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Veröffentlicht am 05.01.2022

Was bedeutet es eine Frau zu sein?

Milch Blut Hitze
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“Könnte es eines Tages auch ihr passieren, dass ein Mann sie kleiner macht, als sie war?” (S.88)

Am Anfang konnte ich noch gar nicht einschätzen, auf welche Reise ich mich mit diesem Buch einlasse. In ...

“Könnte es eines Tages auch ihr passieren, dass ein Mann sie kleiner macht, als sie war?” (S.88)

Am Anfang konnte ich noch gar nicht einschätzen, auf welche Reise ich mich mit diesem Buch einlasse. In jedem Fall hätte ich nicht gedacht, dass ich mich in so vielen unterschiedlichen Arten wiederzuerkennen.

“Milch Blut Hitze” ist der Debüt-Roman von Dantiel W. Moniz der 2022 durch den C.H. Beck Verlag im Deutschen veröffentlicht wird. Der Name ist dabei Programm, denn die unterschiedlichen Kurzgeschichten spiegeln verschiedene Facetten davon wider, was es bedeutet eine Frau zu sein - sei es die Milch, mit der man Neugeborene nährt, das Blut, dass man während der Periode blutet oder die Hitze aus Leidenschaft, die man in sich aufsteigen fühlt, ehe sie einen verschlingt.

Wir begleiten in voneinander unabhängig stattfindenden Kapiteln unterschiedliche Frauen dabei, wie sie an gesellschaftlichen Erwartungen scheitern, ihre Rollen hinterfragen oder sich trotz aller Hürden und Hindernissen von den Vorstellungen ihres christlich-konservativen Umfelds losreißen und dabei wie urzeitliche mesopotamische Göttinnen wirken.

Wir erhalten Einblicke in gescheiterte Schwangerschaften, gebrochene Ehen, die Verachtung einer Tochter gegenüber ihrer gefügigen Mutter, aber auch Frauen, die sich dazu entschieden haben, vogelfrei zu leben und losgelöst im Mondlicht tanzen. Wir begegnen Männern die Angst vor der potenziellen Sexualität von Frauen haben, die aus den Frauen sonst eine Lilith machen könnte, die ihre Gaben zur Befriedigung ihrer eigenen Begierden verwenden würde.

Moniz macht keinen Halt davor authentisch die unschönen Seiten des Frauseins zu zeigen - sei es die patriarchale Unterdrückung, der verlangte Gehorsam von Willen und Körper, die Angst vor oder das Sehnen nach Mutterschaft, schwache Partner, die einen nur aufhalten oder sogar Fehlgeburten und die Verdrängung von sexuellem Missbrauch.

In den Geschichten ging es nämlich nie darum, die richtige oder falsche Entscheidung zu treffen oder einen moralischen Standpunkt zu vertreten, sondern darum, Ausschnitte aus Leben zu zeigen, die auch in der Realität stattfinden könnten. Dabei haben die Figuren und ihre Erfahrungen für sich selbst gesprochen und waren unter die Haut gehend lebendig, denn der Zwiespalt, in denen sie sich befunden und die Verzweiflung, die sie gefühlt haben, machten sie menschlich und nahbar.
Deswegen hatte ich auch ständig das Gefühl einer Freundin zuzuhören, die mir von ihren Erlebnissen berichtet, und musste mich immer wieder fragen, wie ich an der Stelle der Figuren gehandelt hätte.

Während des Lesens fiel es mir dementsprechend auch schwer Abstand zu den Figuren und ihren Geschichten zu halten, denn die unterschiedlichen Geschichten sprachen Gefühle und Erfahrungen an, die ich selbst erlebt habe oder mir von einer Freundin vertraulich anvertraut hätten sein können. Es war so, als hätte es Moniz auf den Punkt gebracht, wie ich mich in ähnlichen Situationen gefühlt habe.

Aber genau das ist, was dieses Buch so bewegend macht: Die Erzählungen und Figuren sind so lebendig und lebensnah, dass sie mir unter die Haut gegangen sind, weil die Erfahrungen der Figuren mir auf die eine oder andere Art passieren könnten.
Und wie im richtigen Leben gab es in den Geschichten kein Richtig oder Falsch, sondern nur die Entscheidungen, die die unterschiedlichen Figuren mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren müssen.

Auch der Schreibstil hat mich beim Lesen mitgerissen, denn jede einzelne der Geschichten hatte eine unterschiedliche Stimmung, die schwer in Worte zu fassen ist: Von Befangenheit, Verachtung, Nostalgie und Mystik war vieles dabei, was dafür sorgte, dass ich mich kaum von den Zeilen lösen konnte und die Geschichten und ihre Handlunge unterstützt hat.

Präzise wurden Gefühle benannt und geschickt in Handlungen umgesetzt, die unmissverständlich aufzeigten, um was es den Figuren in dieser Situation ging und welchen inneren Kampf sie kämpfen mussten. Beim Lesen hatte ich auch das Gefühl, als wären die Geschichten magisch aufgeladen - das war gerade dann der Fall, als sich eine Figur gegenüber den Willen eines Pfarrers behauptet hat oder eine Gruppe von Frauen unter Mondschein ihr Ritual gefeiert haben - es hat sich so angefühlt, als wäre ich während dem Lesen Teil von etwas größerem gewesen.

Ich kann das Buch allen weiterempfehlen, die Freude an prägnanten und packenden Kurzgeschichten haben, die authentische Einblicke in andere Leben bieten. Man wird nicht davon verschont werden mit den unterschiedlichen Figuren mitzufühlen und wird sich selbst vielleicht mit anderen Augen zu sehen.

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Veröffentlicht am 03.01.2022

Science Fiction auf den Punkt gebracht

Micro Science Fiction
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Die Menschen wurden ersetzt - von Robotern die WiFi-Hotspots bereitstellen und von den Nudes wissen, die man verschickt hat.
Später rufen die Aliens an und fragen, ob wir mit raus spielen wollen.

Viele ...

Die Menschen wurden ersetzt - von Robotern die WiFi-Hotspots bereitstellen und von den Nudes wissen, die man verschickt hat.
Später rufen die Aliens an und fragen, ob wir mit raus spielen wollen.

Viele weitere solcher prägnanten Mikro-, oder im Deutschen auch Kürzestgeschichten sind in dem Buch “Micro Science Fiction” von O. Westin zu finden, das durch den mikrotext Verlag 2022 im Deutschen veröffentlicht wird.

Eine knackige Kurzgeschichte folgt auf die andere, ohne jemals die Pointe vermissen zu lassen und nicht zumindest einem beim Lesen ein kleines Schmunzeln auf die Lippen zu zaubern. Es werden die Übernahme von Aliens durchgespielt, das Zusammenleben mit Robotern beschrieben und die Schwäche des menschlichen Fleisches thematisiert - all das, während ein Roboter von einer Gesangskarriere träumt und ein Einhorn die Welt verflucht.

Dabei besticht jede einzelne der Geschichten mit ihrer Kreativität, die mich beim Lesen förmlich dazu gezwungen hat mir vorzustellen, wie es zu den einzelnen Situationen oder gewieften Schlagabtäuschen gekommen ist. Wieso ist beispielsweise die Menschheit untergegangen, während das alte Nokia 3310 noch existiert und dabei noch achtzig Prozent Akku hat? Wieso behaupten die Aliens, alle retten zu wollen, um doch nur die Tintenfische mitzunehmen?
Jedes einzelne dieser prägnanten Häppchen regt die Vorstellung verspielt an und sorgt dafür, das man schnell seinen eigenen Roman im Kopf durchspielt. Am liebsten hätte ich meinen “You are a Star”-Kulli gegriffen und selbst ein paar Zeilen zu Papier gebracht.

Weil die Geschichten so kurz sind - tatsächlich sind die einzelnen Kurzgeschichten nie mehr als acht Zeilen lang - ist es ein tolles Buch, wenn man kurz einen kreativen Kick benötigt, Unterwegs ist oder man kurz vor dem Schlafen gehen noch etwas gelesen haben möchte, um schöne Träume zu haben.

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Veröffentlicht am 02.01.2022

Eine bildgewaltige Geschichte

Eine Nacht in der Milchstraßenbahn
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Was wird das letzte sein woran du denkst bevor du stirbst? Worauf wirst du zurückblicken - wofür hast du dir überhaupt die Mühe gemacht?
Das sind Fragen die ich mir hin und wieder stelle, aber meist nur ...

Was wird das letzte sein woran du denkst bevor du stirbst? Worauf wirst du zurückblicken - wofür hast du dir überhaupt die Mühe gemacht?
Das sind Fragen die ich mir hin und wieder stelle, aber meist nur deprimierende Antworten finde.
Und das sind auch genau die Fragen die Kenji Miyazawa versucht mit seinem Kinderbuch “Eine Nacht in der Milchstraßenbahn” das 2021 durch den Cass-Verlag veröffentlicht wurde versucht zu beantworten und dabei eine hoffnungsvollere Perspektive bietet.

Wir begleiten den Schüler Giovanni und seinen Freund Campanella bei einer bildgewaltigen Zugfahrt entlang der Milchstraße durch die Sternzeichen hindurch.

Giovanni hat keine einfaches Leben: Sein Vater arbeitet auf der See, seine Mutter ist krank und er muss Geld für den Haushalt verdienen, während seine Klassenkameraden ihn nach der Schule aufziehen und ausschließen.
Während das Dorf das Sternenfest im Zeichen des Stiers feiert, schläft Giovanni ein, um dann plötzlich in der Milchstraßenbahn mit seinem Freund Campanella aufzuwachen. Beide lernen so die unterschiedlichsten Menschen kennen und erfahren neue und ergreifende Geschichten.

Giovanni wird mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gut und Böseund welchen Wert Bildung hat konfrontiert, bis er sich zum Schluss fragt, was seinem Leben Sinn geben könnte. Giovanni entscheidet sich dazu, für andere Menschen da zu sein und jedes Leben zu bereichen auf das er trifft.
Er lernt, dass er sein Wissen ständig in Verhältnis zu den momentanen gesellschaftlichen Entwicklung setzen und hinterfragen soll, damit er sich nicht im Irrglauben oder falschen Annahmen verrennt.

Obwohl es sich hierbei um ein Kinderbuch handelt, war der Schreibstil stellenweise anstrengend und schwer verständlich. Das lag an den hin und wieder stark verschachtelten Sätzen und Beschreibungen, die ich manchmal erst beim zweiten Lesen verstanden habe. Dennoch war dieses Buch eine bezaubernde Erfahrung, denn die Beschreibungen waren Bildgewaltig und wurden durch magisch wirkende Aquarellbilder unterstützt: Ich konnte nicht anders als mir das feurige Wasser der Milchstraße, die tiefblauen Enziane und die durch die Luft gleitende Störche vorzustellen, während im Hintergrund unendlich viele Sterne funkelten.
Hin und wieder fiel es mir sogar schwer weiter zu lesen, weil meine Vorstellung abdriften wollte um diese magische Welt zu erkunden.

Meine Gedanken wollten aber auch wegen den angeschnittenen Themen abwandern, da ich mich öfters gefragt habe, was die dargestellten Symbole bedeutete, wie ich Weisheiten aufzufassen hatte oder ob ich mich anders als manche Figuren verhalten hätte.
Deswegen denke ich, dass es sich hierbei um ein Buch handelt, das man mehrmals lesen muss, um die vielen Eindrücke verarbeiten zu können.

“Eine Nacht in der Milchstraßenbahn” ist ein Buch, das ich denjenigen empfehlen kann, die “Alice im Wunderland” oder “Der kleine Prinz” geliebt haben, denn das Buch ist genauso Symbolträchtig und regt genauso sehr zum Nachdenken an. Ob das Buch für Kinder geeignet ist kann ich nicht aber wirklich nicht einschätzen.

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Veröffentlicht am 29.12.2021

Der Appell an den inneren Misfit

Misfits
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“Außenseiter” ist einer der Begriffe, die gerne achtlos rumgeschleudert werden, ohne sich zu fragen, was dieser Begriffe wirklich bedeutet - ob im Pausenhof, auf der Arbeit, in der Familie oder Uni. Außenseiter ...

“Außenseiter” ist einer der Begriffe, die gerne achtlos rumgeschleudert werden, ohne sich zu fragen, was dieser Begriffe wirklich bedeutet - ob im Pausenhof, auf der Arbeit, in der Familie oder Uni. Außenseiter sind meistens die Leute die nicht zu einer Gruppe gehören, diejenigen mit einer abweichenden Wahrnehmung, abweichenden Interessen oder die einfach irgendwie anders wirken. Aber was heißt es ein Außenseiter - ein Misfit - zu sein? Am Anfang bedeutet es Einsamkeit, Scham und die Angst vor sozialer Ächtung. Doch mit Zeit, wenn man reift und lernt, dass es noch andere Communities da draußen gibt, bedeutet ein Misfit zu sein authentisch zu sein. Identität und Selbstbewusstsein. Ein Misfit zu sein bedeutet eine Geschichte zu haben, die von der Norm abweicht und von vielen vielleicht gar nicht erst verstanden werden kann.

Der Roman “Misfits” appelliert an jeden Misfit seine Geschichten zu teilen.

“Misfits” ist ein Roman von der Schauspielerin und Drehbuchautorin Michaela Coel der 2022 durch den Ullstein-Verlag im Deutschen veröffentlicht wurde. Dieser Roman ist Coels Appell an die eigene Authentizität und der Aufruf dazu den Mut zu haben, die eigene Geschichte zu erzählen - unabhängig davon, was der Mainstream verlangt.

Das Buch baut auf einer Rede auf, die Coel für ein Filmfestival verfasst hat. Die Rede selbst unterlag während des Schreibprozesses vielen Veränderungen: Während Coel zunächst noch eine positive und heitere Rede geschrieben hat, wurde ihr klar, dass sie zwar nicht gelogen hat, aber die Rede doch nicht ihrer Wahrheit entsprach. Coel entschied sich dazu, ihre Erfahrungen als Schauspielerin und Drehbuchautorin in einer Branche zu teilen, die auf Intransparenz und Karrieresucht aufbaut. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die sich gegenüber Rassismus und sexuellem Missbrauch behaupten musste, aber auch eine Geschichte über mangelndes Budget, Produzent:innen die zwar behaupteten nicht rassistisch zu sein und der Ideologie nicht angehörten, aber nicht gesehen haben, dass sie farbige Schauspieler anders behandelten. Und sie erzählt über eine Branche, die über die Art und Weise wie Geschichten erzählt werden bestimmt, aber sich gerne von denen inspirieren lässt die dem Mainstream nicht angehören.
Dabei möchte Coel Transparenz: In der Filmbranche geschieht zu viel hinter geschlossenen Türen, ohne Klarheit darüber, wie Geld fließt oder Entscheidungen getroffen werden.
Dadurch erhofft sich Coel denen eine Stimme zu geben, die vom Mainstream verschlungen oder ausgestoßen wurden, um ihnen und sich selbst Gehör zu verschaffen.

Coel hält ein Plädoyer für die, welche sich noch nicht für sich selbst stark machen können, um ihre eigenen Blick auf die Welt zu teilen.
Es sollen die Geschichten erzählt werden, die tatsächlich berühren, die authentisch sind und die sonst vergessen werden - losgelöst von den weißen und hetero-normativen Perspektive und Skripte, die unseren Alltag bestimmen.

Dabei schreibt Coel lebensnah und eingängig, ohne einem beim Lesen das Gefühl zu vermitteln, von oben herab behandelt zu werden. Vielmehr hatte ich das Gefühl, einer Freundin zuzuhören, die selbstreflektiert ihre Erfahrungen teilt und keine Angst davor hat, sich verletzlich und angreifbar zu zeigen.

Deswegen denke ich, dass dieses Buch wertvoll ist und die Leute anspricht, die sich selbst noch nicht ausdrücken können.
Das Buch ist ein Appell stolz auf sich und die eigenen Erfahrungen und auch Narben zu sein, ohne die Scheu davor, nicht dazuzugehören.

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Veröffentlicht am 27.12.2021

Man weiß nicht was Wahr oder doch nur eine Lüge ist

Die Schlampen
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“Die Schlampen” ist ein Roman von Dennis Cooper, der 2021 durch den Luftschachtverlag im Deutschen veröffentlicht wurde.
Beim Lesen musste ich mich wiederholt fragen, worum es denn überhaupt geht: Soll ...

“Die Schlampen” ist ein Roman von Dennis Cooper, der 2021 durch den Luftschachtverlag im Deutschen veröffentlicht wurde.
Beim Lesen musste ich mich wiederholt fragen, worum es denn überhaupt geht: Soll gezeigt werden, wie schwer es ist in sozialen Netzwerken die Wahrheit zu finden oder geht es darum, wie weit einen die eigene Perversion, Aufmerksamkeitssucht und Sensationsgeilheit treiben kann, wenn einem eine Plattform geboten wird?
Und welche Rolle spielt Sexualität dabei?

Die Handlung selbst lässt die Grenzen zwischen Fantasie, Begehren und Wahrheit verschwimmen und ändert wie bei einem Kaleidoskop durch die schnell aufeinanderfolgenden Entwicklungen ständig den Eindruck, den man gerade hat. Und genauso wie man bei einem Kaleidoskop weiß man nicht was real oder doch nur eine Illusion ist.

Wir verfolgen das Geschehen in einem Online-Forum, in dem männliche Prostituierte bewertet werden können. Dabei wechseln die Figuren ständig, Nutzernamen werden zwischendurch verändert und mehrere Identitäten gleichzeitig angenommen. Im Vordergrund steht die Frage, wer die Prostituierte Brad ist und was es mit ihm auf sich hat. Brad soll eine beliebte Prostituierte, da er durch sein kindliches Aussehen und seine Bereitschaft für Geld alles zu tun die Fantasien der Männer anregt.
Aber keiner kann Brad eindeutig identifizieren, falsche Rezensionen häufen sich und die Geschichten über Brad spitzen sich immer weiter zu bis ein Geflecht aus Lügen gesponnen wird, welches auch in der Realität Konsequenzen nach sich zieht.

Dadurch, dass die Handlung in Forumsbeiträgen, Rezensionen und E-Mails erzählt werden, hatte ich das Gefühl einen Thriller zu lesen: Wir sehen dabei zu, wie sich die Handlung vor unseren Augen entfaltet, während ein Wendepunkt nach dem anderen folgt. Wir sehen zu wie Menschen wahnsinnig werden während sie in der Geschichte um Brad versinken und ihre geheimsten und brutalsten sexuellen Fantasien teilen. Vergewaltigungen und Mord werden stilisiert und idealisiert, während Sexualpartner objektifiziert und auf ihr Lustpotential reduziert werden.
Gewalt wird fetischisiert und es herrscht eine allgemeine Obsession mit Ärschen und androgynen, kindlich aussehenden Männern. Doch während sich die Handlung entfaltet, wird uns doch hin und wieder ein Schnipsel Wahrheit zugeworfen, um den roten Faden der Geschichte nicht zu verlieren.

Wir versinken in der absurden Welt aus Prostitution und Snuff, in welcher Menschen sich ohne Scham laben und investiert über die Wahrheit spekulieren.

Beim Lesen habe ich die Geschehnisse niemals als unrealistisch empfunden, obwohl sie für mich als Außenstehende:r absurd wirkten: Das Spekulieren der unterschiedlichen Figuren, die Selbstdarstellung und der Wettkampf um die perverseste Fantasie und die ständig neu hinzukommenden Lügen wirkten durch die Anonymität des Forums glaubwürdig und hätten so auch in Foren zu finden sein können, in denen harmlose Themen wie Spiele, Fandoms oder Politik thematisiert werden.

Was mich aber stört, ist, dass der Schreibstil für diese Art der Geschichtenerzählens zu sauber und zu ausführlich artikuliert war: Ich gehe davon aus, dass es eine besondere Art von Mensch benötigt, um sich die Mühe zu machen Prostituierte zu bewerten - meistens sind es gebildeten und wohlhabenden Männer, die sich diese Dienstleistung leisten können und noch durch die Intellektualisierung und dem Austausch über ihre Erfahrung einen Kick bekommen. Dennoch war das einzige Mal, dass irgendetwas in Richtung Slang verwendet wurde ein “(LOL)”, ohne jemals auf Community-Interne Slangs oder typische Abkürzungen zu werden.
Das ist Schade, denn so hätte man als Leser:in wirklich das Gefühl gehabt als Außenstehender einen Einblick in eine geschlossene Community zu erhaschen.

Gerade dieser Einblick ist, was diesen Roman spannend macht: Man hat ständig das Gefühl etwas zu erfahren, dass sich durch die Entfernung zu eigenen Lebensrealität verboten wirkt und deswegen dem ganzen Roman einen besonderen Reiz gibt. Man hat das Gefühl einen Einblick in Abgründe und Perversionen zu erhalten, die man so nicht für real möglich gehalten hätte, was durch die Thematisierung von Sex und Sexualität noch mal reizender wirkt.

Durch Sexualität kann man Selbstbestätigung erfahren, Beziehung aufbauen und sein eigenes inneres Seelenleben erfahren. Dass die Handllung so kaltblütigen und brutal Sex darstellt, scheint das Gegenteil davon zu sein: In diesem Roman war Sexualität immer an Wunscherfüllung gebunden, an das Bedürfnis sadistisch und selbstsüchtig die eigenen Bedürfnisse auszuleben, ohne das Bewusstsein für Konsequenzen. Die Männer in diesem Roman wollten animalisch und triebgesteuert sein, Grenzen überschreiten, sich gegenseitig übertrumpfen. Da bleibt die Frage, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft mit solchen Bedürfnissen leben. Würden sie diese Bedürfnisse tatsächlich erfüllen wollen? Und wie weit würden sie dafür gehen?

Abschließend kann ich “Die Schlampen” mit zwei Hinweisen weiterempfehlen: Zum einen wird die Buchung von Prostituierten von den Charakteren im Buch glamourisiert und zum anderen wird Snuff ausgiebig beschrieben. Hin und wieder werden grausame Szenen dargestellt, in welchen Beispielsweise Körperteile abgetrennt und anschließend verzehrt werden. Diese Beschreibungen sind nicht allzu ausführlich und kommen erst ab der zweiten Hälfte vor, könnten aber dennoch manche:n Leser:innen aufwühlen.
Abgesehen davon war das Buch spannend bis zum Schluss: Die Frage nach der Wahrheit sorgte dafür, dass ich jeden Austausch gespannt verfolgte und sogar selbst hin und wieder einer falschen Fährte gefolgt bin.
Wer sich nach Einblicke in die brutalen und absurden Neigungen von Menschen und ihre Sexualität sehnt, hat durch “Die Schlampen” einen Schatz gefunden.

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