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Skadi

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 22.07.2021

Ein Portal in die Vergangenheit

Eine Liebe zwischen den Zeiten
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Als Lea im Jahr 2005 das Haus ihrer Großmutter erbt, reist sie Hals über Kopf nach Deutschland. Direkt nach einem Streit mit ihrem Freund Brian. Sie richtet das Haus wieder her und entdeckt dabei Schätze ...

Als Lea im Jahr 2005 das Haus ihrer Großmutter erbt, reist sie Hals über Kopf nach Deutschland. Direkt nach einem Streit mit ihrem Freund Brian. Sie richtet das Haus wieder her und entdeckt dabei Schätze aus der Vergangenheit. Und nicht nur das: der Wandschrank im Haus ist ein Portal in die Vergangenheit. Nichts ahnend landet sie im Jahr 1938 und lernt den jüdischen Arzt Daniel Grünfeld kennen. Erschrocken kehrt sie in ihre Zeit zurück, doch sie kann Daniel einfach nicht vergessen und nutzt das Portal immer wieder.
Romane über die NS-Zeit sind immer schwierig – es ist ein schmaler Grad das Leid dieser Zeit darzustellen und dennoch Hoffnung darin unterzubringen. Verbunden mit der Zeitreise entsteht eine spannende Geschichte, denn Lea muss aufpassen, wie sie agiert und was sie sagt. Nicht nur, weil sie die Gepflogenheiten dieser Zeit nicht verinnerlicht hat, sondern auch, weil sie nicht zu viel über die Zukunft aus Perspektive des Jahres 1938 verraten darf. Sabine Neuffer ist der Tanz auf Messerschneide mit „Eine Liebe zwischen den Zeiten“ gelungen. Unbeschönigt erzählt sie das Schicksal einer jüdischen Familie, die lange die drohende Gefahr nicht wahrhaben will, und doch steckt in dieser Geschichte unglaublich viel Hoffnung und Liebe.
Der Stil hat mich von der ersten Seite an gefesselt. Ausschweifend wir die Umgebung beschrieben, so realistisch, dass man sich beim Lesen mit Lea in diesem Haus, mit dem sie zu Beginn so wenig anfangen kann, befindet.
Die Figuren sind allesamt interessant und differenziert gestaltet. Lea wächst im Laufe des Buches über sich hinaus, lernt mehr über sich selbst und findet neue Wege für ihr künftiges Leben. Ihre eigene Familiengeschichte ist ihr hierbei eine Lehre. Ihr zur Seite steht in der Gegenwart Carl, ein alter Freund ihres Vaters, der mehr Hintergrundwissen zur Geschichte liefert, das Lea mit ihren Erfahrungen füllt. Außerdem erzählt er Lea mehr über ihre Eltern, zu denen sie nicht das beste Verhältnis hat. Die Familie Grünfeld schließt man sofort ins Herz: Daniel, der sich rührend um die verletzte Lea kümmert, seine Tochter Mirjam in der Lea rasch eine Freundin findet und die kleine Maxi, Mirjams Tochter, die absolut zuckersüß ist. Dadurch fiebert man auf jeder Seite mit der Familie und Lea, die sie zum Auswandern bewegen will, mit.
Einige Wendungen kommen überraschend, sodass die Spannung nicht ausbleibt. Und über allem steht natürlich die Frage: schaffen es die Grünfelds noch rechtzeitig aus Deutschland?
Eine rührende Geschichte, die einen mit gemischten Gefühlen zurücklässt. Bewegend und fesselnd. Ein kleines Juwel, das ich nur durch Zufall entdeckt habe, aber zweifellos weiterempfehlen kann.

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Veröffentlicht am 21.07.2021

Emotional und dramatisch

Wir sind für die Ewigkeit
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Ein Roman vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs. Mercedes muss mit ihrer Familie aus ihrer katalanischen Heimat fliehen, nachdem ihr Vater verhaftet wurde. Doch schnell stirbt ihre Mutter und ...

Ein Roman vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs. Mercedes muss mit ihrer Familie aus ihrer katalanischen Heimat fliehen, nachdem ihr Vater verhaftet wurde. Doch schnell stirbt ihre Mutter und sie verliert ihren Bruder Felix aus den Augen. Dafür lernt sie Agustí kennen, einen jungen Republikaner, mit dem sie nach Frankreich flüchtet und in den sie sich verliebt. Allerdings meint das Schicksal es nicht immer gut mit Mercedes …
Der Inhalt ist hier etwas schwerer zusammenzufassen, denn die Geschichte begleitet Mercedes Werdegang zwischen 1939 und 1950, inklusive aller Höhen und Tiefen. Durch den großen Zeitraum gibt es viele Zeitsprünge, die allerdings völlig unproblematisch sind. Wichtige Entwicklungen werden geschickt in die aktuellen Gegebenheiten eingeflochten, sodass auch Mercedes‘ persönliche Entwicklung stets nachvollziehbar bleibt.
Zu Beginn bleibt die politische Situation etwas unklar, wer wenig Ahnung von der spanischen Geschichte hat, fühlt sich damit vermutlich etwas verloren. Allerdings liegt hierin ein genialer Kniff: Mercedes hat als junge Frau, fast noch ein Kind, selbst wenig Ahnung von Politik. Sie weiß zwar, dass auf der einen Seite die Republikaner und auf der anderen Seite die Faschisten um Franco stehen, aber mehr eben auch nicht. Und mehr erfährt man als Leser auch nicht. Die Aufklärung erfolgt erst, als auch Mercedes mehr darüber lernt und ist dadurch auch nachvollziehbar für jene, die überhaupt keine Ahnung haben.
Der Stil ist bildhaft und emotional, sodass man beim Lesen eine kleine Zeitreise ins Spanien und Frankreich des letzten Jahrhunderts unternehmen kann und auf jeder Seite mit Mercedes leidet. Gut gefallen hat mir auch, dass die verschiedenen Sprachen eingebunden wurden – manche Figuren sprechen Katalanisch, in Frankreich sprechen sie natürlich Französisch und später ein wenig Spanisch. Die Übersetzung wird geschickt mitgeliefert, sodass man sich darüber beim Lesen nicht den Kopf zerbrechen muss (obwohl mit ein wenig Kenntnis anderer romansicher Sprachen selbst das Katalanisch gut verständlich wäre).
Mercedes ist als Protagonistin nicht nur unglaublich sympathisch, sie ist auch eine taffe junge Frau, die durch die vielen Schicksalsschläge über sich hinauswächst. Trotz der Emotionalität, die das Buch beinhält, muss man nicht miterleben, wie sie im Selbstmitleid versinkt und sich auch nicht durch Seitenlange innere Monologe, wie schlimm doch alles ist, quälen – etwas, das mich persönlich sehr gestört hätte.
Agustí ist von anhieb sympathisch und stellt den Ausgleich zu Mercedes und ihrer desinteressierten Unwissenheit der Politik dar. Auch wenn er so seine Eigenheiten hat und damit zu einer Figur mit Ecken und Kanten wird.
Auch die anderen Personen, denen Mercedes auf ihrer langen Reise begegnet, sind Interessant gestaltet und haben alle ihren eigenen Touch, sodass es Spaß macht, jede und jeden von ihnen näher zu kennen lernen – auch wenn man nicht alle unbedingt gut kennenlernt, manche verschwinden „zu schnell“ wieder aus Mercedes‘ Leben.
Trotz dieser Fülle an Figuren ist es kein Problem die Namen und Personen auseinander zu halten. Nicht nur, weil sie alle so verschieden sind, sondern auch weil sie – wie im realen Leben – Mercedes eben nicht auf ihrem gesamten Weg begleiten. Ein Aspekt, den sich sehr realistisch gestalten fand. In verschiedenen Lebensabschnitten sind andere Menschen wichtig für Mercedes. Nur Agustí und Felix stellen eine Konstante dar, auch wenn Mercedes sie zu früh aus den Augen verliert.
„Wir sind für die Ewigkeit – Hoffnung“ ist erst der Auftakt der Spanien-Saga und ich kann sagen: ich freue mich jetzt schon auf den zweiten Band, der bald erscheinen wird. Von mir eine klare Leseempfehlung, vor allem für Fans von emotionalen Romanen und jenen, die mehr über die Spanische Geschichte erfahren wollen.

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Veröffentlicht am 11.07.2021

Emotional packend und großartig recherchiert

Eine Liebe zwischen den Fronten
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Im Jahre 1870 wollen sich der preußische Arzt Paul und die Französin in Berlin verloben – doch die Feier wird rasch gestört: zwischen Preußen und Frankreich ist Krieg ausgebrochen. Paul muss als Militärarzt ...

Im Jahre 1870 wollen sich der preußische Arzt Paul und die Französin in Berlin verloben – doch die Feier wird rasch gestört: zwischen Preußen und Frankreich ist Krieg ausgebrochen. Paul muss als Militärarzt seinen Dienst antreten. Währenddessen reist Madeleine mit ihrem Vater ab, um in ihre Heimatstadt Metz (Lothringen) zurückzukehren. Aus einem liebenden Paar werden formal Feinde. Werden die beiden Krieg überstehen und wieder zueinander finden können?
Der historische Roman erzählt das Schicksal dreier Familien vor dem Hintergrund des letzten Einigungskriegs des späteren Deutschen Reichs. Insgesamt hat Maria W. Peter, die 2018 mit dem Homer-Preis ausgezeichnet wurde, fünf Jahre für diesen Roman recherchiert und dabei auch ihre eigene Familiengeschichte eingebunden. Bevor ich auf die Figuren und den Stil eingehe, sei gesagt: diese lange Recherche hat sich gelohnt! In dieser Geschichte stecken zahlreiche Details, die auf wahren Begebenheiten und realen Menschen beruhen, dass es einem beim Lesen leicht fällt, eine kleine Zeitreise zu unternehmen. Schöner Nebeneffekt: man wird nicht nur gut unterhalten, sondern lernt auch viel neues dazu. Da ich in der Nähe der Französischen Grenze aufgewachsen bin, war dieser Krieg bei uns im Schulunterricht immer wieder Thema, dazu besitze ich noch ein ausgeprägtes Interesse an Gesichte und doch musste ich beim Lesen immer wieder erkennen, wie wenig ich bislang wusste. Vor allem über die französische Perspektive auf die Geschichte beider Länder. Frau Peter ist es nicht nur gelungen, einen emotional packenden Roman zu schreiben, sondern auch all das zu vermitteln, was das deutsche Bildungssystem ausgelassen hat. Insbesondere die Darstellung der jeweiligen politischen Situationen beider Länder hat mich begeistert.
Im Zentrum der Geschichte stehen nicht nur Madeleine und Paul, sondern auch einige weiterer Figuren. Unter anderem Madeleines Bruder Clément, das Hausmädchen Djamila und ihr Bruder Karim.
Clément studiert in Paris, hasst die Preußen (und alles Deutsche) und träumt von der Republik. Für mich ist er eine der interessantesten Figuren des ganzen Romans. Trotz seiner, teilweise radikalen, Gedanken beweist er an mehren Stellen Menschlichkeit. Anfangs wirkt er absolut unsympathisch, im Laufe der Geschichte wird allerdings klar, dass er eine tragische Figur ist. Ein junger Mann, der nicht so genau weiß, wohin er gehört und der erst noch seinen Platz im Leben finden muss. „Zerrissen“ beschreibt ihn als Adjektiv wohl am besten.
Djamila stammt aus Algerien, als Kind musste sie mitansehen, wie ihre Eltern von den Franzosen ermordet wurden. Das ist übrigens auch eine Stärke des Romans: er bringt nicht nur die Preußische bzw. Deutsche und die Französische Perspektive ein, sondern beleuchtet auch die Geschichte der Kolonialisierung und die Perspektive dieses unterworfenen Volkes, das trotzdem für Frankreich den Kopf hinhalten muss. An Djamila wird das weniger deutlich als an Karim.
Karim ist ein algerischer Soldat, der in einem Krieg kämpfen muss, der nicht der seine ist. An der Seite jenes Volkes, das seine Familie ermordet und sein Land besetzt hat. Statt jedoch von Hass auf die Franzosen zerfressen zu sein, ist es sein Ziel, ein Kriegsheld zu werden.
Jede und Jeder von ihnen hat Ecken und Kanten, sodass es Spaß macht, sie im Laufe der Geschichte besser kennen zu lernen. Aber auch die Nebenfiguren sind liebevoll ausgearbeitet. Erzählt wird die Geschichte aus Perspektive dieser Hauptfiguren, wodurch nicht nur ein unterschiedlicher Blick auf die Handlung, sondern auch auf die reale Geschichte geboten wird.
Der Stil ist flüssig und angenehm zu lesen, die Umgebung wird so gut beschrieben, dass man sich alles im Kopf vorstellen kann – besonders die Beschreibungen der wunderschönen Stadt Metz haben es mir angetan. Aber auch die Kriegsszenen sind hervorragend beschrieben, so hart es manchmal ist, man steht beim Lesen gedanklich mit auf dem Schlachtfeld. Hierbei zeigt sich wieder die intensive Recherche, die in diesem Buch steckt.
Auch die Emotionen werden überzeugend rübergebracht und sind nachvollziehbar. Sowohl der Schrecken des Krieges als auch die leisen, hoffnungsvollen Momente zwischendurch.
Die ist wohl die längste Rezension, die ich je geschrieben habe. Das hat vor allem einen Grund: in wenigen Worten scheint es mir kaum möglich, die Qualität dieses großartigen Buches zu verdeutlichen. Für mich ist „Eine Liebe zwischen den Fronten“ eines der wenigen Bücher, an denen es absolut nichts zu bemängeln gibt. Ein absolutes „Muss“ für alle Fans von historischen Romanen, bittersüßen Liebesgeschichten und einfach gut geschriebenen Büchern.

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Veröffentlicht am 08.07.2021

Emotional mitreißend

Raumfahrer
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Jan wohnt zusammen mit seinem Vater in der sächsischen Provinz, dort wo es fast nichts gibt außer Trostlosigkeit. Immerhin noch ein Krankenhaus, in dem Jan arbeitet, doch auch das soll bald geschlossen ...

Jan wohnt zusammen mit seinem Vater in der sächsischen Provinz, dort wo es fast nichts gibt außer Trostlosigkeit. Immerhin noch ein Krankenhaus, in dem Jan arbeitet, doch auch das soll bald geschlossen werden. Patient dort ist der im Rollstuhl sitzende Torsten Kern, der Jan eines Tages zu sich einlädt und ihm eine Kiste mit alten Dokumenten und Fotoaufnahmen. Nach und nach entspannt sich die Geschichte um Torsten Kern, dessen Vater und seinen Onkel, den berühmten Maler Georg Baselitz, der eigentlich Kern heißt.
„Raumfahrer“ ist eine Geschichte, die tief eintaucht in das Erbe der DDR und die Lage der Menschen in einem vergessenen Landstrich. Nach „Mit der Faust in die Welt schlagen“ ist dies der zweite Roman von Lukas Rietzschel, der selbst aus der sächsischen Oberlausitz stammt.
Erzählt wird die Geschichte aus mehreren Perspektiven, wobei vor allem die von Jan im Mittelpunkt steht und die mit Abstand häufigste ist. Der Stil ist bildhaft und schnörkelhaft, allerdings etwas gewöhnungsbedürftig, da er teilweise abgehakt wirkt. Nicht alle Gedankengänge werden zu Ende gebracht – ihre Ergänzung und die Interpretation des Ganzen wird den Lesern überlassen. Was mir persönlich sehr gut gefallen hat, eine erfrischende Abwechslung zu vielen anderen Büchern. Statt mit bloßer Handlung trumpft der Roman vor allem mit seiner ganz eigenen Atmosphäre auf. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mit so manchem zeitlichen Sprung in Jans Vergangenheit meine Probleme hatte. Aufmerksames Lesen ist hier Pflicht!
Die Atmosphäre ist melancholisch. So wie das Krankenhaus nach und nach geschlossen wird, so scheint auch das Dorf in dem Jan lebt, nach und nach zerfallen zu sein. Jede Seite transportiert das Gefühl der Verlorenheit.
Jan als Protagonist ist sympathisch, bleibt aber meist passiv – etwas das dieses Gefühl der Verlorenheit nochmal verstärkt. Insgesamt werden Emotionen hier gut transportiert, ohne jemals klar genannt werden. Melancholie, Angst, Verwirrung. Beim Lesen taucht man in Jans Gefühlswelt ein, der mit seiner Umgebung hadert und sich den Bedingungen doch geschlagen gegeben hat – vielleicht, weil er es nicht anders kennt.
Geschickt werden weitere Themen außer dem DDR-Erbe und zweier miteinander verwobenen Familiengeschichten eingewoben. Unter anderem die Alkoholprobleme seiner Mutter, die sich mal wie ein Kind über ihre Umgebung freut und dann wieder an sich selbst und ihrem Lebenslauf zerbricht. Hier gibt es eine eindrucksvolle Szenen, die im Gedächtnis bleiben. Aber auch das Leben nach dem Krieg – die beiden Kern Brüder finden in einem Kapitel alte Munition, die sie in die Luft jagen wie ein Feuerwerk. Eine bloße Zusammenfassung dessen wird diesen Szenen zweifellos nicht gerecht.
Für mich ist es immer wieder beeindruckend, wie Lukas Rietzschel es schafft, Einzelschicksale exemplarisch für ganze Generationen zu präsentieren. Der Roman stellt nicht nur Fragen nach der Vergangenheit, sondern auch nach der Gegenwart. Und viel wichtiger: wie wird die Zukunft aussehen? Für die Menschen, die vergessen wurden. Die in sterbenden Dörfern leben und nichts anderes kennen als die Tristesse ihrer kleinen Welt.
Raumfahrer ist ein weiteres Meisterwerk aus Rietzschels Feder, emotional, mitreißend, wenn auch manchmal nur schwer zu tragen. Ein „Muss“ für alle, die es anspruchsvoller mögen.

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Veröffentlicht am 03.07.2021

Definitiv empfehlenswert!

Die Totenärztin: Wiener Blut
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Fanny Goldmann hat ihr Medizin-Studium abgeschlossen und arbeitet nun in der Gerichtsmedizin. Allerdings nicht als Pathologin, wie es ihr Wunsch war, sondern als Prosekturgehilfin. Denn als Frau im Jahre ...

Fanny Goldmann hat ihr Medizin-Studium abgeschlossen und arbeitet nun in der Gerichtsmedizin. Allerdings nicht als Pathologin, wie es ihr Wunsch war, sondern als Prosekturgehilfin. Denn als Frau im Jahre 1908 wurde ihr von männlichen Kollegen nur wenig zugetraut. Deswegen hört auch keiner auf sie, als ein Obdachloser eingeliefert wird und Fanny ihn obduzieren will. Kurzerhand führt sie die Obduktion verbotenerweise selbst durch. Der Mann wurde tatsächlich mit Morphin ermordet. Fanny beginnt selbst zu ermitteln und bringt sich damit in eine ungeahnte Gefahr …
René Anour entführt seine Leser ins Wien rund um die Jahrhundertwende. Krimi trifft auf Medizinhistorie und eine ordentliche Portion Humor. Hier liegt für mich die größte Stärke des Buches: eine solche Kombi ist mir bislang noch nie untergekommen. Denn trotz des Humors verliert die Geschichte nicht ihren übergreifenden Ernst und ihre Spannung. Aber auch die Medizin kommt nicht zu kurz – die Obduktionen werden detailliert beschrieben, was vermutlich nicht jedermanns Fall ist, aber dem Krimi seine eigene Note verleiht. Und für mich eines der Highlights dieses Buches war. Was sonst häufig ausgenommen und übersprungen wird, wird hier mit eingebunden. Auch die historischen Hintergründe sind gut recherchiert, Abweichungen werden in einem Nachwort erläutert und begründet. Auch kleine Details werden am Rande eingewoben und schaffen so eine wunderbare Atmosphäre.
Neben den genannten Aspekten wird auch die gesellschaftliche Rolle der Frau immer wieder am Rande erwähnt – nicht zu penetrant und doch so, dass man als Leser die Zeit verstehen kann. Und an manchen Stellen auch mal wütend wird.
Die meisten Figuren sind liebenswerte Unikate. Fanny, die sich gegen die Erwartungen ihrer Zeit stellt und ihren Weg geht. Obwohl ihr Vorgesetzter mehr als nur deutlich macht, was er von Frauen hält, die „Karriere“ machen wollen. Fanny strotzt zwar nicht immer vor Selbstbewusstsein, beweist jedoch jedes Mal Mut, wenn es darauf ankommt und ist insgesamt eine beeindruckende junge Frau. Meine unangefochtene Lieblingsfigur war allerdings Tilde – Fannys beste Freundin. Eine schillernde Nebenfigur, die man einfach gernhaben muss. Aber auch alle anderen Figuren sind liebevoll ausgearbeitet. Selbst die unsympathischen, wie Fannys Vorgesetzter Prof. Albin Kuderna.
Der Schreibstil hat mir gut gefallen, durch die Beschreibung der Umgebung entsteht eine wundervolle Atmosphäre. Manchmal locker und leicht, dann wieder düster und ein wenig unheimlich. Selbst wenn man Wien (wie ich) nicht kennt, kann man sich die Umgebung und die wichtigsten Handlungsorte gut vorstellen.
Die Handlung ist von den ersten Kapiteln an spannend. Vor allem in der zweiten Hälfte warten viele überraschende Wendungen auf die Leser. Für mich persönlich war der Fall bis zum Ende nicht vollkommen zu durchschauen – auf den Täter wäre ich niemals gekommen. Was allerdings nicht daran liegt, dass die Auflösung an den Haaren herbei gezogen wäre, im Nachhinein betrachtet gibt es durchaus Andeutungen auf den Täter.
Für mich ein gelungener historischer Krimi, der alles mitbringt, was das Genre braucht. Ich bin – nicht nur wegen des Cliffhangers am Ende – gespannt auf den zweiten Teil der Reihe um „die Totenärztin“ Fanny Goldmann!

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