traut sich fast nicht, weiterzulesen. Dabei scheut sich der Autor erneut überhaupt nicht, ins Detail zu gehen, wenn jemand sehr unschön stirbt. Aus diesem Grund ist dieses Buch sensiblen Seelen und empfindlichen Mägen nur mit Vorsicht zu empfehlen. Den kurzen Spannungseinbruch im mittleren Teil der Geschichte verzeihe ich.

Dadurch, dass man irgendwann selbst paranoid wird, jede Geste und jeden Blick hinterfragt und niemandem mehr vertraut, entsteht eine dichte, angespannte Atmosphäre, die durch das Setting – ein großes, unübersichtliches Haus voller Gefahren, keine Möglichkeit, Hilfe zu holen, das gegenseitige Verdächtigen – nur noch verstärkt wird. Das Ganze erinnert natürlich ein bisschen an „Murder Park“ – das hat mich aber überhaupt nicht gestört. Im Gegenteil, ich finde es toll, dass der Autor seine Stärken kennt und wieder einmal zeigt, was er kann. Meiner Meinung ist Jonas Winner momentan einer der Besten, wenn es darum geht, atemlose Spannung und eine unheimliche Atmosphäre zu erzeugen.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Es gibt wieder sehr viele verschiedenen Frauen- und Männerfiguren im Buch. Viele weibliche Personen sind sehr erfolgreich, intelligent und haben tolle Jobs. Dennoch gibt es auch eine Person, die ziemlich ekelhaft (und meiner Meinung nach auch gefährlich) ist, weil sie Frauen objektiviert und auf ihren Körper reduziert. Jedoch wird diese Person sehr negativ dargestellt, sie wird beim Lesen sogar zum Hassobjekt. Auch wenige Fälle von frauenfeindlicher Sprache („80er Schla++++“, „Fo+++“) lassen sich finden. Hier handelt es sich um lebensgefährliche Situationen, in denen die Nerven blank liegen – deshalb, und auch weil Frauen generell als starke, intelligente und vielschichtige Personen dargestellt werden, kann ich das aber verzeihen.

Mein Fazit

Auch wenn mich Jonas Winner mit „Die Party“ nicht ganz so begeistern konnte wie mit „Murder Park“, hat er mich doch mit diesem sehr soliden Thriller, der als Hommage an die Horrorfilme der 80er-Jahre betrachtet werden kann, wieder wunderbar unterhalten. Der Schreibstil ist angenehm und perfekt für einen Thriller geeignet, auch die verschiedenen Charaktere sind sehr gut gelungen. Thematisch und auch was die Figuren betrifft, geht der Autor angemessen (immerhin gibt es viele verschiedene Perspektiven!) in die Tiefe. Alte Freund- und Feindschaften und jugendliche Hoffnungen und kühne Träume, die mittlerweile an der Realität zerschellt sind, stehen hierbei im Mittelpunkt. Jene, die die 80er-Jahre damals bewusst miterlebt haben, werden durch dieses Buch zum Schwelgen in Erinnerungen eingeladen. Lediglich die Auflösung war mir zu konstruiert und abgedreht und wirkte etwas an den Haaren herbeigezogen. Zahlreiche unerwartete Wendungen, eine unheimliche, von gegenseitigem Misstrauen geprägte Atmosphäre und die unvorhersehbare Geschichte sorgen für atemlose Spannung und machen dieses Buch zu einem absoluten Pageturner! Deshalb: Absolute Leseempfehlung für Thriller- und Horrorfans!

Ich werde mit Sicherheit auch die „Zelle“ noch lesen und freue mich schon jetzt auf den nächsten Thriller des Autors, der meiner Meinung momentan einer der besten ist, wenn es darum geht, atemlose Spannung und eine unheimliche Atmosphäre zu erzeugen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 4 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 4,5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: + / -

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir vier zufriedene Lilien!