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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.09.2018

Fesselnd, faszinierend, famos - ein Hoch auf die Merkwürdigkeit!

Hier ist noch alles möglich
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Inhalt

Der Chef einer Fabrik, die kurz vor der Schließung steht, stellt eine neue Nachtwächterin ein, die Protagonistin dieses Romans. Ein Wolf wurde auf dem Fabrikgelände gesichtet, hat es gewagt, Grenzen ...

Inhalt

Der Chef einer Fabrik, die kurz vor der Schließung steht, stellt eine neue Nachtwächterin ein, die Protagonistin dieses Romans. Ein Wolf wurde auf dem Fabrikgelände gesichtet, hat es gewagt, Grenzen zu überschreiten. Panik bricht aus. Gruben werden ausgehoben, Fallen aufgestellt, der Wolf wird zum zentralen Thema in der Fabrik.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Genre: Roman
Verlag: Aufbau Verlag
Seitenzahl: 192
Erzählweise: Ich-Erzähler, meist Präteritum, selten Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive
Kapitellänge: Das Buch ist in drei große Kapitel eingeteilt, die in weitere kurze Geschichten und Episoden unterteilt sind.
Tiere im Buch: +/- In einer Geschichte wird ein Hahn getötet, der Chef der Firma stellt Tellereisen auf, um den Wolf zu fangen, was nichts anderes als schlimmste, verachtenswerteste Tierquälerei und zu verurteilen ist. Was geschehen würde, wenn der Wolf in die Falle ginge, wird nie konkretisiert, vermutlich würde er aber erschossen werden. Tauben werden an einem Flughafen erschossen, um die Flugzeuge vor Vogelschlag zu schützen, ein Vogel wird in einem Film versehentlich getötet. Die Protagonistin hingegen versucht den Wolf immer wieder zu schützen, zum Beispiel indem sie die Fallen schließt, dafür gibt es Pluspunkte.

Warum dieses Buch?

Dieses Buch hat es dieses Jahr auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft, daher musste es in irgendeiner Weise etwas Besonderes sein. Klappentext, Titel und Cover haben mich sofort neugierig gemacht – so stand schnell fest, dass es mein erstes Longlist-Buch werden würde. Weitere werden folgen.

Meine Meinung

Einstieg & Struktur (+)

Der Einstieg fiel mir sehr leicht, obwohl die Struktur durchaus als ungewöhnlich zu bezeichnen ist. Hier wechseln sich kurze Episoden aus dem Leben der Nachwächterin mit Reflexionen, selbst verfassten Wörterbucheinträgen, einzelnen Fotos (deren Bedeutung einem beim Lesen nicht immer sofort klar ist), Zeichnungen und sehr kurzen Geschichten ab, die meist merkwürdig sind und von fremden Inseln handeln. Schon die erste Seite hat mich derart fasziniert, dass ich unbedingt weiterlesen wollte.

„Der Wolf und die Wölfe haben keine Namen. Man nennt sie Wolf und Wölfe. Sie haben Verstecke. Sie bewegen sich nachts.
Auch ich bewege mich nachts, auch ich schaue viel in die Dunkelheit.
Auch ich drang in Gebiete vor.“ E-Book, Position 41

Schreibstil (♥)

Auch der Schreibstil war einer der Gründe, warum ich so schnell in die Geschichte gefunden habe. Er ist einfach und sehr angenehm und flüssig lesbar, und obwohl er einige Wiederholungen enthält (etwas, was mich normalerweise schnell nervt), so waren diese ganz gezielt und bewusst gesetzt und haben dem Text einen bestimmten Nachdruck und einen leicht kindlichen, unvoreingenommenen Unterton verliehen, was mir sehr gut gefallen hat. Die meist kurzen, manchmal mit Beistrichen oder Konjunktionen verbundenen Hauptsätze sind sehr nüchtern und schmucklos gehalten, ohne blumige Verzierungen oder Spielereien, dennoch ist die Sprache eindringlich und faszinierend. Selten blitzen Spuren von Humor auf. Trotz des einfachen Schreibstils will das Buch mit voller Konzentration gelesen werden, das zeigt sich auch daran, dass es keine Anführungszeichen gibt. Alleine durch den Schreibstil hat es einen Sog auf mich ausgeübt, dem ich mich nicht entziehen konnte. Manches Mal schien mir die Sprache aber auch etwas prätentiös – nämlich immer dann, wenn jedes Wort so voller Nachdruck gesetzt wurde, als hätte es eine große und tiefgehende Bedeutung. Häufig steckt bei diesem Buch viel zwischen den Zeilen, aber in manchen Momenten gibt es das auch meiner Meinung nach nur vor. Aber: Ich verzeihe es, und ich verzeihe es gerne, weil mir das Gesamtbild so gut gefallen hat.

„Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.“ E-Book, Position 307

„Ich stelle mir eine Welt vor, auf der Wölfe bereits mit Tellereisen an den Füßen geboren werden und in keine weiteren treten können.“ E-Book, Position 309

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

Eigentlich hat dieses Büchlein ja nur wenig Handlung. Eine junge Frau wird als Nachtwächterin eingestellt, weil ein Wolf auf dem Gelände gesichtet wurde. Die eigentlich dünne Geschichte enthält durch die treffenden Beobachtungen, die interessanten und mitunter merkwürdigen Gedankengänge der Hauptfigur, ihre (nächtlichen) Erkundungen, die Analysen ihrer Mitmenschen und manches seltsame Ereignis aber erstaunlich viel Tiefe. Es geht in diesem Buch um Grenzen, die verzweifelt geschützt werden (obwohl es eigentlich viel wichtigere Dinge gäbe, um die man sich kümmern sollte), um Wölfe, Flüchtlinge, Dinge, die diese überschreiten und die Folgen davon. Hier lassen sich viele Parallelen und Analogien zur gegenwärtigen Realität finden. Es geht auch ums Ankommen und um die Angst vor dem Fremden, Unberechenbaren. Die Geschichte spielt in diesem magischen Übergangzustand zwischen Bekanntgabe der Schließung und dem tatsächlichen Abschalten der Maschinen.

Wie ich schon weiter oben geschrieben habe, ist dies ein Buch, das zwar in einem einfachen Schreibstil verfasst wurde, das aber zwischen den Zeilen in die Tiefe geht. Die genaue Analyse der wiederkehrenden Motive, Symbole und Metaphern wäre vermutlich ein Heidenspaß für viele LiteraturwissenschaftlerInnen (auch ich würde eine solche Analyse nur allzu gerne lesen), aber auch ohne detaillierte Untersuchung erahnt man, dass es dort vieles zu entdecken gibt. Das hat bei mir eine niemals versiegende Faszination ausgelöst. Das Ende ist ebenfalls stark, ich mochte den letzten Satz sehr.

Protagonistin & Figuren (♥)

Eigentlich erfährt man über die Protagonistin beinahe gar nichts, nicht einmal an einem Namen kann man sich beim Lesen anhalten. Nur hin und wieder gibt es Andeutungen, ihre Erinnerungen an frühere Wohnorte und Tätigkeiten blitzen immer nur kurz auf. Aber wer sie eigentlich ist, welche Ausbildung sie gemacht hat, wie ihre Kindheit und nähere Vergangenheit war, warum sie nicht mit Freunden oder Familienangehörigen Kontakt halten muss – das alles bleibt im Dunkeln. Eigentlich würde man erwarten, dass es unter solchen Vorzeichen gar nicht gelingen kann, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, zu ihr eine Bindung aufzubauen. Doch – weit gefehlt! - man bekommt sehr schnell ein Gefühl für die Protagonistin. Gianna Molinari gelingt es trotzdem sehr gut, ihr eine Persönlichkeit zu verleihen, sie komplex und liebevoll zu zeichnen. Ich mochte die Heldin jedenfalls von Anfang an und bin ihr sehr gerne auf ihre nächtlichen Kontrollgänge, in ihre Geschichten und bei ihren mitunter unkonventionellen, merkwürdigen Gedankengängen gefolgt. Ich liebe ja merkwürdige Dinge, denn häufig machen sie ein Buch sehr interessant. Auch diese Geschichte bildet hier keine Ausnahme.

Auch die Nebenfiguren erhalten (für die Größe ihrer Rollen) erstaunlich viel Farbe, auch wenn die Hauptfigur nur wenige näher kennenlernt. Egal ob Clemens, der Koch oder Lose – sie alle sind authentische Menschen, die ich nicht immer sympathisch, schon gar nicht perfekt, aber immer interessant fand.

„Warum bist du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist du hier, fragt er.
Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich.
Sogar Wölfe, sagt Clemens.
Sogar die.“ E-Book, Position 190

Spannung & Atmosphäre (+)

„Hier ist noch alles möglich“ erzeugt eine ganz eigene, feine, fesselnde Art von durchgehender Spannung. Wie bei der Hauptperson wächst auch bei den LeserInnen das Gefühl, dass tatsächlich ALLES geschehen könnte. Man harrt ebenso gespannt auf Spuren des Wolfes wie die Arbeiter der Fabrik, fast hält man die Luft an. Eine unverwechselbare, dichte Atmosphäre am Schauplatz - die bröckelnden Wände, der abblätternde Putz, der rostige Zaun mit seinen Löchern, das Unkraut, das das alte Fabrikgelände langsam wieder zurückerobert – wird sehr gelungen kreiert. Einen Teil der Spannung macht sicher auch aus, dass man nicht immer weiß, ob alles, was die Protagonistin schildert, tatsächlich passiert oder ob es nur ein Trugbild ist und sich nur in ihren Gedanken abspielt. Die dunklen bis dämmrigen, manchmal etwas unheimlichen Stunden ihrer nächtlichen Wache sind wie die Momente zwischen Schlaf und Wachsein: Dort existieren Dinge, Schatten, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie real sind.

„Die Lampen erleuchten nur gewisse Teile des Geländes, in den dunklen Ecken ahne ich den Wolf oder viele Wölfe zugleich.“ E-Book, Position 312

„Ich frage mich, ob die Nacht etwas mit mir macht, ob sie mich verändert, ob ich blassere Haut bekomme, meine Haare weniger schnell wachsen. Vielleicht sehe ich im Dunkeln mehr, als ich noch vor einigen Wochen gesehen habe. Vielleicht werden meine Augen fähiger auf die eine oder andere Weise.“ E-Book, Position 717

Feministischer Blickwinkel (+)

Mir ist beim Lesen keine Form von Sexismus aufgefallen, auch die Protagonistin erscheint mir sehr mutig, selbstbewusst und stark. Außer dass es noch mehr weibliche Figuren hätte geben können, gibt es hier keine Kritikpunkte – das gefällt!

Mein Fazit

„Hier ist noch alles möglich“ ist ein faszinierender Roman, der mich absolut überzeugen konnte. Obwohl der Schreibstil nüchtern, schmucklos und einfach ist, zeigt er dennoch eine große Eindringlichkeit. Schnell wird klar: Dieses Buch hat Tiefe, hier steckt unheimlich viel zwischen den Zeilen. Es geht um Grenzen, um die Panik, wenn sie übertreten werden, um das Suchen nach ganz vielen Dingen (Heimat, Wolf, Antworten), um die Angst vor dem Fremden, Unbekannten. Viele Verbindungen zwischen dem fiktionalen Roman und der gegenwärtigen Realität lassen sich ziehen. Obwohl man über die starke Protagonistin beinahe nichts erfährt, gelingt es Gianna Molinari dennoch, sie so liebevoll zu charakterisieren und ihr so eine einnehmende Persönlichkeit zu verleihen, dass ich eine enge Bindung zu ihr aufbauen konnte und ihr sehr gerne auf ihren nächtlichen Rundgängen und in ihre meist sehr interessanten, manchmal auch merkwürdigen (auf die beste Art!) Gedanken zu folgen. Der Autorin gelingt es, eine ganz feine, fesselnde Spannung zu erzeugen, die niemals einbricht, sie lässt seltsame Ereignisse geschehen in diesem Buch. Die dunklen bis dämmrigen, manchmal etwas unheimlichen Stunden der nächtlichen Wache sind wie diese Momente zwischen Schlaf und Wachsein: Dort existieren Dinge, Schatten, bei denen man sich niemals sicher sein kann, ob sie real sind.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 4,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 4,5 Sterne
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf faszinierte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 02.09.2018

Wundervolles, berührendes Kinderbuch mit zauberhaften Illustrationen

Als Larson das Glück wiederfand
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Inhalt

Der alte Larson lebt seit dem Tod seiner Frau zurückgezogen in einem großen Haus, das er zu einem finsteren, staubigen Ort verkommen lassen hat. Ohne Lebensfreude bringt er einen Tag nach dem anderen ...

Inhalt

Der alte Larson lebt seit dem Tod seiner Frau zurückgezogen in einem großen Haus, das er zu einem finsteren, staubigen Ort verkommen lassen hat. Ohne Lebensfreude bringt er einen Tag nach dem anderen hinter sich, es scheint, als warte er nur noch auf den Tod. Der neue Nachbarsjunge ändert schließlich alles für Larson: Er übergibt ihm in kindlichem Vertrauen einen Blumentopf mit einem Samen, weil er in den Urlaub fährt. Eigentlich hat Larson überhaupt keine Lust, sich in seinem fortgeschrittenen Alter noch um etwas anderes als sich selbst zu kümmern – doch schließlich gießt er den Samen doch. Mit dem Samen, der langsam wächst, kommt auch die Lebensfreude zurück in Larsons Haus. Eine große Freundschaft und ein neuer, positiver Lebensabschnitt beginnen für den alten Mann.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Altersempfehlung: 5-7 Jahre
Verlag: Ars Edition
Seitenzahl: 40 Seiten
Erzählweise: Figuraler Erzähler
Perspektive: aus männlicher Perspektive
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet. Larson kümmert sich gut um seine Katze. Jedoch an dieser Stelle eine wichtige Info: Im Buch hätte „Katzenmilch“ stehen sollen, denn Katzen vertragen keine normale Milch, da sie unter einer Laktoseintoleranz leiden. Um ihnen und sich selbst als BesitzerIn unangenehmen Durchfall und Bauchschmerzen zu ersparen, sollten die Stubentiger nur spezielle Katzenmilch oder einfach laktosefreie Milch erhalten. Allerdings auch nur als Leckerchen, die Hauptflüssigkeitszufuhr sollte aus Wasser bestehen, da Milch einen sehr hohen Fett- und Milchzuckergehalt aufweist – was zu einer Reihe weiterer Probleme führen kann.

Warum dieses Buch?

Nachdem ich von Martin Widmarks und Emilia Dziubaks letzter Zusammenarbeit, „Linas Reise ins Land Glück“, so begeistert war, führte an dieser Neuerscheinung natürlich absolut kein Weg vorbei. Und obwohl die Erwartungen extrem hoch waren, wurden sie sogar noch übertroffen.

Meine Meinung

Geschichte (♥)

Die Geschichte, die für Kinder zwischen 5 und 7 empfohlen wird (früheres Vorlesen ist aber ohne Zweifel auch möglich), ist wieder absolut bezaubernd, dieses Mal aber viel weniger „unheimlich“ als im letzten Buch. So ist „Als Larson das Glück wiederfand“ auch für sensible Kinder bestens (auch als Gutenachtgeschichte) geeignet, denn sie endet positiv, hoffnungsvoll und beruhigend, was den Kleinen das Einschlafen leicht machen sollte. Insgesamt ist die Story wieder sehr liebevoll ausgearbeitet, dieses Mal wird es emotional und sehr rührend. Ich kann mich nur schwer entscheiden, aber vielleicht gefällt mir „Als Larson das Glück wiederfand“ sogar noch ein bisschen besser als „Linas Reise ins Land Glück“. Es ist wundervoll zu sehen, wie dieser alte, mürrische Mann, der schon vollkommen aufgegeben hat, langsam wieder ins Leben zurückfindet und wie durch einen kleinen Nachbarsjungen wieder Licht und Freude in seinen Alltag zurückkehren.

Die Botschaften und Themen sind vielfältig und tiefgründig: Es geht um Trauer und Einsamkeit und darum, dass es sich lohnt, sich trotzdem wieder auf das Leben einzulassen. Es geht um die Wichtigkeit von sozialen Kontakten und einer Aufgabe im Leben. Vielleicht ermutigt dieses Buch ja nicht nur Kinder, sondern auch den einen oder anderen Elternteil dazu, den griesgrämigen, einsamen alten Nachbarn etwas ins Leben miteinzubeziehen oder einfach einmal auf ein Glas Wein einzuladen. Wer weiß, vielleicht findet man so nicht nur die eine oder andere neue Freundschaft, sondern auch eine große Portion Glück.

Schreibstil (♥)

Auch dieses Mal gibt es am anschaulichen, märchenhaften Schreibstil wieder absolut nichts auszusetzen. Sehr liebevoll, talentiert und dennoch routiniert verbindet der Martin Widmark einfache, altersgemäße, für Kinder verständliche Worte zu einer wunderbaren Geschichte. So nimmt der Autor ohne Frage nicht nur die Kinder, sondern auch ihre VorleserInnen mit auf eine Reise voller Neugier und großer Emotionen. Dieses Mal enthält das Buch weniger Text, der Fokus liegt auf den Bildern, die für sich sprechen. Auch eignet sich die Geschichte gut für jüngere ZuhörerInnen.

Hauptfigur & Nebenfiguren (♥)

Larson gehört zu jenen auf den ersten Blick mürrisch wirkenden Menschen, bei denen man von Anfang an das große Herz hinter der harten Schale erahnen kann. Sofort leidet man mit Larson mit, seine Einsamkeit und Trauer wecken Mitgefühl. Dass Larson eigentlich nur noch auf den Tod wartet und wahrscheinlich unter schweren Depressionen leidet, wird das junge Zielpublikum zum Glück noch nicht in diesem Ausmaß verstehen, aber so werden auch die Eltern beim Lesen mit Sicherheit nicht kaltgelassen. Umso schöner ist es dann zu sehen, wie dieser alte Mann langsam wieder aufblüht! Der kleine Nachbarsjunge und die Katze Johann Sebastian sind charmante Nebenfiguren, die allerdings nur eine kleine Rolle spielen.

Illustrationen (♥)

Das Buch wurde erneut liebevoll und voller Herzblut illustriert. Emilia Dziubaks Illustrationen sind pure Kunst, die kleinere und größere LeserInnen gleichermaßen begeistern und verzaubern wird. Die Bilder wirken stimmungsvoll und märchenhaft und spiegeln Larsons Innenleben perfekt wider. Dieses Mal spielt auch der detaillierte Hintergrund eine große Rolle – das finde ich wundervoll (der oft leere Hintergrund war mein einziger Kritikpunkt beim letzten Buch). Die Farbe der Seiten erinnert an verblichene Bücher, die Illustrationen wirken wie in ein Fotoalbum eingeklebt. „Als Larson das Glück wiederfand“ strahlt viel Gemütlichkeit aus und schafft beim ersten Aufschlagen sofort die richtige (Vor)Lesestimmung.

Text und Bilder greifen erneut so perfekt ineinander, dass ich von der harmonischen Zusammenarbeit von Martin Widmark und Emilia Dziubak wieder vollkommen begeistert bin und mir wünsche, dass sie noch lange nicht damit aufhören, Bücher zu schreiben.

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (+)

Da nur drei Menschen in diesem Buch vorkommen, kann ich an dieser Stelle die Vielfältigkeit nicht kritisieren. Es spielen zwei Männer und eine Frau in der Geschichte eine Rolle, was auch in Ordnung ist (ich würde mir die Geschichte nicht anders wünschen). Geschlechterrollen werden teilweise gebrochen, indem sich der Junge um eine Blume kümmert und indem der alte Mann putzt, kocht und seine Katze verwöhnt. Erneut gibt es hier wieder nichts auszusetzen, was einfach wundervoll ist! Das Autorenduo geht erneut sehr sensibel mit dem Thema um und verzichtet auf jegliche Rollenstereotypen.

Mein Fazit

„Als Larson das Glück wiederfand“ ist wundervolles, märchenhaftes Kinderbuch, das die Großen ebenso verzaubern wird wie die Kleinen. Der Schreibstil ist altersgemäß und anschaulich und die Geschichte emotional, rührend und tiefgründig. Es ist wundervoll zu sehen, wie Glück, Licht und Lebensfreude endlich wieder Einzug in das Leben der mürrischen, traurigen, einsamen Hauptfigur finden. Das Buch verzaubert erneut mit kunstvollen, stimmungsvollen und mit viel Liebe und Herzblut gemalten Illustrationen. Es bleibt zu hoffen, dass Martin Widmark und Emilia Dziubak noch lange nicht aufhören, Bücher zu publizieren! Ich kann dem Lob auf der Buchrückseite nur zustimmen und ergänze: Auch dieses Buch ist wieder ein kleiner Schatz. Wenn mich jemand fragen würde, wie ein rundum perfektes Kinderbuch aussieht, würde ich ihm dieses hier in die Hand drücken. Und er/sie würde es vermutlich abends zu Hause lesen, lieben und nie wieder hergeben.

Das nächste Gemeinschaftsprojekt der beiden Autoren ist für mich erneut Pflichtlektüre. Ich kann es kaum erwarten!

Empfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung! Lesen, lieben – und nie wieder hergeben.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Geschichte: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne
Personen: 5 Sterne ♥
Illustrationen: 5 Sterne ♥
Vielfältigkeit: ---
Rollenbilder: +
Insgesamt:

❀❀❀❀❀ ♥ Lilien

Dieses Buch erhält fünf verliebte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus! Dieses Buch wird in der Zukunft sicher einigen Kindern vorgelesen werden. :)

Veröffentlicht am 16.08.2018

Hochatmosphärischer, spannender Thriller, der einen frösteln lässt

Ins Dunkel
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Fünf ganz unterschiedliche Frauen in verschiedenen beruflichen Positionen machen von ihrer Firma aus eine Wanderung durchs Giralang-Massiv, einen undurchdringlichen Dschungel, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Fünf ganz unterschiedliche Frauen in verschiedenen beruflichen Positionen machen von ihrer Firma aus eine Wanderung durchs Giralang-Massiv, einen undurchdringlichen Dschungel, um das „Teambuilding“ zu fördern. Sie werden nur mit einer Karte, einem Kompass, Zelten und Nahrung ausgestattet, Handys haben im Wald ohnehin keinen Empfang. Der Pfad, den sie gehen sollen, gilt als sicher und einfach. Nach einigen Tagen kommen jedoch nur vier Frauen zurück, sie tauchen an einem vollkommen anderen Punkt auf als geplant, alle von ihnen verletzt und erschöpft. Was ist im Wald geschehen? Und wo ist Alice, die vorhatte, mit der Polizei zusammenzuarbeiten und die kriminellen Machenschaften der Firma aufzudecken?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #2 der Reihe um Aaron Falk
Verlag: ROWOHLT Taschenbuch
Seitenzahl: 416
Erzählweise: Figuraler Erzähler, teilweise ins Auktoriale gehend, Präteritum
Perspektive: aus männlicher Perspektive (Falk, Ermittler) & verschiedenen weiblichen Perspektiven (die Frauen)
Kapitellänge: mittel bis sehr kurz (nur eine Seite)
Tiere im Buch: + Es wird erwähnt, dass die Hauptfigur früher mit ihrem Vater angelte, jedoch werden konkret in der Geschichte keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.

Warum dieses Buch?

Dieses Mal war es das Cover, das mich sofort überzeugt hat. Ich liebe das glänzende Bild des Dschungels. Aber auch den Klappentext und die Rezensionen auf englischsprachigen Buchseiten fand ich vielversprechend. Die Tatsache, dass sich Reese Witherspoon die Filmrechte des ersten Bandes der Reihe gesichert hat, machte das Buch noch interessanter für mich. Eigentlich führte an „Ins Dunkel“ also kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

Das ist eigentlich der einzige Kritikpunkt, den ich habe. Der Einstieg gelang mir nämlich nicht so leicht. Es dauerte einige Seiten, bis mich die Geschichte wirklich gepackt hatte und bis ich mittendrin war. Sobald ich allerdings die Figuren auseinanderhalten konnte und mich an den detaillierten Schreibstil gewöhnt hatte, wollte ich unbedingt weiterlesen.

„[…] alle Köpfe fuhren herum, als vier Gestalten auf der Hügelkuppe erschienen. Zwei stützten eine dritte, während die vierte neben ihr her taumelte. Aus der Entfernung wirkte das Blut auf ihrer Stirn ganz schwarz. […] ‚Ist Alice hier? Ist sie in Sicherheit? Hat sie es geschafft?‘“ Seite 9

Schreibstil (♥)

Jane Harper hat einen unheimlich angenehmen Schreibstil, den man sehr schätzt, sobald man sich an ihre eher detaillierten (aber nie ausufernden) Beschreibungen der Umgebung gewöhnt hat. Die Autorin schreibt einfach und sehr flüssig, unterhält die Leserinnen mit angemessener Komplexität und Tiefe. Auf mich wirkte die Sprache, die frei von Wiederholungen oder holprigen Stellen ist, sehr routiniert und gekonnt. Jane Harper ist eine wirklich gute Geschichtenerzählerin, der man gerne ins dunkle Giralang-Massiv nach Australien folgt. Besonders toll fand ich auch, wie nuanciert Gefühle und Mimik und Gestik der Figuren beschrieben werden. So werden einzelne Stimmungsumschwünge und auch die Spannungen in der Gruppe beim Lesen intensiv spürbar.

„Er war das zweite Mal auf diesem Pfad unterwegs, aber er erkannte nichts wieder. Die Landschaft schien sich zu verschieben und zu verändern, wenn sie unbeobachtet war.“ Seite 184

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Jane Harper hat eine sehr geschickte Erzählweise gewählt: Abwechselnd erfahren wir in der Gegenwart, wie die polizeilichen Ermittlungen, die Befragungen und die Suche nach Alice laufen, und in der Vergangenheit, was tatsächlich in diesem dunklen Wald geschehen ist, als sich die fünf Frauen bei ihrer „Teambuilding“-Wanderung verirrten und die Nerven verloren. Falls nun jemand fürchtet, dass eine der Handlungen langweilig ist oder dass wir Alice und Co seitenlang und ohne interessante Vorkommnisse durch den Dschungel irren sehen – dann kann ich euch beruhigen. Der Autorin gelingt es, bei beiden Erzählsträngen die Spannung hochzuhalten. Ständig passieren bedeutende Kleinigkeiten, Katastrophen oder Durchbrüche, und auch wenn der Fokus oft auf der Gruppendynamik, den gruppeninternen Spannungen und den Geheimnissen liegt, die jede der Frauen zu verbergen hat, war ich vollkommen gefesselt und konnte das Buch kaum beiseitelegen.

„Ins Dunkel“ ist ein frischer, unterhaltsamer, routiniert geschriebener Thriller, der sich nicht an Klischees bedient, sondern neue Wege sucht. Niemals weiß man, wie es weitergeht, das Miträtseln und Vermuten macht richtig Spaß. Die Autorin behandelt Themen wie Schuld, Freundschaft, Angst, Verzweiflung, Sucht, Familie und alte Wunden sehr gekonnt und tiefgründig. Die schwierige Situation in der Wildnis und das langsame Eskalieren der Lage werden anschaulich und eindrucksvoll beschrieben. Immer wieder gibt es auch dramatische oder tragische Passagen, die dazu führen, dass einem die Figuren leidtun. Genau so muss ein guter Thriller sein! Das Ende ist erfrischend unspektakulär, aber: Die Autorin inszeniert auch kleinere Geschehnisse so, dass man den Atem anhält, weil man sich fast nicht weiterzulesen traut. Übrigens ist es problemlos möglich, den zweiten Band vor dem ersten zu lesen, da es nur sehr wenige Anspielungen auf die Vorgeschichte gibt.

Protagonisten & Figuren (♥)

Jane Harper hat in ihrer Geschichte komplexe Figuren geschaffen, die oft in den Graubereichen zwischen gut und schlecht, sympathisch und unsympathisch leben. Vor allem die fünf Frauen wurden sehr liebevoll gezeichnet und die vielen verschiedenen Perspektiven (etwas, das ich eigentlich nicht so gern mag) waren nötig und sinnvoll, um herauszufinden, was in ihnen vor sich geht. Man lernt Lauren, Jill, Bree, Beth und Alice auf den knapp vierhundert Seiten immer besser kennen und beginnt langsam, sie zu verstehen. Immer wieder kommt es hier zu überraschenden Enthüllungen, die ich so niemals erwartet hätte. Ihre Entwicklungen sind glaubwürdig.

Auch Aaron Falk mochte ich als Ermittler. Er ist zwar ruhig, recht wortkarg und gibt nur wenig von sich preis, aber man merkt, dass er ein gutes Herz hat. Auch er war gut ausgearbeitet. Etwas blass fand ich seine Partnerin Carmen, die ich bis zum Schluss nicht richtig einschätzen und greifen konnte. Hier hätte ich mir noch etwas mehr Charakterarbeit gewünscht. Aber bei einem so großen Ensemble wichtiger Figuren und bei den ebenfalls gut ausgearbeiteten Nebenfiguren kann ich das leicht verzeihen.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Eines steht fest: Ich habe noch nie erlebt, dass eine Autorin einen Handlungsschauplatz derart gut nutzt. Der Dschungel mit seinen undurchdringlichen Bäumen, seiner Kälte, seinen Gefahren und seiner grausigen Vorgeschichte bildet nicht nur einen kleinen Aspekt im Handlungsrahmen, sondern wird fast selbst zu einer wichtigen Figur im Buch, einem Monster, das stets bedrohlich im Hintergrund lungert und leise atmet. Die Autorin verwebt die Geschichte so eng mit dem Setting, das eines ohne das andere unvorstellbar erscheint. Dabei gelingt es der Autorin, so atmosphärisch dicht zu schreiben, dass man immer wieder – und auch bei 30 Grad Außentemperatur – fröstelt und es einem vorkommt, als wäre man selbst dort. Man spürt die Kälte in den Knochen, die Feuchtigkeit im Gesicht, den Wind im Haar. Toll!

Dieses Buch bietet mit Sicherheit nicht Action und spritzendes Blut auf jeder Seite, jedoch überzeugt die Autorin mit einer viel feineren atmosphärischen und psychologischen Spannung, die sie immer weiter steigert. Dabei helfen ihr sowohl ihr wunderbar genutztes Setting als auch die geschickt platzierten Cliffhanger, manche unerwartete Wendung, unheilvolle Vorausdeutungen und das Tempo, das durch immer kürzer werdende Kapitel bis zum Ende immer weiter erhöht wird. Es gibt glückliche, unheimliche, traurige und wütend machende Momente in „Ins Dunkel“, und die Autorin stellt auch immer wieder die wilde, ungezähmte Schönheit der Natur in den Mittelpunkt. Dennoch: Über allen Geschehnissen liegt stets eine unheilvolle Drohung, die man niemals ausblenden kann und die immer wieder zu Gänsehaut-Momenten führt.

„‘Da draußen sollte man nicht allzu lange herumirren. Das Schlimmste ist die Panik. Nach ein paar Tagen sieht allmählich alles gleich aus, und du traust deinen eigenen Augen nicht mehr.‘ Er schielte nach draußen. ‚Das macht die Leute verrückt.‘“ Seite 28

Geschlechterrollen (+)

Jane Harper präsentiert uns in ihrem Buch eine breite Bandbreite verschiedener Frauen und Männer, die sehr gut die Realität abbilden. Jede Frau ist charakterlich und körperlich vollkommen unterschiedlich, niemals ist eine Frau bloß hübscher Schmuck. Die Frauen im Buch sind großteils stark und selbstbewusst, viele haben machtvolle Positionen im Unternehmen und arbeiten hart für ihre Karriere. Jedoch gibt es leider auch einen Vorfall von Slutshaming (noch dazu von einer Frau und Mutter), ansonsten wird mit einem schwierigen Vorfall sehr vernünftig umgegangen. Zusätzlich fällt auch mehrmals das Wort „Miststück“, das aber niemals das Liebesleben der Frauen beschreiben soll, sondern als Beleidigung für unsoziales Verhalten benutzt wird. Dennoch hätte ich mir, die Fotos betreffend, etwas mehr Sensibilität der Autorin für das Thema „Geschlechterstereotypen“ gewünscht. Einmal wird sich gewundert, dass ein Mann kochen kann (eine mehr als altmodische Aussage, da heute jeder kochen können sollte) – bei einer Frau hätte es wieder jeder selbstverständlich angenommen. Insgesamt bin ich mit dieser Geschichte jedoch auch, was den Genderaspekt betrifft, sehr zufrieden.

Mein Fazit

„Ins Dunkel“ von Jane Harper ist ein Thriller, der diese Genrezuordnung verdient und der mich vollkommen überzeugen konnte. Obwohl mir der Einstieg etwas schwerfiel und obwohl bei einer Nebenfigur noch etwas mehr Charakterarbeit nötig gewesen wäre, punktet das Buch in allen anderen Bereichen. Der Schreibstil ist sehr angenehm, anschaulich und routiniert, die Hauptfiguren sind komplex und liebevoll gezeichnet, und die Geschichte ist wendungsreich und wird sehr geschickt erzählt. Jane Harper bietet nicht Action auf jeder Seite, sondern eine viel feinere, hochatmosphärische und psychologische Spannung, die sie bis zum Schluss steigern kann. Dabei gelingt es der Autorin, das Setting, diesen undurchdringlichen Dschungel, perfekt zu nutzen. Über allem liegt stets eine unheilvolle Drohung – der Wald wirkt wie ein Monster, das stets versteckt im Hintergrund lungert und leise atmet. So kommt es vor, dass man oft vergisst, dass man eigentlich nur ein Buch liest und dass Hochsommer ist. Und plötzlich – bei 30 Grad Außentemperatur – fröstelt man.

Der erste Band ist schon bestellt, auch auf die Verfilmung des ersten Buches und etwaige Folgebände freue ich mich schon sehr!

Leseempfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung! Besonders Menschen, die psychologische Spannung und einen toll genutzten, unheimlichen Schauplatz lieben, werden mit diesem Buch große Freude haben!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne ♥
Einstieg: 3,5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonisten: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +
Tiefgründig!

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien und trotzdem ein Herz

Dieses Buch bekommt von mir 4,5 Lilien, die aufgerundet werden, und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 07.08.2018

Eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
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Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Finn hinterlässt seinen beiden Nichten June und Greta ein liebevoll gemaltes Portrait, als er viel zu früh durch eine rätselhafte Krankheit aus dem Leben ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Finn hinterlässt seinen beiden Nichten June und Greta ein liebevoll gemaltes Portrait, als er viel zu früh durch eine rätselhafte Krankheit aus dem Leben gerissen wird. Junes Patenonkel und bester Freund, der ein angesehener Künstler war, wird von June schmerzlich vermisst, schien er doch der einzige Mensch in ihrem Leben zu sein, der sie verstand. Auf der Beerdigung ihres Onkels sieht das 15-jährige Mädchen zum ersten Mal Toby, Finns „speziellen Freund“. Angeblich hat er ihren Onkel mit der Krankheit angesteckt, ist also sein Mörder. Eines Tages erhält das Mädchen einen unerwarteten Brief: Toby will sie treffen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Eisele
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (June)
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: ♥ Es werden keine Tiere gequält, verletzt oder getötet. Im Gegenteil, eines wird sogar gerettet.

Warum dieses Buch?

Von selbst hätte ich vermutlich nicht einmal zum Buch gegriffen, so manche begeisterte Rezension hat mich dann aber doch überzeugt, es zu wagen – eine der besten Leseentscheidungen, die ich je getroffen habe!

Meine Meinung

Einstieg (+)

„Meine Schwester Greta und ich saßen an diesem Nachmittag Modell für ein Gemälde, das mein Onkel Finn von uns anfertigte, weil er wusste, dass er bald sterben würde.“ E-Book, Position 24

Dieser ruhige und doch traurige Satz bereitet einen eigentlich schon darauf vor, was für ein emotionales Buch einen hier erwartet. Dennoch fiel mir der Einstieg nicht sofort leicht, bereits nach einigen Seiten jedoch befand ich mich schon mitten im Geschehen und wollte unbedingt weiterlesen.

Schreibstil (♥)

Carol Rifka Brunt ist eine großartige Geschichtenerzählerin: Mit ihrem anschaulichen, ruhigen, angenehmen Schreibstil, der in genau richtigem Maße komplex ist, zaubert sie einem gleichzeitig Tränen in die Augen und ein Lächeln ins Gesicht. Ich wäre ihr überallhin gefolgt. Mit ihren emotionalen, eindringlichen, immer wieder auch poetischen und weisen Worten schrieb die Autorin sich zielsicher direkt in mein Herz und sorgte dafür, dass ich so tief in die Geschichte eintauchte, dass ich nach der Lektüre nur schwer wieder an die Oberfläche zurückfand.

„Ich starrte angestrengt nach draußen und versuchte, ein Muster zu erkennen. Dachte, wenn ich mich richtig bemühen würde, würden sich die Einzelteile der Welt wieder zu etwas zusammenfügen, das ich verstehen konnte.“ E-Book, Position 2391

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Warum lesen wir? Warum hören wir auch nicht damit auf, wenn wir das dritte zähe, langatmige Buch hintereinander beendet haben? Ganz einfach: Weil wir immerzu, zielstrebig und ausdauernd nach der Suche nach diesem einen Buch sind – nach diesem einen, das uns vollkommen mitreißt, uns auseinandernimmt und dann neu zusammen setzt. Nach diesem Buch, das seine Spuren in unserem Herzen hinterlässt und bei dem wir uns fühlen, als würden wir endlich heimkommen. „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ war dieses Buch für mich.

Ich habe mich schleichend mit jeder Seite mehr in diese Geschichte verliebt, konnte im Alltag an kaum etwas anderes denken, weil meine Gedanken und mein Herz sich vollkommen darin verfangen hatten. Nach dem Lesen blieb ich erstmal sprachlos zurück, war ein einziger Ball aus den verschiedensten Emotionen: Traurigkeit, Glück, Begeisterung, Wehmut, dass die Geschichte vorbei ist. Das Buch wurde vom Wall Street Journal, vom Oprah Magazine, von Booklist und Kirkus Reviews zum besten Buch des Jahres gewählt und von vielen Kritikern gefeiert – kein Wunder! Dennoch hätte dieses Buch noch viel mehr Aufmerksamkeit verdient, sollte eigentlich wochenlang auf der Bestsellerliste ganz oben stehen, denn dieses Buch sollte jeder, der kein Herz aus Stein hat, gelesen haben.

In ihrer berührenden Coming-of-Age-Geschichte, die irgendwo zwischen Jugendbuch und Erwachsenenroman anzusiedeln ist, behandelt Carol Rifka Brunt schwierige Themen wie Aids, Trauer, Freundschaft, Vorurteile, Eifersucht, Emanzipation von der Familie, Alkohol- und Zigarettenmissbrauch, Selbstfindung, Erwachsenwerden, Schuld, Wahrheit, Geheimnisse und Liebe sensibel, tiefgreifend und mit viel Feingefühl. Besonders interessant waren nicht nur das Setting in den 80er-Jahren, sondern auch die Einstellung gegenüber Aids, die damals so stark von Unwissen und Vorurteilen geprägt war. Niemand wusste, woher diese Krankheit, die eng mit dem Thema Homosexualität verknüpft wurde, übertragen wurde. Die verschiedenen Facetten der Trauer und ihre schwierige Verarbeitung (inklusive unerwarteter Weinkrämpfe) werden von der Autorin unheimlich authentisch und berührend beschrieben. Wer schon einmal einen Menschen verloren hat, der ihm sehr nahestand, wird Junes Gefühle nur allzu gut wiedererkennen.

Wer übrigens Angst hat, dass das Thema Kunst einen zu großen Teil im Buch einnimmt, den kann ich beruhigen: Das Portrait und Finn sind ein wichtiger Aspekt im Buch, aber sicher nicht der wichtigste. Dieses Thema ist nur eines von vielen, und es wird gelungen eingewebt. Viel steckt bei diesem Buch, das voller einzigartiger Metaphern und Symbole ist, zwischen den Zeilen, wird nur angedeutet. Carol Rifka Brunt ermutigt die LeserInnen, sich voll und ganz auf dieses tiefgründige Buch einzulassen und einen genaueren Blick zu riskieren.

„Ich blieb einfach sitzen und gestattete dieser Bestie aus Traurigkeit, sich über meine Schultern zu legen, und wartete darauf, dass sie mir ins Ohr flüsterte, warum sie da war. Und genau das tat sie. Sie kroch ganz nah heran und flüsterte es mir ins Ohr.“ E-Book, Position 2696

Protagonistin (♥)

Ich habe June als Protagonistin wirklich von der ersten Seite an geliebt. Ihre Zuneigung ihrem Onkel gegenüber wird so ehrlich und zart beschrieben, spiegelt so gut die Hoffnungen und Ängste einer 15-Jährigen wider, dass man nicht anders kann, als von dieser liebevoll gezeichneten Figur beeindruckt zu sein. June ist mir sofort ans Herz gewachsen, denn ich mochte so vieles an ihr: ihre treffenden Beobachtungen menschlicher Verhaltensweisen, ihre tiefgründigen, interessanten Gedanken, die Tatsache, dass sie sich für ihre kleinen Verrücktheiten nicht schämt, ihre offene Einstellung und ihren Mut, ihrem Herzen zu folgen und für ihre Überzeugungen einzustehen. Ständig will man diese ruhige, intelligente Person von ihren Mitschülerinnen und ihrer oft sehr gemeinen Schwester beschützen. Sehr gelungen fand ich, wie die Autorin diese Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenwerden eingefangen hat: Stellenweise wirkt June kindlich, fast naiv, dann wieder sehr reif. Carol Rifka Brunt hat hier eine wundervolle, einzigartige, Figur mit Fehlern geschaffen, die für mich unvergesslich ist! (Sie hat mich übrigens sehr an Suzy aus „Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren“ von Ali Benjamin erinnert - wenn euch also „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ gefallen hat, kann ich euch auch dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen.)

„Ich weiß alles über die Liebe, die zu groß ist, um in einem winzigen Gefäß verschlossen zu bleiben. Die überläuft und überall herausschwappt […] “ E-Book, Position 4420

Figuren (♥)

Doch auch die anderen Figuren hat die Autorin bis in die Nebencharaktere liebevoll ausgearbeitet, mit Stärken, Schwächen, Sorgen und Träumen versehen. Sie entwickeln sich glaubwürdig und ihre oft sehr komplizierten Beziehungen zueinander, die nicht selten voller Spannungen sind, werden gekonnt beschrieben. Vor allem Toby, der mit der Trauer um seinen Lebensgefährten sehr zu kämpfen hat, fand ich wundervoll. Er ist mir sehr ans Herz gewachsen, ich wollte ihn eigentlich die ganze Zeit nur beschützen. Einziger Verbesserungsvorschlag: Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass die Figuren einfach einmal offen miteinander reden, so vieles wäre dadurch leichter geworden. Auch manche Aspekte hätten noch etwas klarer ausformuliert werden können.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Kennt ihr das, wenn euch ein Buch so sehr gefällt, dass ihr es eigentlich genießen und ganz langsam lesen wollt? Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr euch trotzdem nicht davon losreißen könnt und es gierig und maßlos verschlingt? So ist es mir mit diesem Buch ergangen, der Drang weiterzulesen (und der Wunsch nach einem Happy End) war so stark, dass ich nicht dagegen ankämpfen konnte. Dieses Buch ist eine Gefühlsachterbahn, erweckt große, nuancierte Emotionen, bricht uns ständig das Herz und tröstet uns im selben Moment. Taschentücher bereithalten!

„Die Sonne war mit ihrem Verschwinden beschäftigt, und ich dachte darüber nach, wie viele kleine Dinge in der Welt möglicherweise auf den Schultern von etwas Schrecklichem ruhten.“ E-Book, Position 3706

Humor (♥)

Nicht einmal hier könnte ich das Buch kritisieren, zwischendurch hat es mich nämlich durchaus zum Schmunzeln gebracht, beispielsweise wenn wieder ein Brief vom „Verein junger Falkner“ ins Haus flatterte.

Geschlechterrollen (+/-)

Sowohl Greta als auch June sind selbstbewusste Mädchen, und auch ihre Mutter arbeitet hart und gleichberechtigt mit ihrem Vater in Vollzeit, was bestimmt fortschrittlich ist für die damalige Zeit. Jedoch findet sich auch stets nur die Mutter in der Küche und kocht, der Vater scheint sich am Haushalt gar nicht zu beteiligen.

Mein Fazit

Bücher wie „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ sind der Grund, warum ich lese. Diese wundervolle, emotionale Coming-of-Age-Geschichte hat mich tief berührt und verdient tausend Mal mehr Aufmerksamkeit, als es erhält. Jeder, der kein Herz aus Stein hat, sollte dieses einmalige Debüt gelesen haben. Mit ihrem ruhigen, eindringlichen Schreibstil, ihrer einzigartigen, liebenswerten Protagonisten, ihren liebevoll gezeichneten Nebenfiguren und ihrer feinfühlen, sensiblen Darstellung von schwierigen Themen wie Trauer, Erwachsenwerden und Freundschaft hat sich Carol Rifka Brunt ohne Umwege in mein Herz geschrieben. „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ ist für mich ein absolutes Jahreshightlight und eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe!

Dieses Buch würde ich mir auch noch als Print in meinem Regal wünschen (werde mir diesen Wunsch vermutlich bald erfüllen), und ich werde es in der nächsten Zeit mit Sicherheit exzessiv zu Geburtstagen verschenken. ;) Betrachtet das nächste Werk von Carol Rifka Brunt als gekauft, denn ich habe eine neue Lieblingsautorin für mich entdeckt.

Leseempfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung! Ich kann euch dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen: Lasst euch darauf ein, lasst euch das Herz brechen, lasst euch trösten und (ganz wichtig): Haltet Taschentücher bereit!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne ♥
Einstieg: 4,5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 4,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥

Dieses Buch bekommt von mir 5 absolut verzauberte Lilien und natürlich auch ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 11.07.2018

Grandioses Debüt: hochspannend, atmosphärisch, emotional & tiefgründig

Der Kreidemann
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Vor dreißig Jahren traf Eddie den Kreidemann auf einem Jahrmarkt. Durch ihn wurden er und seine Freunde auf die Idee gebracht, sich mithilfe von Kreidezeichnungen an ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Vor dreißig Jahren traf Eddie den Kreidemann auf einem Jahrmarkt. Durch ihn wurden er und seine Freunde auf die Idee gebracht, sich mithilfe von Kreidezeichnungen an verschiedenen Orten zu verabreden. Doch eines Tages passierte etwas Schreckliches: Die Kreidefiguren führten die jungen Freunde in einen Wald, wo sie einen furchtbaren Fund machten. Dort lag die Leiche eines jungen Mädchens. All dies ist nun viele Jahre her und eigentlich hat Eddie mit seiner Vergangenheit abgeschlossen, doch eines Tages erhält er einen mysteriösen Brief. Darin enthalten: eine Zeichnung und ein Stück Kreide… Was hat das zu bedeuten? Und hat die Vergangenheit jemals wirklich geruht?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 384
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens & Präteritum
Perspektive: aus männlicher Perspektive (Ed) Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: -/+ Es wird ein Hund vergiftet, er leidet sehr und stirbt. Gleichzeitig wird das Tier jedoch umsorgt und sehr geliebt. Einmal wird erwähnt, dass ein Vogel mit einem Stein von seinem Leid „erlöst“ wird.

Warum dieses Buch?

Das Cover hat mich im ersten Moment ziemlich abgeschreckt. Ein typischer 0815-Thriller dachte ich, erst die begeisterten LeserInnen-Meinungen haben mich einen erneuten Blick auf dieses Buch werfen lassen. Und das war eine sehr, sehr gute Entscheidung…

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Dieses Buch hat mich vom ersten Wort an begeistert. Der Buchbeginn ist unheimlich und ich befand mich sofort mitten in der Geschichte, konnte mitfiebern und mitfühlen. Schon lange ist mir der Einstieg nicht mehr so einfach und angenehm gelungen.

Schreibstil (♥)

C. J. Tudor hat einen wundervollen Schreibstil, der mich in seinen Bann gezogen hat. Die Autorin ist eine talentierte Geschichtenerzählerin, die einen sofort auf eine Reise in Eds Welt mitnimmt. Es scheint unglaublich, dass man hier ein Debüt vor sich hat. So angenehm und flüssig, so präzise und gelungen zeigt sich die Sprache. Die Sätze wirken routiniert, und obwohl das Buch stellenweise relativ dialoglastig ist, wird der Schreibstil niemals banal oder oberflächlich. Im Gegenteil – C. J. Tudor hat hier einen Thriller voller Tiefe, Spannung und Emotionen geschaffen, der genau jene Leute ansprechen sollte, die auch von diesem Buchgenre mehr erwarten als bloße Spannung. Die Sprache ist angenehm komplex, enthält wundervolle Beobachtungen menschlicher Verhaltensweise und enthält faszinierende, „weise“ Wahrheiten.

„Wenn unsere Welt eine Schneekugel wäre, war dies der Tag, an dem irgendein Gott vorbeigeschlendert kam, sie einmal kräftig durchschüttelte und wieder hinstellte. Und nachdem Schaum und Flöckchen sich gesetzt hatten, war nichts mehr wie zuvor. Nicht genau wie zuvor. Durchs Glas mag es genauso ausgesehen haben wie vorher, aber im Inneren war alles anders.“ Seite 9

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Endlich: Der Stephen King für alle, denen Stephen King zu sehr ausschweift, wurde publiziert. Tatsächlich weist das Buch einige Parallelen mit dem dicken Wälzer „Es“ auf, wie sogar vom Autor selbst beobachtet wurde, jedoch wirkt es keinesfalls wie eine Kopie. Hauptsächlich betrifft dies den Erzählstrang, der sich mit Eds Kindheit im Jahre 1986 beschäftigt: Eine Gruppe Freunde macht eine furchtbare Entdeckung, die sie auch in der Gegenwart (2016) immer noch nicht ganz losgelassen hat. Die Autorin zeichnet ein authentisches Porträt des Lebens in den 80ern, lässt wie in „Es“ ein Mädchen Teil der Gruppe sein. Auch die umheimliche Atmosphäre erinnert ans genannte Werk – „Es“ habe ich aber damals nach ca. 200 Seiten abgebrochen, weil mir King zu ausschweifte. Wer also immer schon King-Stimmung erleben wollte, aber auf weniger Seiten, der sollte definitiv zu diesem Prachtexemplar von einem Thriller greifen.

Aber auch der zweite Handlungsstrang in der Gegenwart weiß zu überzeugen. Es ist sehr interessant zu sehen, was aus Ed und seinen Freunden geworden ist. Vor allem dem Protagonisten der Geschichte haben die 30 Jahre, die vergangen sind, nicht gutgetan: Er hat ein Alkoholproblem, wirkt verloren und planlos, fühlt sich so älter als manch 75-Jähriger. Mehr als einmal wünscht man sich unbedingt, dass er endlich das Glück findet.

In „Der Kreidemann“ wird nicht brutal drauflosgemetzelt – nein – der Thriller zeichnet sich oft durch ruhigere Töne aus, nimmt sich Zeit für seine Figuren und ernsten Themen wie Schuld, Familie, Angst, Liebe, Missbrauch und Gewalt (und der Umgang damit in den 1980ern), Einsamkeit und die oft schrecklichen Konsequenzen von eigentlich gut gemeinten Handlungen. C. J. Tudor erschafft einen Thriller, der ein tiefgründiges, rundes Ganzes ergibt und der mir fast perfekt erschien. Lediglich die Auflösung konnte mich nicht vollkommen überzeugen, dennoch lässt die Autorin im Anschluss das Buch sehr emotional und wirkungsvoll enden.

Protagonist & Figuren (♥)

Die Figuren sind wahnsinnig interessant und liebevoll gezeichnet, man merkt, dass die Autorin hier viel Zeit und Mühe investiert hat. Sie erschafft komplexe, komplizierte Personen mit Eigenheiten, Macken und Geheimnissen, die von ihrer Vergangenheit gezeichnet wurden. Dabei sind die Charaktere stets authentisch, handeln nachvollziehbar und sind meist auch ziemlich sympathisch. Das Figuren-Ensemble, das aus vielen verschiedenen Persönlichkeiten besteht, ist bis in die Nebenfiguren einzigartig, dreidimensional und sehr gelungen. Ich wünschte, es gäbe mehr Thriller wie diesen!

Spannung & Atmosphäre (♥)

Atemlose Spannung wird man in diesem Thriller nur teilweise finden, dafür aber immer eine unheilvolle, atmosphärisch dichte Grundstimmung, die über der Kleinstadtidylle liegt und die LeserInnen ständig darauf warten lässt, dass etwas Schlimmes seinen Lauf nimmt. Diese psychologische Spannung wird schon am Anfang aufgebaut und von der Autorin bis zum gelungenen Schluss gehalten. Unerwartete Wendungen und gut platzierte Cliffhanger sorgen für Neugier und so manchen Gänsehaut-Moment. In Eds Geschichte gibt es viele traurige, ernste, schockierende, aber auch viele schöne Momente: Intensive Freundschaften und erlebnisreiche Sommertage kennzeichnen seine Kindheit. Und weil die Figuren so echt wirken, gelingt es der Autorin spielend leicht, bei ihren LeserInnen große Emotionen zu wecken.

Geschlechterrollen & Diversisät (-/+)

Der einzige Bereich, bei dem das Buch nicht ganz bei mir punkten konnte. Zwar gibt es durchaus auch in Eds Kindheit starke Frauen (Nicky, die Mutter), die sehr erfolgreich oder selbstbewusst sind. Auch entspricht Nicky keinen Rollenstereotypen, ebenso dürfen auch Männer weinen, weniger erfolgreich sein als die Ehefrau, kochen und backen. Jedoch blitzt vor allem im früheren Erzählstrang immer wieder durch, was von Frauen erwartet wurde/wird und statt der weiblichen Form wird gerne die männliche benutzt (Idiot, Freund). Andeutungen, dass Männer nur als Singles kochen müssten (weil das in einer Beziehung ja dann selbstverständlich die Frau zu übernehmen hat, furchtbar!) und dass Kochen Frauenarbeit sei, haben mir nicht gefallen, spiegeln aber wohl sehr treffend die Einstellungen der damaligen Zeit wider, weswegen ich hier nicht so streng bin. Auch das Wort „Schlam**“ wird mehrmals benutzt, leider auch von Kindern, dazu werden auch „politisch unkorrekte“ Beleidigungen abgefeuert, die sich auf Menschen mit psychischen Krankheiten, auf Homosexuelle und auf Minderheiten beziehen. Auch dies spiegelt aber wohl die damaligen Einstellungen wider und ich denke, dass dies auch deutlich gemacht werden sollten (durchaus mit einem kritischen Hintergedanken).

Mein Fazit

Endlich: Der „King“ für alle, denen Stephen King zu sehr ausschweift! „Der Kreidemann“ weist Parallelen zu „Es“ auf, ist jedoch keinesfalls eine Kopie. Er ist ein Thriller für all jene, denen atemlose Spannung eben nicht reicht, sondern die auch bei diesem Genre Emotionen, Tiefe und liebevoll gezeichnete Figuren brauchen, um glücklich zu werden. Der Schreibstil ist ebenso wundervoll, und auch wenn der eher ruhige Thriller weniger auf ausufernde Brutalität als auf knisternde psychologische Spannung setzt, so sorgen unzählige unerwartete Wendungen und gut platzierte Cliffhanger dafür, dass es niemals langweilig wird. Beim Lesen kann man gar nicht glauben, dass es sich hierbei um ein Debüt handeln soll! Ich fühlte mich erstklassig unterhalten, habe mitgefühlt und mitgefiebert und nun bleibt mir nur, der „Sunday Times“ zuzustimmen und ihr Zitat etwas umzuändern: Wenn Sie dieses Jahr nur einen Thriller lesen – lesen Sie diesen!

Betrachtet das nächste Buch der Autorin als gekauft, denn ich habe in C. J. Tudor eine neue Lieblingsautorin für mich entdeckt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonist: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +/-
Tiefgründig!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien und ein Herz

Dieses Buch bekommt von mir 5 Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!