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Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Tuchvilla

Die Tuchvilla
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Herbst 1913. Es ist das letzte Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe Europas". Während auf dem Balkan zwei Kriege um das Erbe des zerfallenden Osmanischen Reiches toben, die erahnen lassen, ...

Herbst 1913. Es ist das letzte Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe Europas". Während auf dem Balkan zwei Kriege um das Erbe des zerfallenden Osmanischen Reiches toben, die erahnen lassen, welche Schrecken eine Auseinandersetzung mit Waffengewalt birgt, verbringt das übrige (westliche) Europa eine vermeintlich unbeschwerte Zeit in stabiler Ordnung. Hier herrscht seit vierzig Jahren Frieden, der einen technischen Fortschritt, die Hochindustrialisierung (auch als Zweite industrielle Revolution bezeichnet) ermöglicht, der die Nationen wirtschaftlich miteinander verflechtet. Gleichzeitig konkurrieren die europäischen Großmächte um Kolonien und Weltgeltung, instrumentalisieren die Konfliktparteien auf dem Balkan für ihre jeweiligen Interessen und rüsten ihre Flotten und Armeen auf - natürlich nur für den Verteidigungsfall. Das deutsche Kaiserreich erlebt wirtschaftliche Erfolge und baut vor allem gegenüber Großbritannien als einstigem Industriepionier seine Position aus und steht im Vergleich der Industrieländer an zweiter Stelle.

Von diesem Aufschwung hat auch Johann Melzer profitiert und es als Sohn eines Lehrers im Laufe der Jahre nicht nur zu einer florierenden Tuchfabrik in der Textilstadt Augsburg, sondern zudem zu einer adligen Ehefrau, drei präsentablen Nachkommen und einer mondänen Villa samt Dienstpersonal gebracht.

Hier tritt im Herbst 1913 Marie ihre Arbeit als Küchenmädchen an. Bislang hat ihr das Schicksal übel mitgespielt, für das arme, bemitleidenswerte Waisenmädchen ist der Dienst in der Tuchvilla die letzte Chance. In der Hierarchie der Dienstboten nimmt sie die unterste Stufe ein und wird dementsprechend behandelt.

Doch die jüngste Tochter des Hauses Katharina hat einen Narren an der gleichaltrigen Marie gefressen und bietet ihr die Freundschaft an, die Marie verwundert, aber dankbar annimmt. In relativ kurzer Zeit steigt sie zur Kammerzofe auf.

Noch eine weitere Person des Melzerschen Haushaltes schenkt ihr Zuneigung: Paul. Und obwohl Marie die Gefühle erwidert, weiß sie dennoch, dass sie als Paar keine Zukunft haben. Denn wenn eine Bedienstete sich in den jungen Herrn verliebt, kann daraus nur Unglück erwachsen.

Bald stellt sich heraus, dass Maries Herkunft nicht so unklar und rätselhaft ist, wie man es ihr im Waisenhaus darstellte. Darüber hinaus scheint ihr neuer Arbeitgeber, Johann Melzer, mehr darüber zu wissen, als er preiszugeben bereit ist. Deshalb lässt sich Marie auch von ihm nicht abbringen, Nachforschungen anzustellen, um das Geheimnis zu lüften, während in der Zwischenzeit Katharina mit einem Franzosen davonläuft...

In ihrem Roman "Die Tuchvilla" erzählt Anne Jakobs eine Familien- und Liebesgeschichte, ohne konkret Bezug auf die historischen Gesichtspunkte der Vorkriegsjahre zu nehmen. Im Grunde stellt sie ein Stück heile Welt dar, in der sich das Leben einer Familie gestaltet, die es zu Ansehen und Vermögen gebracht hat. Denn tatsächlich ist es vermutlich für Familie Melzer nicht von großer Bedeutung, was außerhalb ihres Kosmos' geschieht. Leider führt die geringe oder fehlende Einbeziehung geschichtlicher Gegebenheiten dazu, dass die Handlung zeitlich austauschbar ist. Sie hätte so zu jeder anderen Epoche an jedem anderen Ort spielen können.

Ansätze sind durchaus vorhanden. Beispielsweise erhält der Leser eine Beschreibung des Arbeitsgeschehens in der Fabrik, in dem Funktionsweise von Maschinen usw. dargestellt werden. Und Unfälle und Arbeitskampf werden ebenfalls thematisiert. Hingegen wird das hierin liegende Konfliktpotenzial bedauerlicherweise nicht ausgeschöpft. Letzten Endes löst sich alles in Wohlgefallen auf.

Der Schreibstil der Autorin stellt keine große Anforderungen. Er ist einfach und solide. Einigen sehr ausführlichen Schilderungen hätte eine Straffung gut getan. Außerdem ist das Geheimnis um Maries Herkunft recht früh zu erkennen, so dass der Leser der Lösung nicht wirklich entgegenfiebert. Insgesamt fehlt es an aufregenden Momenten, die wahrlich berühren und Herzklopfen bescheren.

In der Figurenzeichnung gibt es gute Ansätze, allerdings auch Klischees.

Marie ist ein Mensch, den der Leser sofort ins Herz schließen kann. Weil sie trotz des Übels, das ihr widerfahren ist, immer Haltung bewahrt, nicht herumjammert, sich nicht einschüchtern lässt und klein beigibt. Sie beobachtet ihre Umgebung und die Menschen intensiv und versucht, eine Wertung vorzunehmen. Sie lässt sich als Mensch nicht erniedrigen, schafft es, ihre Würde zu bewahren und sei es nur im Kampf um die Beibehaltung ihres Vornamens.

Zudem beweist sie außerordentliches Talent beim Zeichnen und ist äußerst geschickt mit der Nadel, was alle Damen der Tuchvilla für sich zu nutzen wissen.

Doch bei allen positiven Eigenschaften hätte es zu Marie mit den wunderschönen Augen, in denen ihre Seele liegt und so viel Trauer und Sehnsucht, so viel Hunger nach Glück, so viel Müdigkeit und so viel Kraft gepasst, auch die eine Ecke oder Kante zu bekommen, um sie von der armen, standhaften und untadeligen Waise zu einer interessanten Figur zu formen, so dass sie eben nicht fehlerlos gewesen wäre.

Bei Paul Melzer ist eine Entwicklung zu erkennen. Zunächst kann er es seinem Vater nicht recht machen. Wiederum bewahrheitet sich im Verlauf der Handlung, dass Paul durchaus Fähigkeiten besitzt, die ihm sein Vater bislang überhaupt nicht zugetraut hat.

Daneben wirken die Schwestern Melzer sehr stereotyp: Elisabeth, unscheinbar und pummelig ist zwar äußerst intelligent, gleichwohl aber intrigant, neidisch und gehässig. Ständig fühlt sie sich im Vergleich zur jüngeren, hübschen, weltfremden Katharina abgewertet. Der durchschimmernden Unsicherheit mehr Raum zu geben, wäre eine Abwechslung gewesen. Oder möglicherweise die Einbeziehung der Tatsache, dass sich gerade in dieser Zeit das Frauenbild verändert. So bleibt es dabei, dass Elisabeth der Euphorie und verklärten Schwärmerei ihrer Schwester nichts entgegenzusetzen hat. Selbst dann nicht, als Katharina diejenige ist, die sorglos und ohne Rücksicht auf andere Menschen handelt, kann sie nicht punkten.

Insgesamt unterhält der Roman, ohne große Anforderungen zu stellen, und wartet zu guter Letzt mit einem zuckrigen Happy End auf. Es bleibt zu wünschen, dass die Autorin diesen Pfad im zu erwartenden Folgeband verlässt und Dramatik in die Geschichte bringt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Grauwacht

Grauwacht
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Was würdest du tun, wenn du an einem Punkt angelangt bist, an dem du entscheiden musst, ob du Macht ausspielst oder zurücknimmst, um eine Entwicklung zuzulassen, die viel mühsamer, aber gleichwohl lehrreicher ...

Was würdest du tun, wenn du an einem Punkt angelangt bist, an dem du entscheiden musst, ob du Macht ausspielst oder zurücknimmst, um eine Entwicklung zuzulassen, die viel mühsamer, aber gleichwohl lehrreicher und lebensechter ist?

So faszinierend die Welt von Bisola auch sein mag, sie ist eine extremer Gegensätze. Tag und Nacht. Doch löse dich von deinen Vorstellungen des üblichen Zeitmaßes. Sechzig Doppelmonde dauert die Nacht, der im gleichen Rhythmus der Tag folgt. Während der Tag trocken ist und unter der Sonne brennt, dass selbst die Meere kochen, weist die Nacht eisige, klirrende Kälte auf.

Die Nacht ist Heimat der Menschen, und nur in dicke Pelze gehüllt sind sie in der Lage, sich ins Freie zu begeben. Wenn sie Glück haben, bewohnen sie Hütten in Refugios und leisten ihren Beitrag zum Fortbestand einer Communidad, oder sie leben unter einem Schutzschild in Häusern in Metropolen, können dort eventuell als Sabos in einem Astrovatorio Monde und Sterne beobachten oder in einer Bilteca Bücher lesen. Überall müssen sie sich allerdings festen Regeln unterwerfen. Als umherziehende Nomaden sind Menschen oft auf eine Unterkunft in natürlichen Höhlen angewiesen. Insgesamt ist es ein harter Alltag, der immer wieder vom Kampf ums Überleben bestimmt wird.

Der Tag ist den Sasseks vorbehalten. Amphibien, die mit ihrer äußeren schuppigen Hülle der Hitze trotzen. Sie sind empfindsame und fähige Wesen, die ihr Geschlecht mehrfach wechseln und nur im hohen Alter geschlechtslos leben.

Sobald der Tag naht, ist es für die Menschen Zeit, ihr jeweiliges Zuhause aufzugeben und mit der Nacht weiter zu ziehen. So will es der Pakt, der einst zwischen Menschen und Sasseks geschlossen wurde und ein friedliches Leben beider Völker ermöglicht. Damit dies so bleibt, gibt es die Grauwacht und ihre Krieger mit überragenden Fähigkeiten, die, wenn sie mit Nabo ausgestattet sind, äußerst langlebig mit verstärkten Sinnen, Kräften und Geschick handeln können. Dafür müssen sie andererseits auf eine eigene Familie und damit persönliche Bindungen verzichten, um neutral ihre Aufgabe, die Überwachung des Paktes, umzusetzen.

Bislang ist das stets gelungen. Plötzlich jedoch verändern sich in der Welt von Bisola nicht nur die zwei Monde Dya und Mezza, als sich ein grünes Band auf ihre gelbe Wölbung legt, das weiter wandert und zunehmend blaues Licht hinter sich herzieht. Sondern hinzu kommt, dass der Tag nicht weicht und ein ungewöhnliches blaues Licht erscheint. Überall zeigt sich das Blau, es ist ausgerechnet die Farbe, die unter den Sasseks als verflucht gilt und die Amphibien deshalb in große Unruhe versetzt. Und nicht nur sie. Die bekannte Ordnung droht, umgestoßen zu werden, und das verunsichert Angehörige beider Völker.

Was steht Bisola noch bevor, wenn schon die Monde ihr Angesicht wechseln? Und geschieht dies alles zum ersten Mal? Oder gibt es eine Gefahr, die sowohl Menschen als auch Sasseks vergessen haben, die aber für beide bedrohlich ist?

"Grauwacht" von Robert Corvus besticht durch seinen intelligenten Plot, den der Autor mit einem gradlinigen, klaren Schreibstil hervorragend in Szene setzt. Er baut eine fantastische Welt auf, die er erfreulicherweise neben den Menschen nicht mit Wesen wie Elben, Trollen, Zwergen usw. besiedelt ist, sondern mit einer reizvollen Spezies wie den Sasseks.

Hast du zunächst das Gefühl, auf Bisola mittelalterliche Strukturen zu finden, zeigen sich im Verlauf der Handlung Elemente, die eher dem Gebiet der Science Fiction zuzuordnen sind. Diese Mischung bildet einen originellen Reiz, der dadurch, dass du dich mit Menschen und Sasseks einem zu lösenden Rätsel gegenüber siehst, noch erhöht wird. Während das Geschehen, das in vier Teile aufgeteilt und durch Interludien ergänzt wird, anfänglich in ruhigen Bahnen zu verlaufen scheint, beschleunigt der Autor nach und nach das Tempo, wirft Hinweise ein und fesselt dich mehr und mehr bis zum Höhepunkt und der Lösung des Rätsels. Bis dahin wird nicht nur die Nacht ein Grund sein, dass es dich das eine oder andere Mal fröstelt oder sogar gruselt...

Einen bemerkenswerten Beitrag leisten die hervorragend ausgearbeiteten Charaktere. Sie agieren zum Teil unabhängig voneinander und arbeiten mit dir zusammen an der Aufklärung der geheimnisvollen Vorgänge.

Zunächst lernst du Remon kennen. Er ist ein abtrünniger Guardista der Grauwacht. Denn entgegen den Geboten der Grauwacht, nicht mit einem normalen Menschen zusammen zu sein, hat er eine Familie gegründet und auf diese Weise seinen Eid gebrochen. Als Kind wurde Remon von Sasseks aufgezogen, so dass er wie ein Sassek denken kann. Er ist ein einzigartiger Mensch, der seine Frau Nata und seine Tochter Enna liebt und versucht, sich nie in den Vordergrund zu drängen. Als er entdeckt wird, bedeutet es das Ende des Glücks und möglicherweise sogar den Tod. Trotzdem strebt Remon ständig danach, die auffallenden merkwürdigen Veränderungen Bisolas zu ergründen, wobei sich die Zugehörigkeit zur Grauwacht als Vorteil erweist.

Wenn dir Nata begegnet, wirst du Remons Liebe verstehen. Nata ist nicht nur warmherzig und fürsorglich, sondern darüber hinaus selbstbewusst, klug und mutig. Sie gehört nicht zu den Menschen, die Gegebenheiten akzeptieren, ohne sie zu hinterfragen. Denn es ist vorstellbar, dass Dinge ergründet und neu gestaltet werden können. Sie macht sich Gedanken und Sorgen um die Zukunft, gibt nicht so schnell auf und handelt zielstrebig auf der Suche nach Wissen. Dabei werden ihr indes Steine in den Weg gelegt. Sabos, die Gelehrten der Menschen, erwecken den Eindruck, dass sie nicht erkennen - oder sie vermögen und wollen es nicht -, dass Ungemach für beide Völker droht und Nichthandeln oder eine falsche Reaktion dies nicht verhindern kann.

Auch auf Seiten der Sasseks gibt es außergewöhnliche Figuren. Ssarronn wird dir gefallen. Er befindet sich in der späten männlichen Phase, ist intelligent und wissbegierig, die Menschen interessieren ihn besonders. Bei der Begegnung mit Nata spürt er sofort eine geistige Verwandtschaft.

Seiner ruhigen Wesensart steht Kress gegenüber. Die weibliche impulsive, ja zeitweise aggressive Sassek wird dich vermutlich oft verzweifeln lassen. Lass dich überraschen, ob ihr glühender Hass gegen alles, was blau ist, sie ins Verderben stößt oder ob Hoffnung besteht.

Die Geschichte ist in ihrer Entwicklung und mit den detailliert gestalteten Protagonisten uneingeschränkt bis zum Ende überzeugend, spannungsreich und mit Tiefgang versehen. Zudem enthält sie durchaus Botschaften, die zur eigenen Reflexion anregen. Sie wird dir ein unterhaltsames, niveauvolles Lese- und Ratevergnügen bescheren und (hoffentlich) letztendlich begeistern.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Meeresbuch

Zeit der wilden Orchideen
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"Stramm und wie frisch gewaschen spannte sich der Himmel über die Insel; nur in der Ferne waren ein paar weiße Wolken zu sehen, schaumig wie aufgeschlagene Sahne."

Meeresbuch nennt Nicole C. Vosseler ...

"Stramm und wie frisch gewaschen spannte sich der Himmel über die Insel; nur in der Ferne waren ein paar weiße Wolken zu sehen, schaumig wie aufgeschlagene Sahne."

Meeresbuch nennt Nicole C. Vosseler ihren Roman "Zeit der wilden Orchideen" und führt den Leser in das Singapur des 19. Jahrhunderts. Vor der Kulisse des Südchinesischen Meeres am Rande des Pazifischen Ozeans erzählt die Autorin eine Geschichte von Liebe und Verlust...

1819 gründet Sir Thomas Stamford Raffles, seines Zeichens Handelsagent der Britischen Ostindien-Kompanie in Singapur die erste britische Niederlassung und weckt damit das sumpfige Dschungelland aus dem Dornröschenschlaf, in dem es jahrzehntelang gelegen hat. Denn zuvor lebten auf der Insel lediglich zwanzig malaiischen Fischerfamilien und ab und an ein paar Seeräuber. Bis 1824 vereinnahmt die Kompanie die gesamte Insel, nachdem sie dem Sultan von Johor abgekauft hat. Singapur dient als Handelsstützpunkt und entwickelt sich zu einem wichtigen Warenumschlagplatz. Da es zunächst kein kultiviertes Hinterland gibt, das Produkte und Lebensmittel liefern kann und zudem der Boden, die Topografie und Verteilung des Regenfalls für den Reisanbau ungünstig sind, eine Siedlung also andere Feldfrüchte anbauen oder das Meer als Nahrungsquelle nutzen müsste, wird die schwierige Ausgangssituation der Insel entschärft, indem viele Lebensmittel importiert werden. Sir Raffles führt stadtplanerische Maßnahmen durch, um einen optimalen Erfolg der Siedlung zu gewährleisten. Und 1867 wird Singapur zur britischen Kronkolonie. Bald wächst die Bedeutung von Singapur als Umschlaghafen wegen seiner geographischen Lage entlang der verkehrsträchtigen Schifffahrtswege zwischen China und Europa, nachdem 1869 der Suezkanal gebaut wird, der schnellere Überfahrten nach Europa ermöglicht. Dadurch steigen das Handelsvolumen und die Zahl der Einwohner beständig an.

Hier lebt Georgina mit ihrem Vater in einem Haus direkt am Meer. Das kleine Mädchen ist seit dem Tod der Mutter sich selbst überlassen, der Vater, ein Kaufmann, verhält sich ihr gegenüber aus unerklärlichen Gründen gleichgültig. Georgina ist sensibel und hat sich eine eigene Traumwelt geschaffen, die anderen verschlossen bleibt. Erst in dem Jungen Raharjo, einem Angehörigen der Orang Laut, der verletzt Zuflucht in ihrem Pavillon sucht, findet das kleine Mädchen einen Menschen, der sie zu verstehen scheint. An seiner Seite wird sie zu Nilam und Jahre später zur Frau...

Allerdings ist Raharjo ein Meeresmensch und wird vom Meer angezogen. Immer wieder hört er den Ruf und lässt Georgina für Wochen und Monate allein. Als sie feststellt, dass sie ein Kind erwartet, fühlt sie sich völlig hilflos. So nimmt sie das Angebot von Paul, einem Angestellten ihres Vaters, an und heiratet ihn. Am Tag der Hochzeit kehrt Raharjo zurück. Als er erkennt, dass er Nilam verloren hat, schwört er Rache...

Nicole C. Vosseler erzählt eine bewegende Geschichte vor exotischer Kulisse, die mit exakt recherchiertem Hintergrund aufwartet. Die Autorin versteht ihr Handwerk und fügt gekonnt den historischen Kontext ein, ohne den Leser zu strapazieren.

Überdies zeigt die Autorin, was sie aus der wunderbaren Sprache Deutsch komponieren kann. Denn oft liest sich der Text wie Musik.

"Eine Ahnung von Wasser lag in der Luft, wusch sie klar, füllte sie mit einem Wellenklang, der nicht zu hören, nur zu spüren war, ein Flüstern auf der Haut."

Ihre Schreibkunst ist von einer Üppigkeit und Sinnlichkeit, die insbesondere hinsichtlich der poetischen und Naturbeschreibungen hervorzuheben ist. Diese sind in ihrer bemerkenswerten Art und Weise geeignet, atmosphärische Stimmungen wiederzugeben und ein berauschendes Bild einer fremden Welt zu zeichnen.

"Die ersten Wolkenbänke fingen Feuer, und unter der Glut, die von ihren Säumen hinabtroff, färbte sich das Meer rot... Die über Nacht frisch gewaschenen Wolken... waren inzwischen verrußt. Schwerfällig drückten sie sich gegen die Insel, und der vorhin noch lichtblaue Himmel schwitzte milchiggrau."

"Wolkenschlieren maserten einen Himmel aus duftiger puderblauer Seide. Behäbig schmiegten sich ihre üppigen Schwestern an die Hügel, die sich wie weiche Moospolster an der Küste ausbreiteten."

"Das Indigo der Nacht blutete zu einem fahlen Blau aus, verlor weiter an Kraft und wich schließlich dem zarten Gold, das das Aufgehen der Sonne verkündet."

Der bildschönen Lyrik der Geschichte ist das Cover ausgezeichnet angepasst.

Doch der Autorin gelingt es daneben auch, die Schattenseiten im Paradies aufzuzeigen.

Die wachsende Wirtschaft in der Inselstadt benötigt Arbeitskräfte, zumeist sind es männliche Junggesellen, die einreisen, wodurch sich ein Ungleichgewicht von Männern und Frauen entwickelt. Wegen des geringen Frauenanteils in Singapur entstehen viele Bordelle. Prostitution ist ein florierendes Geschäft mit einem verzweigten Netzwerk nach China und Japan. Besonders bei den Chinesinnen handelt es sich in der Regel um gekaufte Frauen, die ohne Familie oder Freunde in Zeiten der Not ohne Hilfe ihr Dasein fristen müssen und kaum Geld für ihre oft erzwungenen Dienste erhalten.

Durch die facettenreiche Darstellung der historischen Örtlichkeiten und Gegebenheiten bekommt das Geschehen eine Tiefe, die sich ebenfalls in der Ausarbeitung der Protagonisten widerspiegelt. Denn die Autorin hat Figuren mit außergewöhnlicher Präsens geschaffen. Sie sind voller Leben und empfinden neben Liebe, Zuneigung und Glück, Begehren, Mitleid, Bedauern auch Schmerz, Hass, Stolz, Rache, Wut, Schuld, Reue, Trauer... Ihre Gestaltung ist im höchsten Maße überzeugend.

Im Mittelpunkt steht vor allem Georgina. Sie ist wie ein Diamant, hart und unbeugsam und so scharfkantig, dass man sich daran bis auf die Knochen hinunter blutig ritzen kann. Frauen wie sie sind selten, und sie sind kostbar. Man ist ein reicher Mann, wenn man das Glück einer solchen Frau erleben darf. Da lohnt es sich, Geduld zu haben. Zu kämpfen. Und doch ist dies nicht leicht, wie Paul erfahren muss. Denn irgendetwas im Wesen von Georgina trübt ihre Sicht auf das Naheliegende, Greifbare. Oftmals ist sie blind für die Wirklichkeit, lebt in einer Traumwelt, wie sie sie als Kind gesehen hat.

Paul dagegen ist ein stiller Held. Einer, der zur Stelle ist, als er gebraucht wird und die Chance ergreift, die Frau, die er begehrt, zu heiraten. Einer, der nicht frei von Fehlern durchaus auch die eine oder andere falsche Entscheidungen trifft. Einer, der sich in seiner weitherzigen Art aufrichtig, beständig und beharrlich um die Liebe von Georgina bemüht.

Im Gegensatz dazu ist Raharjo zwiegespalten. Bereits bei der ersten Begegnung knüpfen er und Nilam ein inneres Band, das lange, vielleicht sogar das ganze Leben halten wird. Ein Band, das nicht immer von Liebe geprägt ist. Denn obwohl die beiden sich behutsam einander nähern, ihre Gefühle füreinander vertiefen und dann sehr vertraut miteinander umgehen und ihre Wesen zu ergründen versuchen, ändert sich alles, als Raharjo Nilam verloren glaubt. Es kommt für eine lange Zeit Raharjos dunkle Seite zum Vorschein, die hart und ungerecht ist und hassen und verletzen und positive Gefühle nicht mehr zulassen will. Diese Wandlung ist nachvollziehbar geschildert.

Mit beeindruckender Sicherheit ist der Autorin außerdem die Charakterisierung sämtlicher Nebenfiguren gelungen. Sie alle beleben den Roman in einer Weise, die die Geschichte zu einem einzigartigen Leseerlebnis macht.

Veröffentlicht am 15.09.2016

DER LETZTE ENGEL und der Ruf aus dem Eis

Der letzte Engel - Der Ruf aus dem Eis
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"In einer Zeit lange vor unserer Zeit gab es eine Epoche und sie wurde die Epoche der Engel genannt. Es waren die Engel, die der Menschheit ihr Wissen einhauchten, es waren die Engel, die dem Leben der ...

"In einer Zeit lange vor unserer Zeit gab es eine Epoche und sie wurde die Epoche der Engel genannt. Es waren die Engel, die der Menschheit ihr Wissen einhauchten, es waren die Engel, die dem Leben der Menschen einen Sinn gaben. Sie lebten über die Welt verteilt und säten Gerechtigkeit und lehrten Frieden. Sie brachten Licht in die Dunkelheit und ließen die erste Zivilisation erblühen... Es gab keine Plagen, keinen Hunger, keine Kriege. Die Engel hielten die Welt im Gleichgewicht und herrschten, ohne jemals die Hand zu erheben. Und die Menschheit achtete dieses Geschenk und verlangte nicht nach mehr." (Seite 33)

Kannst du dir das vorstellen? Da bist du DER LETZTE ENGEL auf Erden, und dann kommt einer daher und schneidet dir die Flügel ab, buddelt dich ein und lässt dich da einfach liegen. Klar, dass du mächtig sauer bist, auch später noch, nachdem deine Freunde dich ausgegraben haben. Wie stehst du denn jetzt da? Ein ENGEL hat doch Flügel.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Du gewöhnst dich daran, dass du ein ENGEL ohne Flügel bist, nachdem du schon einigermaßen verdaut hast, überhaupt einer zu sein. Oder du holst dir (verdammt noch mal) die Flügel zurück. Denn schließlich bist du MOTTE, ein Krieger im Herzen.

Was sich leicht anhört, ist es nicht. Denn wohin willst du gehen, nachdem du erfahren hast, dass dein bisherigen Leben eine einzige große Lüge war, du kein Zuhause mehr hast und für die Welt tot bist? Und einige etwas dagegen haben, dass du überhaupt existierst.

Und so musst du, als wäre die auf deinen Schultern lastende Tatsache, DER LETZTE ENGEL zu sein, nicht schon genug, dich nicht nur auf die Hilfe deiner Freunde verlassen können, sondern auch Allianzen mit Personen eingehen, die dir bislang nicht unbedingt wohl gesonnen waren. Und gleichzeitig musst du nebenbei verhindern, dass eine Prophezeiung sich erfüllt, nach der bei deinem Tod die Welt untergeht. Denn ein Leben ohne ENGEL ist eines ohne Gleichgewicht und ohne Frieden. Also kein Leben mehr...

In der Fortsetzung DER LETZTE ENGEL - DER RUF AUS DEM EIS begegnen dem Leser neben alten Bekannten einige neue Protagonisten, wobei nun MOTTE, DER LETZTE ENGEL, mehr in den Fokus gerückt ist. Mit ihm gerät der Leser in den abenteuerlichen Strudel der Ereignisse, die ihn bis ins tiefste sibirische Eis führen, wo die Fäden zusammenlaufen und das Bild zu einem Ganzen gewebt wird.

Ihm zur Seite stehen mehr oder weniger ESKO, der ENGEL aus der Vergangenheit, das Mädchen MONA, Mottes große Liebe Rike und sein bester Freund Lars. Die Szenen mit Letzterem gehören zu den kleinen Sternstunden der Geschichte, weil Lars mit seiner flippigen Art einmal zum Knutschen ist oder aber den einen oder anderen Tritt verträgt. Er ist die gute Seele, bei der es immer dazu kommt, dass sie ganz dringend Blödsinn anstellen muss. Einer, der denkt, dass ein wenig ENGELsblut ausreicht, damit Flügel wachsen. Jedoch ebenso einer, der keinen "Schiss" (Angst) hat, auch wenn alle "Schiss" haben. Lars eben.

Natürlich sind auch LAZAR und die Gräfinnen mit von der Partie. Und die Hintergründe der Bruderschaft und der Familie bekommen mehr Kontur. Wobei sich wiederum in der Fortsetzung der Geschichte erneut keine eindeutige böse oder gute Seite herauskristallisiert. Da hat Zoran Drvenkar ein paar Überraschungen auf Lager, und es bleibt dem Leser überlassen, sich seine Meinung zu den Handelnden zu machen, die wie jeder Mensch ihre Vorzüge und Schwächen haben und vom Autor gleichwohl lebensecht und glaubwürdig gestaltet wurden.

Insgesamt bleibt der Autor seinem Erzählstil und -tempo treu, steigert dieses sogar das eine oder andere Mal, so dass der Leser gefesselt ist und die Verknüpfung der Fäden nicht erwarten kann. Der Wechsel von Gegenwart und Vergangenheit und der Position des Betrachters lässt keine Langeweile aufkommen, verlangt allerdings auch die Aufmerksamkeit des Lesers in hohem Maße, indes er des Öfteren sogar direkt angesprochen wird und sich in die Geschichte integriert fühlt.

Historischen Ereignisse und Personen fügen sich hervorragend recherchiert ein und tragen zum Lesegenuss bei. Ob die endgültige Bestätigung, dass es sich beim Zaren um Alexander I. handelt, bei dem sich der Autor geschickt die Legende zu Eigen macht, der Zar habe, nachdem er des Regierens von Russland überdrüssig war, seinen eigenen Tod vorgetäuscht. Oder die Einbindung von weiteren historischen Persönlichkeiten wie Nikolai Petrowitsch Rumjanzew und Otto von Kotzebue sowie die Rurik-Expedition von 1815. Drvenkar beweist geschickt sein Können bei der Einarbeitung real existierender Gegebenheiten in eine fantastische Geschichte, die den Leser unterhält, ohne belehrend zu ein, wenngleich sie durchaus zum Nachdenken über moralische Grundsätze anregt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Der letzte Engel

Der letzte Engel
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"Das Leben ist manchmal voller Zufälle, das Leben ist manchmal voller Absichten." (Seite 371)

Kannst du dir das vorstellen? Du denkst an nichts Böses, und dann bekommst du eine E-Mail, in der steht, dass ...

"Das Leben ist manchmal voller Zufälle, das Leben ist manchmal voller Absichten." (Seite 371)

Kannst du dir das vorstellen? Du denkst an nichts Böses, und dann bekommst du eine E-Mail, in der steht, dass du am nächsten Tag tot bist. Du glaubst, einer erlaubt sich einen Scherz mit dir und lachst, als du dich am nächsten Morgen noch lebendig fühlst. Und doch musst du begreifen, oder zumindest es versuchen, dass MOTTE, der du bisher warst, tatsächlich tot im Bett liegt und nicht mehr atmet. Und dass dir auf deinem Rücken Flügel wachsen.

Da vergeht dir echt das Lachen, und Verwirrung macht sich in dir breit. Denn deine Zukunft sieht nicht rosig aus: Du wirfst keinen Schatten, dein Herz schlägt nicht, und am nächsten Pinkelwettbewerb darfst du nicht teilnehmen, weil dir das Werkzeug fehlt. Da ist es ein schwacher Trost, dass dich dein bester Freund Lars sehen kann. Denn dein Vater kann es nicht.

Jetzt bist du DER LETZTE ENGEL.

Und es ist der Anfang von etwas Neuem.
Oder das Ende?
Oder das Mittendrin?
Jedenfalls ist es ein Hin und Her.
Eine Irrfahrt. Für dich. Für den Leser.
Zwischen die Zeiten.
Zwischen die Welten.
Zwischen die Interessen.

In ein Haus nach Irland, in dem acht Mädchen und ihre Gouvernanten gemeuchelt werden. Es gibt nur eine einzige Überlebende: MONA, die Erinnerungen der Person abrufen kann, die sie berührt. Und sich einen weiteren ENGEL damit an Land zieht: ESKO. Das ist der, der später die E-Mail schreibt. Aber das nur am Rande. Verantwortlich für das Massaker zeichnet LAZAR, ein Söldner, der aussieht wie Christopher Walken, ein schwer bis gar nicht zu durchschauender Typ.

Der Leser lernt viele weitere Protagonisten kennen, unter anderem zwei Gräfinnen, die Brüder Grimm und den Zaren in Sankt Petersburg. In einem Moment ist es 1815, dann wieder heute, und erneut wandert der Leser in die Vergangenheit. Fliegende Wechsel allenthalben. Daneben abstruse Experimente, viele sterbende Jungen, die meisten davon tun dies nicht freiwillig, eine Bruderschaft, die (sogenannte) Familie, über deren Zweck und Ziele der Leser wenig Klarheit erhält. Gleichzeitig lässt sich die Frage nach Gut oder Böse nicht beantworten. Eine ständige Ungewissheit liegt über dem Geschehen.

Die vielen unerwarteten Zeitsprünge und Positionswechsel und die Informationsdichte verlangen hohe Aufmerksamkeit vom Leser. Gekonnt werden nicht nur Zeitepochen und Schauplätze und Zeitformen, sondern auch das biblische ENGELsmotiv mit fantastischen Fäden verwoben. Denn Zoran Drvenkar greift die Thematik der Existenz von ENGELN auf eine besondere Weise auf. Seine ENGEL sind männlich, gleichwohl (im wahrsten Sinne des Wortes) geschlechtslos.

So erscheint die Geschichte des letzten ENGELS zwar äußerst komplex und unübersichtlich. Trotzdem reizen die zügigen Wechsel den Leser zum Weiterlesen, bannen ihn ans Buch und lassen ihn hoffen, einen angefangenen Faden verfolgen zu können. Allerdings hält er oft ein loses Ende in der Hand, so dass sich der Sinn (noch) nicht begreifen lässt.

Dadurch bleibt die Charakterisierung der Figuren manchmal etwas auf der Strecke, der Leser entwickelt zum Teil nur andeutungsweise Sympathie und Ablehnung.

Mit MOTTE trifft der Leser auf einen Jungen einnehmenden Wesens, mit dem er sich identifizieren kann, weil er vielleicht ein wenig träge, aber trotzdem mit seiner Zuversicht versehen ist, dass er alles packen wird, was auf ihn zukommt. Ihm zur Seite steht Lars, sein bester Freund, nicht der Mutigste, der erst wegrennt, den aber danach sein Ego schüttelt und fragt, ob er denn vollkommen ohne Ehre und Würde wäre. Das ist er natürlich nicht. Und auch Rike muss erwähnt werden, das Mädchen, bei dem Motte von Liebe spricht, und die es wert ist.

Äußerst geschickt positioniert der Autor historische Personen in der Geschichte und haucht diesen gleich den fiktiven Figuren Leben ein, spielt mit dem ihm dadurch gegebenen Möglichkeiten.

Zoran Drvenkars Erzähltempo ist durchaus rasant und anspruchsvoll, dürfte den jugendlichen Leser jedoch nicht überfordern. Wer sich darauf einlässt, den erwartet ein mitreißendes Abenteuer, dessen offenes Ende und ungelösten Fragen zugegebenermaßen einerseits nicht befriedigt, andererseits jedoch zum Lesen der Fortsetzung verlockt.

"Sucht den Schlüssel, der das Tor zu den Engeln öffnet. Und suchen müsst ihr, denn der Schlüssel ist verborgen im Kern des Lebens, verborgen tief in den Gebeinen. Denn wie das Wasser die Erde erweckt, werden es vier Engel sein, die uns erwecken." (Seite 212)