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Veröffentlicht am 15.09.2016

Phantombuch

Nach einer wahren Geschichte
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Delphine ist das geglückt, wovon jeder Schriftsteller träumen dürfte: Ihr letzter Roman wurde zu einem Bestseller und sie über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt. Nun tingelt sie zwischen Buchmessen, ...

Delphine ist das geglückt, wovon jeder Schriftsteller träumen dürfte: Ihr letzter Roman wurde zu einem Bestseller und sie über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt. Nun tingelt sie zwischen Buchmessen, Autorenlesungen und Signierstunden hin und her, und fürchtet sich schon jedes Mal vor der Frage nach dem "danach" - was wird sie danach schreiben? Sie ist der Meinung, dass ihr ein solch großer Wurf kein zweites Mal gelingen wird, kämpft mit ihren Selbstzweifeln und der neuen Prominenz.
In dieser schwierigen Gefühlslage lernt sie L. kennen. L. verdient ihr Geld ebenfalls mit dem Schreiben, sie ist jedoch Ghostwriterin und schreibt hauptsächlich Biografien berühmter Schauspieler, Models oder anderer Prominenter - sie hat sich der Wahrheit verschrieben. Die beiden freunden sich unglaublich schnell an, schon nach kurzer Zeit ist L. nicht mehr aus Delphines Leben wegzudenken. Obwohl sie so viele Gemeinsamkeiten haben, geraten sie über ein Thema immer wieder in Streit: Soll die Literatur der Wahrheit verpflichtet sein, oder darf sie sich auch der Fiktion hingeben? Mit ihrer radikalen Haltung zu diesem Thema erschüttert L. Delphine in ihren Grundfesten, und bald schon ist es für Delphine undenkbar zu schreiben, also unmöglich sich wieder an die Arbeit zu setzen, die Steuererklärung auszufüllen oder auch nur den Einkaufszettel zu notieren...

Mit dem Titel "Nach einer wahren Geschichte", einer Protagonistin mit dem Namen "Delphine" und dem immer wiederkehrenden Motiv über die Wahrheit in der Literatur, gelingt es Delphine de Vigan, dass die Überlegungen des Lesers ständig um die Frage kreisen, wie viel Wahrheit denn nun in diesem Roman steckt, oder ob er am Ende doch komplett fiktiv ist. Kann denn überhaupt ein Schriftsteller etwas verfassen und dabei seine Persönlichkeit, seine eigenen Erfahrungen, seine Sicht auf die Dinge außen vor lassen?

Der Roman ist in drei Abschnitte gegliedert, "Verführung", "Depression" und "Verrat".
Der erste Abschnitt machte es mir schwer, in die Geschichte hineinzufinden, er widmet sich dem Kennenlernen der beiden Frauen, es werden die ersten Treffen geschildert, ihre Gemeinsamkeiten, und wie schnell Delphine dadurch eine so innige Beziehung zu L. aufbaut. Man spricht viel über Filme, Bücher und Musik. Da ich selten französische Autoren lese, und mit französischen Filmen und Musik nur wenig anfangen kann, gab es für mich kaum Aha-Momente, die mich bei der Stange gehalten hätten. Lange Gespräche werden in indirekter Rede wiedergegeben, was das Lesen anstrengend machte. Dialoge in direkter Rede wirken lebendiger, fesselnder. Die indirekte Rede dagegen vermittelt das Gefühl als würde man einen Polizeibericht oder einen Zeitungsartikel lesen.
Im zweiten Abschnitt nimmt die Handlung an Tempo auf, und hier war ich endlich in der Geschichte angekommen.
Im dritten und letzten Teil kommt es tatsächlich zu einer Art Showdown, bevor dem Leser dann das "Ende" präsentiert wird.
Jeder neue Abschnitt wird mit einem Zitat aus einem Stephen-King-Buch eingeleitet, der erste und letzte mit einem aus "Sie", der mittlere mit einem aus "Stark - The Dark Half". Mir hat das sehr gut gefallen, als King-Fan kenne ich natürlich beide Bücher - in beiden ist der Protagonist ein bekannter Schriftsteller, wodurch die Zitate sich sehr gut in die Handlung einfügen, und jeweils auch einen Ausblick auf die kommenden Ereignisse liefern.

Obwohl ich auf den ersten hundert Seiten ein wenig gekämpft habe, hat sich das Durchhalten letztendlich doch gelohnt. "Nach einer wahren Geschichte" entwickelte sich zu einem sehr lesenswerten Roman, der mir nun schon seit ein paar Tagen nicht aus dem Kopf gehen will, der tatsächlich noch nachhallt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Gourmet-Zeitreise

Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens
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Eva Thorvald ist die gefragteste Köchin Amerikas, für einen Platz bei einem ihrer Pop-up-Dinner blättern die Menschen eine Menge Geld hin, und müssen vorher trotzdem jahrelang auf einer Warteliste Platz ...

Eva Thorvald ist die gefragteste Köchin Amerikas, für einen Platz bei einem ihrer Pop-up-Dinner blättern die Menschen eine Menge Geld hin, und müssen vorher trotzdem jahrelang auf einer Warteliste Platz für Platz nach vorne rücken, um sich endlich an Evas Tafel niederlassen zu dürfen.
Dabei fing ihr Leben gar nicht schillernd an: Ihre Mutter Cynthia verließ sie im zarten Alter von drei Monaten, um sich ihren Traum zu erfüllen und Sommelière zu werden. Ihren perfekten Geschmackssinn hat Eva von ihrem Vater Lars geerbt, der schon in jungen Jahren für seinen norwegischen Lutefisk berühmt war.

Als ich das wunderschöne Cover dieses Buches gesehen habe, war ich sofort verliebt. Die Gestaltung ist sehr retro, und sieht nach den 50er-Jahren aus. Man kann dem Diogenes Verlag nur zu der Entscheidung gratulieren, dass dieses Cover von der amerikanischen Ausgabe übernommen wurde, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht wenig trendy wirkt. Gerade dadurch wird es sich in den Buchhandlungen von anderen Titeln abgrenzen und Interesse wecken.
Nachdem ich "Die Geheimnisse der Küche des mittleren Westens" zu Ende gelesen habe, habe ich erfreut festgestellt, dass das Cover nicht nur hübsch ist, sondern auch die wichtigsten Schlüsselelemente der Handlung widerspiegelt. Darum passt es so perfekt, und ich könnte mir kein hübscheres Kleidchen für dieses wunderbare Buch vorstellen.

Obwohl Eva Thorvald die Protagonistin ist, wird das Buch fast komplett aus der Sicht anderer Figuren erzählt, teils von Familienmitgliedern, manchmal aber auch von Figuren, die Eva nur kurz begegnet sind. Das erste Kapitel "Lutefisk" wird beispielsweise aus der Sicht von Evas Vater Lars geschildert: Man erfährt, wie Lars seine Kindheit verlebt hat, wie er Koch geworden ist, seine Frau Cynthia kennengelernt hat und Vater geworden ist. Das zweite Kapitel "Chocolate Habanero" ist das einzige Kapitel des Buches, in dem wir die Dinge aus Evas Perspektive betrachten können. Die folgenden Episoden sind aus ihrem weiteren oder näheren Umfeld, es gibt sogar ein Kapitel, in dem Eva nur in etwa drei oder vier Sätzen erwähnt wird. Zwischen den einzelnen Abschnitten liegen manchmal mehrere Jahre, es wird also nicht Evas ganzes Leben vor dem Leser ausgebreitet, sondern nur die wichtigsten Wendepunkte.
Diese Erzählweise wirkt sehr ungewöhnlich, und das ist sie auch. Die einzelnen Kapitel sind jedes für sich wie eine Kurzgeschichte, denn der Leser muss sich zu Beginn immer an einen anderen Erzähler gewöhnen, und oftmals auch einige Seiten Geduld haben, bis die Verbindung zu Eva hergestellt wird. Die verschiedenen Figuren stellen sie - je nach Blickwinkel - sehr unterschiedlich dar, und gerade das macht den Charme des Buches aus, denn Eva bleibt wenig greifbar. Evas Entwicklung und Werdegang sind trotz (oder vielleicht auch wegen?) dieser Erzählweise sehr gut nachvollziehbar.

Genau wie man es anhand des Buchtitels erwartet, sind die einzelnen Kapitel immer einem Gericht (Lutefisk) oder einer Zutat (Chocolat Habenero) gewidmet, und natürlich ist Kochen und Essen der rote Faden in diesem Buch. Manchmal gibt es sogar die Rezepte zu den Gerichten, und nachdem der skurrile Lutefisk den Anfang macht, geht es über recht einfache Gerichte wie Chili oder Erdnussbutter-Riegel zu sehr ausgefallenen Menüs, die man gerne probieren möchte.

Wenn man das Buch auf das Wesentliche reduzieren möchte, müsste man sagen: Es erzählt Familiengeschichten. Viele kleine Episoden, mal fröhlich und lustig, mal traurig oder auch tragisch. Aber immer schillernd und unterhaltsam.
Nach dem Lesen bin ich immer noch verliebt, J. Ryan Stradal ist definitiv ein Autor, der auf meinem Radar nun einen Stammplatz hat.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sex, Drogen, Blutrausch

The Girls
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Kalifornien, 1969: Die 14-jährige Evie Boyd verbringt ihre endlos scheinenden letzten Sommerferien bevor sie ins Internat geschickt wird. Sie muss gerade einiges wegstecken: Ihr Vater hat die Familie verlassen, ...

Kalifornien, 1969: Die 14-jährige Evie Boyd verbringt ihre endlos scheinenden letzten Sommerferien bevor sie ins Internat geschickt wird. Sie muss gerade einiges wegstecken: Ihr Vater hat die Familie verlassen, ihre Mutter ist auf einem Selbstfindungstrip, dann verkracht sie sich auch noch mit ihrer einzigen Freundin Connie - dadurch fühlt Evie sich einsam und von aller Welt verlassen. Da begegnet sie den "Girls": eine Gruppe Mädchen, alle ein wenig älter als Evie, die von zuhause ausgerissen sind und sich dem charismatischen Russel angeschlossen haben, mit dem sie auf einer heruntergekommenen Farm als Kommune hausen.
Evie, die behütete Tochter aus gutem Hause, ist völlig fasziniert von dieser neuen, freien Welt voller Sex und Drogen, und sie verfällt Suzanne, der Anführerin der Mädchen, mit Haut und Haar. So bemerkt Evie nicht, in welch unheilvolle Richtung ihr Leben driftet.

Emma Cline lässt ihre Ich-Erzählerin Evie auf zwei Zeitschienen ihr Leben schildern. In beiden Fällen ist es die erwachsene Evie, die einmal die Ereignisse aus dem Jahr 1969 im Rückblick schildert, während der Leser auch in kürzeren, eingeschobenen Passagen erfährt, wie die Evie in den mittleren Jahren in der Gegenwart ihr Leben zubringt.
Innerhalb der Rückblenden in Evies Zeit mit den Girls verläuft die Erzählung nicht linear, es ist eher so, als würde Evie die Geschichte bei ein paar Drinks erzählen. So erfährt der Leser schon auf den ersten Seiten, dass die Gruppe sich nicht einfach aufgelöst hat, sondern dass eine schreckliche Tat das Ende des Hippie-Lebens auf der Farm einläutete. Oftmals analysiert Evie auch die Hintergründe oder rechtfertigt sich, und schildert darum auch Begebenheiten, die sich vor oder nach dem schicksalhaften Sommer ereignet haben.
Diese Erzählweise ist gut gelungen, denn die Spannung wird bis zum Ende aufgebaut und gehalten, aber "The Girls" ist kein Buch, das man an sich vorbeiplätschern lassen kann - man muss als Leser wirklich bei der Sache sein, um nicht den Faden zu verlieren.

Da die Protagonistin Evie als Ich-Erzählerin eingesetzt wird, kommt sie dem Leser natürlich am nächsten, und sie lässt mich ein wenig zwiegespalten zurück, was wohl auch die Absicht der Autorin ist. Es gelingt ausgezeichnet, dem Leser diese verwirrenden frühen Teenager-Jahre wieder vor Augen zu führen: Evie ist eine typische 14-jährige. Sie steckt voller Komplexe, sieht sich als völlig unattraktives Mädchen, das niemand je lieben wird. Sie will um jeden Preis irgendwo dazugehören und hungert nach der Aufmerksamkeit anderer Menschen. Ihre Eltern sind unglücklicherweise zu sehr mit sich selbst und ihrer Scheidung beschäftigt um zu bemerken, dass Evie keine Freunde mehr hat, und haben keine Ahnung, mit welchen Leuten sich ihre Tochter herumtreibt. Wenn sie nachts wegbleibt, nimmt ihre Mutter einfach an, sie hätte bei Connie geschlafen.
Manchmal fühlte ich mich der jungen Evie sehr nah, manchmal war ich aber auch geradezu von ihr abgestoßen.
Die anderen Figuren treten - je nach Evies Blickwinkel - mal mehr, mal weniger in den Vordergrund. So hab ich zum Beispiel von Suzanne ein sehr klares Bild, während Russel (der eigentliche Mittelpunkt der Gruppe, für Evie aber eher ein Hintergrundrauschen) recht verschwommen bleibt.

Manchmal ist das Buch ziemlich verstörend, besonders wenn das Leben auf der Farm mit all den Drogen- und Sexexzessen recht bildhaft geschildert wird. Ich hatte beim Lesen ständig im Hinterkopf, wie jung Evie doch ist - ich glaube, für Eltern mit Töchtern im Teenager-Alter ist das noch schwerer auszuhalten.
Trotzdem ist die Geschichte absolut fesselnd und entwickelte sich für mich zu einem Pageturner. Emma Cline lässt die beginnende Hippie-Ära lebendig werden, und führt dem Leser nicht nur die weichgespülten Klischees von bekifften, aber harmlosen Fans der freien Liebe vor Augen, sondern zeigt auch abgründige und hässliche Facetten, die man mühelos in die Gegenwart übertragen kann. Ich konnte das Buch gar nicht mehr weglegen, und von daher gibt es von mir auch eine klare Empfehlung: auf jeden Fall lesenswert!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Retrospektive zur "Bananen-Republik"

Hier ist alles Banane
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Die Sensation: Erich Honecker hat seinen Tod 1994 nur vorgetäuscht, und sein Ex-Chauffeur und treuer Freund Jorge hat nun seine Tagebücher aus den folgenden Jahren veröffentlicht.
Hiermit erhalten wir ...

Die Sensation: Erich Honecker hat seinen Tod 1994 nur vorgetäuscht, und sein Ex-Chauffeur und treuer Freund Jorge hat nun seine Tagebücher aus den folgenden Jahren veröffentlicht.
Hiermit erhalten wir also den etwas anderen Blick des Ex-Diktators auf Weltpolitisches, Wirtschaftskrisen, Gesellschaftliches und Banales aus den letzten zwei Jahrzehnten.

Dieses Buch lässt mich etwas unentschlossen zurück. Über einiges habe ich geschmunzelt, einige Male musste ich schwer schlucken, und gegen Ende wurde es doch recht anstrengend.
Und mir stellte sich die Frage, wie ich als Wessi-Kind (im wahrsten Wortsinn, denn zur Wende war ich doch noch recht jung - allerdings kann ich mich lebhaft daran erinnern, wie wir den schleichenden Zusammenbruch der DDR über Monate im Fernsehen verfolgt haben) mich zu diesem Buch äußern könnte.

Definitiv waren einige Passagen mit viel Witz und Ironie geschrieben. Amüsant war zum Beispiel die Feststellung, mit wie viel weniger Personal der Staatssicherheitsdienst doch ausgekommen wäre, hätte es Facebook, Twitter und Co. schon in den 80er Jahren gegeben - darüber muss man fast unwillkürlich grinsen. Aber dann fragt man sich sofort: Darf man das überhaupt?
Das Ehepaar Honecker hat das DDR-Regime, inklusive aller menschenverachtender Praktiken, die einen heute noch schaudern lassen, in den letzten 18 Jahren vor der Wende maßgeblich gestaltet. Darf man sich also über solche Leute amüsieren? Oder lässt man es damit an Respekt gegenüber den Opfern dieses Regimes, den Angehörigen der Mauertoten, den durch Zwangsadoptionen auseinandergerissenen Familien, den schikanierten Verwandten der "Republikflüchtlinge" fehlen? Keine leichte Frage, wie ich finde. Andererseits ist es vermutlich das schlimmste, was man solchen Egomanen posthum antun kann: sie der Lächerlichkeit preisgeben. Wo sie doch ansonsten schon völlig ungeschoren davonkamen.

Schlucken musste ich vor allen Dingen an Stellen, wo es um den Schießbefehl, das Verfahren mit nicht linientreuen Bürgern, oder eben auch die Bespitzelung des eigenen Volkes ging. In all den Ostalgie-Wellen der letzten zwei Jahrzehnte, wo oft der Satz: "Es war auch nicht alles schlecht!" gefallen ist, ist diese Facette der DDR in all der Euphorie über Rotkäppchen-Sekt und Spreewaldgurken oft aus dem Fokus verschwunden.

Und nun zum anstrengenden Teil: dieses Buch ist mit 270 Seiten, großer Schrift und vielen kleinen Abschnitten nicht gerade umfangreich. Und dennoch wurden einige Running Gags für meinen Geschmack zu Tode geritten, spätestens wenn Honis verlegte Brille zum sechsten Mal im Kühlschrank wieder auftaucht oder er mal wieder für Margot und Jorge eine Rede hält, ist das nicht gerade ein Schenkelklopfer. Vieles wiederholt sich, und am Ende war ich dann froh, als es vorbei war.

Wem kann man dieses Buch denn nun ans Herz legen? Leider habe ich da keine Idee.
Ich bin mir sicher, dass Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind und als Erwachsene dort gelebt haben, vielleicht eine ganz andere Meinung zu diesem Buch haben. Und ich hoffe, dass mir die Rezensionen anderer Leser darüber Aufschluss geben. Für das jüngere Publikum ist das Buch vermutlich wenig attraktiv, weil wohl bei den vielen angeschnittenen politischen und gesellschaftlichen Themen vieles nicht präsent sein dürfte. Bleiben also eher ältere Leser.
Vielleicht sollte man "Alles Banane" auch einfach nicht am Stück, sondern lieber häppchenweise lesen, dann ist es vermutlich leichter verdaulich.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Rahoteps letzter Fall

Anchesenamun - Das Buch des Chaos
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Theben, im 4. Jahr der Herrschaft von Eje: Rahotep ist Zaungast an einem spektakulären Tatort. Fünf nubische Jungen, vermutlich auf der untersten Hierarchiestufe einer der umtriebigen Opiumhändlerbanden. ...

Theben, im 4. Jahr der Herrschaft von Eje: Rahotep ist Zaungast an einem spektakulären Tatort. Fünf nubische Jungen, vermutlich auf der untersten Hierarchiestufe einer der umtriebigen Opiumhändlerbanden. Sie wurden geköpft, und auf einer Straße in einem Elendsviertel in Reih und Glied abgelegt - ihre Köpfe zu ihren Füßen. Im Mund eines Leichnams findet Rahotep ein Papyrus mit einem achtzackigen Stern. Zaungast ist Rahotep deshalb, weil sein Vorgesetzter bei den Medjai ihn inzwischen völlig aufs Abstellgleis geschoben hat, Rahotep konnte schon seit Jahren keinen richtigen Fall mehr aufklären.
Da kommt ihm das Angebot Anchesenamuns gerade recht: Eje ist dem Tode nahe und es gibt keinen Thronfolger. Anchesenamun braucht einen starken, neuen Ehemann, der an ihrer Seite Ägypten mitregiert und hoffentlich mit einem gemeinsamen Sohn und Thronfolger die Dynastie sichert.
Darum wird sich der oberste ägyptische Botschafter, Rahoteps alter Freund Nacht, auf den Weg zum Hethiterkönig Schuppiluliuma machen und ihn um einen seiner Söhne bitten. Rahotep soll Nacht begleiten und für seine persönliche Sicherheit sorgen. Diese Mission ist streng geheim, schließlich sind die Hethiter seit Jahrzehnten Ägyptens Erzfeinde, und dieser Schachzug der Königin ist ebenso riskant wie genial.

Im letzten Band seiner Ägypten-Trilogie begibt sich Nick Drake historisch gesehen auf dünnes Eis, denn als Hauptthema dieses Bandes hat er die sogenannte Dahamunzu-Affaire auserkoren. Auf dem Gebiet des heutigen Anatolien, wo sich früher das Reich Hatti befand, wurden Bruchstücke von Tontafeln gefunden, unter anderem Fragmente von Briefen einer Dahamunzu (= Gemahlin des Pharao), in denen sie den König der Hethiter um einen Sohn bittet, da sie kinderlos und verwitwet ist. Da die Tafeln in Keilschrift und nicht in ägyptischen Hieroglyphen verfasst sind, enthalten sie nicht den richtigen Namen der betreffenden Pharaonin. Bis heute ist umstritten, wer die Absenderin dieser Tontafeln war, sowohl Nofretete als auch ihre Tochter Anchesenamun kämen in Frage.
Die Historiker, die Anchesenamun für wahrscheinlicher halten, begründen dies hauptsächlich damit, dass Nofretete höchstwahrscheinlich vor Echnaton verstorben ist.
Die entgegengesetzte Partei hängt der Theorie an, dass Nofretete identisch ist mit Semenchkare, der nach Echnaton und vor Tutanchamun für kurze Zeit Ägypten regiert haben könnte. Ebenfalls ein Kapitel, das sehr im Dunkel der Geschichte verschwunden ist, denn es gibt nur sehr wenige Funde, die überhaupt auf Semenchkare hinweisen.
Solch lückenhafte historische Fakten sind natürlich für einen Autor geradezu eine Einladung, diese Lücken mit einer eigenen Geschichte zu füllen. Nick Drake hat sich nun für die Anchesenamun-Variante entschieden, und wenn man diesen Ansatz als gegeben annimmt, hat er für dieses mysteriöse Kapitel des Neuen Reiches eine stimmige und runde Deutung gefunden, die mir sehr gut gefallen hat.

Rahoteps Fall ist dagegen völlig fiktiv, er ermittelt inoffiziell gegen die Opiumhändler, die Theben neuerdings mit der Droge überschwemmen. Eine Art antikes Drogenkartell, das als Vorlage das organisierte Verbrechen neuerer Zeiten hat. Ebenfalls ein sehr interessanter Ansatz, zu dem der Autor einen raffinierten Fall rund um Opiumanbau, Lieferwege und Bandenkriege konstruiert hat.

Der Abschlussband der Ägypten-Trilogie ist um einiges düsterer und brutaler als die beiden Vorgängerbände Nofretete - Das Buch der Toten und Tutanchamun - Das Buch der Schatten. Eine nachvollziehbare Entwicklung, da Rahotep seit seinem ersten Fall in Echnatons Auftrag einige persönliche und berufliche Tiefschläge einstecken musste. Insgesamt sind zwischen dem Beginn des ersten und dem Ende des dritten Bandes etwa zwanzig Jahre verstrichen. Rahotep ist also ein etwas brummeliger, älterer Herr geworden, der zudem politisch und gesellschaftlich gesehen auch noch einer recht düsteren Zukunft entgegenblickt. Dies schlägt sich klar auf die Stimmung des Buches nieder, der Ich-Erzähler hat den natürlichen Optimismus der Jugend irgendwo auf der Strecke verloren.

Das Buch ist wieder mit einem sehr interessanten Nachwort des Autors sowie einer Literaturliste versehen. Auch die bereits aus dem letzten Buch bekannte Karte ist wieder auf beiden Umschlaginnenseiten abgebildet. Allerdings wäre es doch schöner gewesen, wenn man zumindest auf einer der beiden Abbildungen Nachts und Rahoteps Reiseweg hätte nachvollziehen können, statt einfach die alte Ägypten-Karte doppelt zu recyceln, die nun bei einer Reise ins Ausland nicht wirklich informativ war.

Bei einem letzten Band kommt man nicht umhin, im Grunde die komplette Reihe zu bewerten. Mich hat Nick Drake mit seiner Ägypten-Trilogie vollends überzeugt, ich habe es immer wieder genossen, mich mit Rahotep in seinen Medjai-Alltag, hauptsächlich bestehend aus recht brutalen Mordfällen und Palastintrigen, zu stürzen.
Die Bücher sind auffällig gut recherchiert, und in den Details auch auf dem neuesten Stand der historischen Forschung. Trotzdem sind sie keinesfalls trocken, sondern im Gegenteil mit spannenden Kriminalfällen und witzig-ironischen Dialogen höchst fesselnd und unterhaltsam. Definitiv ein Schmankerl für alle Leser, die gerne mal ins antike Ägypten abtauchen möchten.