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Veröffentlicht am 07.09.2017

Die Faszination des Bösen

Targa - Der Moment, bevor du stirbst
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Barbara und Christian Schiller versprechen mit Targa, eine neue Reihe um eine etwas andere Ermittlerin aufzubauen – und in meinen Augen ist das tatsächlich gelungen. Ich liebe Bücher, die sich mit dem ...

Barbara und Christian Schiller versprechen mit Targa, eine neue Reihe um eine etwas andere Ermittlerin aufzubauen – und in meinen Augen ist das tatsächlich gelungen. Ich liebe Bücher, die sich mit dem Abgründigen und Abseitigen der menschlichen Psyche beschäftigen, so dass die Prämisse dieses neuen Thrillers mich sofort angesprochen hat.



> Stimmige Charaktere mit spannender Dynamik

Sowohl Falk Sandmann als auch die titelgebende Targa Hendricks werden schnell eingeführt und es ist von Beginn an klar, dass beide besondere Menschen sind. Bei Targa ist es offensichtlicher, sie hat Zwangsstörungen und gibt unumwunden zu, dass sie wenig Emotionen verspürt, insbesondere Liebe ist ihr fremd. In vielen Büchern sind es männliche Charaktere, die diesen speziellen psychischen Defekt erhalten, hier aber haben sich die Autoren eine Frau ausgesucht und es funktioniert wunderbar. Besonders gefällt mir, wie mühelos die Autoren ihre Emotionslosigkeit darstellen, während man gleichzeitig aus dem Subtext heraus liest, dass Targa sehr wohl Gefühle hat und menschlich reagiert. Das macht sie nur noch interessanter, da man ahnt, dass sie früher oder später einen Zusammenbruch erleiden wird. Als Hauptfigur war sie mir von Beginn an sympathisch, auch wenn sie nicht zur Identifikation taugt. Sie ist cool, ohne übermenschlich gut in ihrem Job zu sein. Ich bin mir sicher, dass auch weitere Romane über sie Anklang finden werden.

Auf der anderen Seite steht Sandmann, ein gutaussehender und charismatischer Mann, der genau weiß, wie man Frauen verführt und hörig macht. Seine Faszination mit jenem Moment, in dem ein Mensch stirbt, ist genau jene Art von psychischem Abgrund, die ich bei Serienmördern in Thrillern liebe. Er lebt seine Bösartigkeit aus, ohne sich zu verstellen. Der Tod durch Ersticken ist extrem grausam, gleichzeitig ist Strangulation ein recht klassischen Element von Fetisch-Sex, das zumindest mir schon öfter über den Weg gelaufen ist. Das Gefühl, dem Tod nahe zu kommen, kann in sonst eher apathischen Menschen ungekannte Lebendigkeit auslösen – weswegen sich Targa augenblicklich von ihm angezogen fühlt. Die Dynamik stimmt. Er lässt sie fühlen. Er sieht in ihr eine verwandte Seele. Sie ist interessant, das wichtigste Merkmal an Frauen, wenn es nach Sandmann geht. Ich war beim Lesen begeistert, nicht nur zwei stimmige Charaktere zu haben, sondern auch eine passende Dynamik in ihrer Beziehung vorzufinden.



> Handwerkliche Schwierigkeiten im Schreibstil

Der Plot selbst ist stringent aufgebaut und temporeich erzählt. Ehe man es merkt, sind die 400 Seiten auch schon wieder vorbei. Einige Szenen mit Figuren, die man nicht einordnen kann, sind trotzdem spannend und am Ende versteht man, was man da über wen gelesen hat. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Sandmann und Targa macht Spaß, auch wenn die Auflösung am Ende vergleichsweise zu actionlastig war und ich nicht in jedem Absatz verstanden habe, was genau gerade geschieht.

Was mich auch zu meinem Kritikpunkt führt: So flüssig der Schreibstil sich auch liest, handwerklich ist hier nicht alles im Reinen. Wir haben verschiedene Charaktere, aus deren Perspektive wir die Geschichte verfolgen. In manchen Szenen ist aber überhaupt nicht klar, wessen Perspektive wir gerade verfolgen, was aber gerade bei diesem Thriller wichtig ist, da die Einschätzung kleiner Details je nach Figur verschieden ist und Spannung erzeugen kann. Oft genug dachte ich, dass ich gerade etwas durch die Augen von Sandmann verfolge, weil die Autoren Formulierungen wie „die Frau“ benutzen, wenn sie über Targa sprechen. So würde aber Targa auch in der dritten Person nicht über sich sprechen. Es sind Kleinigkeiten, die anderen Lesern vielleicht gar nicht auffallen, mich aber doch immer wieder massiv gestört haben. Wenn ich von Absatz zu Absatz verwirrt bin, wessen Perspektive ich gerade verfolge und ob ich nervös sein sollte, dass Sandmann gerade intime Einblicke in Targas Leben erhält, reißt mich das aus dem Fluss heraus. Gleichzeitig macht es besonders die Actionszenen unübersichtlich, weil kein richtiger Fokus herrscht und man zwischen Wasser und Blut verloren geht.



> Ein Cliffhanger, der es spannend macht

Trotz der Schwierigkeiten im Schreibstil gerade zum Ende hin hat mir der Abschluss gefallen. Die Geschichte um Sandmann findet ein Ende, insofern ist der Roman abgeschlossen, doch die Hintergrundgeschichte um Targa geht weiter, in der Hinsicht ist das Ende offen. Ich war davon zunächst ein wenig überrascht, weil ich beim Lesen tatsächlich vergessen hatte, dass es nur der Auftakt zu einer Reihe ist, doch wenn man daran denkt, ergibt dieses Ende sehr viel Sinn und ist ein guter Cliffhanger.

Vor dem Hintergrund hoffe ich auch, dass einige der anderen Figuren, die wir hier kennengelernt haben, auch in den künftigen Bänden wieder auftreten werden. Auch, wenn einige davon nur kurze Auftritte hatten, sind sie doch spannend genug, dass ich mehr von ihnen lesen will. Auch das spricht für die Kunst der Autoren, gute Charaktere zu erschaffen.


FAZIT:

Der Thriller „Targa – Der Moment, bevor du stirbst“ von B. C. Schiller ist ein sehr gelungener Auftakt zu einer Reihe rund um die titelgebende Heldin Targa Hendricks. Sowohl sie als auch der Serienmörder Falk Sandmann, um den es in diesem Band geht, sind spannende Charaktere, die in ihrer Andersartigkeit faszinierend zu beobachten sind. Der Schreibstil lässt sich flüssig lesen, auch wenn handwerkliche Schwächen manchmal zu Unübersichtlichkeit führen. Plastische Darstellungen des Erstickens und die funktionierende Dynamik zwischen Ermittlerin und Mörder machen diesen Thriller trotzdem zu einem großen Lesevergnügen.

Veröffentlicht am 29.08.2017

Heiß und sexy, aber leider zu flach

Eine Prise Liebe
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Bei diesem Buch handelt es sich um den zweiten von bisher drei Romanen rund um das Restaurant Seduction. Dieses Mal stehen Camille, genannt Cami, und Landon im Mittelpunkt. Es ist ein erotischer Liebesroman ...

Bei diesem Buch handelt es sich um den zweiten von bisher drei Romanen rund um das Restaurant Seduction. Dieses Mal stehen Camille, genannt Cami, und Landon im Mittelpunkt. Es ist ein erotischer Liebesroman und eine entsprechende Geschichte darf man erwarten.



Eine starke erste Hälfte

Die Rückkehr von Landon nach seinem unfreiwilligen Ausstieg bei der Navy und die Arbeit von Cami im Seduction sind der Hintergrund für eine sehr heiße Liebesbeziehung. Obwohl beide anfangs unsicher sind, knistert es ziemlich schnell und die Autorin versteht es, heiße und abwechslungsreiche Sexszenen zu schreiben. Die erste Hälfte des Buches hat entsprechend meine Erwartungen voll erfüllt und ich war mehr als glücklich beim Lesen. Da konnte ich durchaus darüber hinwegsehen, dass sowohl Landon als auch Cami offenbar utopisch schöne Menschen sind.

In jedem Roman dieser Art gibt es irgendwann einen Wendepunkt, an dem sich ein Problem auftut, welches die beiden Liebenden erst einmal verdauen müssen. Meistens führt es zu einer kurzfristigen Trennung, die jedoch schnell genug überwunden wird. Auch hier habe ich mit einer Wendung gerechnet, sie kam tatsächlich auch und fiel wesentlich weniger dramatisch aus als befürchtet. Doch das angesprochenen Thema – näheres sage ich nicht, da ich nicht spoilern will – interessiert mich leider überhaupt nicht. Es ist durchaus üblich in Liebesromanen, doch für mich tatsächlich fast schon genug, um ein Buch aus der Hand zu legen. Das ist ein sehr eigenes Geschmacksurteil, entsprechend sollte man sich von meiner Enttäuschung in diesem Punkt nicht abschrecken lassen.



Zu schnelle emotionale Wechsel

Wesentlich stärker fällt für mich ins Gewicht, dass die Autorin sich in der zweiten Hälfte des Buches anscheinend keine Zeit mehr nehmen konnte. Die Wendung kommt plötzlich, wie es sich gehört, doch die beiden liebenswerten, rationalen Charaktere lösen das Problem umstandslos. Generell tauchen entlang des Weges immer wieder kleinere Hindernisse auf, die einfach viel zu schnell gelöst werden.

Beispielsweise stellt Cami zwischendurch fest, dass regelmäßig Geld in der Kasse des Restaurants fehlt. Zwischen Feststellung des Problems, Information an die Kolleginnen und schließlich der harmlosen Aufklärung vergehen ganze zwei Seiten. Die Szene hätte gut weggelassen werden können, ohne dass die Geschichte oder die Länge des Buches gelitten hätten. Uns wird zwar gesagt, dass Cami über das Fehlen des Geldes verwirrt ist und sie es auf ihre merkwürdige Müdigkeit der letzten Tage schiebt, doch da wirklich Geld fehlt, ist es eben doch keine Verwirrung und der ganze Sinn der Szene ist dahin. Problem wird aufgetan und sofort gelöst. Eine Sache, die leider immer und immer wieder auftaucht.

Allzu häufig kommt in Cami oder Landon ein Gefühl hoch, welches jeweils erst als merkwürdig und irrational empfunden wird, dann jedoch erkennen sie die tiefere Bedeutung und zwei Seiten später sind sie mit sich im Reinen und sprechen offen darüber. Das mag zwar insbesondere aus Landon einen einfühlsamen, erwachsenen Charakter machen, doch häufiger bleibe ich als Leserin zurück und frage mich, warum das Problem überhaupt erst erwähnt wurde.



Solide, aber unentwickelte Charaktere

Ein Liebesroman lebt davon, dass seine Heldinnen und Helden interessante Menschen sind und wir uns für ihr Glück interessieren. Cami hat mich relativ schnell von sich überzeugen können, Landon hat länger gebraucht, doch auch ihn habe ich ins Herz geschlossen. Das Problem ist nur: Cami hat offenbar tiefe Verletzungen erfahren, die es ihr unmöglich machen, Landon wirklich zu vertrauen. Dass er fortging nach Portland hat sie nie verarbeitet. Entsprechend emotional reagiert sie manchmal auf Landons Handlungen. Doch obwohl ich als Leser weiß, woher ihre Gefühle kommen, wirken sie doch zu oft zu extrem. Es bleibt flach.

Ebenso findet keine Charakterentwicklung bei den beiden statt. Gewiss, Landon lernt, dass er sich auch in seiner Heimat wohlfühlen kann, selbst wenn er die Navy vermisst, doch das ist nur bedingt eine Charakterentwicklung. Sie gehen als dieselben Menschen aus dieser Liebesgeschichte hinaus, wie sie hereingekommen sind. Das ist schade, denn gerade die Entwicklung ist es, die ich in Liebesromanen – ja, auch in den erotischen – gerne lese. Hier jedoch geschieht wenig.



FAZIT:

Der Liebesroman „Eine Prise Liebe“ von Kristen Proby erzählt die sehr vielversprechende Geschichte von Landon und Cami. Die Sexszenen sind heiß, die Liebe der beiden füreinander plastisch beschrieben. Darüber hinaus enttäuscht mich der Roman leider in mehrfacher Hinsicht, da sowohl die Hauptfiguren flach bleiben und viele Entwicklungen zu schnell geschehen und daher fragwürdig erscheinen. Insbesondere in der zweiten Hälfte hätte die Autorin sich mehr Zeit lassen können. Dennoch ist es ein solider Genre-Roman, der Fans der erotischen Literatur gewiss begeistern kann.

Veröffentlicht am 28.08.2017

Düster, verstörend, aber genau deswegen brillant

... und morgen werde ich dich vermissen
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Für mich war der Roman „… und morgen werde ich dich vermissen“ der erste, richtige Krimi seit langer Zeit. Gerade bei skandinavischen Krimis erwarte ich zudem immer spannende Charaktere und seine sehr ...

Für mich war der Roman „… und morgen werde ich dich vermissen“ der erste, richtige Krimi seit langer Zeit. Gerade bei skandinavischen Krimis erwarte ich zudem immer spannende Charaktere und seine sehr düstere Atmosphäre. Da Heine Bakkeid bisher eher für Jugendbücher bekannt war, habe ich mich gespannt auf die Lektüre eingelassen – und ich wurde belohnt!



Unverstellte Nordmänner

Thorkild Aske ist ein vollständig gebrochener Mann. Als ehemaliger Polizist, der sich auf Verhöre bei internen Ermittlungen spezialisiert hat, weiß er eine Menge über Psychologie, doch natürlich hilft das einem Menschen nie bei eigenen Problemen. Ein Vorfall bei seinem letzten Fall hat ihn nicht nur hinter Gittern gebracht, sondern auch tiefe seelische Wunden hinterlassen. Davon erfahren wir schon zu Beginn sehr viel und über den ganzen Roman hinweg spielen seine Pillen und sein psychologischer Aufpasser eine große Rolle. Seine Schmerzen, seine Halluzinationen und seine gesamte Einstellung dem Leben gegenüber machen Thorkild zu einem spannenden Mann. Das Buch ist aus der Ich-Perspektive von ihm geschrieben, vollständig, auch in den kurzen Rückblenden, die uns mehr Aufschluss darüber geben, was damals geschehen ist. Interessanterweise sind seine inneren Reflexionen durchaus tiefgründig, aber gleichzeitig haben sie bei mir manchmal das Gefühl hinterlassen, es nicht mit einem älteren, erfahrenen Mann, sondern mit einem Jugendlichen zu tun zu haben. Das fiel mir bereits auf, bevor ich von den Jugendbüchern des Autors wusste, doch ich führe das darauf zurück: Er ist ihm noch nicht vollständig gelungen, einen erwachsenen Protagonisten zu kreieren. Glücklicherweise ist es kein ernstzunehmender Störfaktor.

Die übrigen Gestalten sind ebenso grob wie glaubwürdig gezeichnet. Hakkeid verschwendet keine Zeit darauf, Nebencharaktere tiefgründig zu gestalten, dennoch erhalten alle genug Charakter, um ernstgenommen werden zu können. Es gibt deutlich mehr Männer als Frauen in diesem Roman, doch daran habe ich mich nicht gestört. Die Beamten, die wir kennenlernen, ebenso wie die einfachen Bewohner des Küstendorfes sind schlichte Leute, die ihre eigenen, nicht unbedingt weltoffenen Meinungen haben, und obwohl sie Fremden gegenüber nicht allzu offen sind, äußern sie ihre Gedanken bereitwillig und ungefiltert. Das macht sie nicht unbedingt sympathischer, aber genau davon lebt der Roman.



Ein unerklärliches Verschwinden

Eigentlich ist Thorkild in den Norden gefahren, um den verschollenen Rasmus zu finden, doch in der stürmischen Nacht auf der Leuchtturminsel findet er stattdessen eine Frauenleiche. Seine Ermittlungen dazu gehen nur schleppend voran, da diverse hindernde Umstände ihn ablenken. Einerseits ist der Schatten seiner Vergangenheit noch immer groß und düster, andererseits ist die örtliche Polizei auch mehr als feindselig. Als Leser hat man unwillkürlich das Gefühl, dass die Dorfbewohner alle mehr wissen, als sie zugeben, jeder von ihnen wirkt verdächtig. Wirklich vorwärts gehen die Ermittlungen erst auf den letzten hundert Seiten, nachdem Thorkild sich daran erinnert, dass er einst ein ernstzunehmender Ermittler, der unerbittlich und scharfsinnig einer Spur folgen kann, war. Ihn dann jedoch bei der Arbeit zu beobachten, macht sehr, sehr viel Spaß. Nichts anderes zählt mehr, als die Aufklärung des Falls. Warum Rasmus verschwunden ist und wer die Leichte ist, scheint sich niemand erklären zu können, doch Thorkild lässt nicht locker.

Mir gefallen Krimis, in denen man tatsächlich Polizeiarbeit beobachten kann. Seien es Verhöre, seien es pathologische Befunde, als Laie bin ich davon fasziniert. Und auch, wenn dieser Roman als Auftakt einer längeren Reihe vor allem den Ermittler etablieren muss, bekommen wir doch genug von diesen Dingen präsentiert, um mich zu unterhalten und bei der Stange zu halten. Ein klein wenig konstruiert waren manche Erklärungen zu Verhören oder der Pathologie schon, als wollte der Autor beweisen, wie viel er zu dem Thema recherchiert hat, doch da es amüsant verpackt war, kann ich das verzeihen.



Ein wenig Wasser im Wein

Um die Worte meines Professors zu benutzen, muss ich am Ende dennoch ein wenig Wasser in den Wein gießen. Nicht alles in diesem Buch ist gelungen. Ich kann akzeptieren, dass es kein reiner Kriminalroman ist, sondern auch ein Thriller mit Mystery-Elementen. Trotzdem hatte ich erwartet, dass alles eine realistische Erklärung erhalten würde. Was Thorkild manchmal sieht und wahrnimmt, lässt sich bspw. problemlos auf seine Psychopharmaka zurückführen. Doch dann gibt es diese eine Episode, die tatsächlich übernatürlich wird, ohne dass es dafür realweltliche Erklärungen geben kann. Ich vermutete kurzfristig, dass es eventuell konstruiertes Theater ist, doch dem war nicht so. Es war wirklich übernatürlich. So gut das auch geschrieben war, ich war vollkommen aus dem Fluss des Lesens rausgerissen. Es wirkte wie ein Fremdkörper. Ich hoffe sehr, dass in weiteren Romanen der Reihe keine weiteren solcher Episoden stattfinden werden.

Ebenso sind einige Ereignisse zu verwirrend beschrieben. Ich kann verstehen, dass Thorkild verwirrt ist und seine Umwelt zwischenzeitlich nicht mehr korrekt wahrnehmen kann, doch ich als Leserin bin tatsächlich manchmal verloren gegangen und habe gar nicht mehr verstanden, wo wir sind und was passiert. Das hat mich doch sehr frustriert.


FAZIT:

Der Kriminalroman „… und morgen werde ich dich vermissen“ von Heine Bakkeid ist ein düsterer, aber auch unterhaltsamer Trip durch die Abgründe der menschlichen Seele. Während der Ermittler Thorkild Aske mit seiner Vergangenheit beschäftigt ist, löst er Stück für Stück das Rätsel um die Vorfälle auf einer abgelegenen Leuchtturminsel. Auf typische Weise bedrückend und zynisch, ist die Lektüre ebenso interessant wie unterhaltsam. Obwohl es einige unpassende Elemente gab, ist die Figur des Ermittlers doch spannend genug und die Fähigkeit des Autors, Atmosphäre zu schaffen, so gut, dass ich schon jetzt weiß, dass diese Krimi-Reihe erfolgreich sein wird. Wer Skandinavien-Krimis mag, wird hier definitiv glücklich.

Veröffentlicht am 23.08.2017

Mitreißend, tragisch und top aktuell

Das Genie
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"Ich sage dir, das Zeitalter der Muskelschinderei wird enden und ein neues beginnen, das elektrische. Und dann werden die Menschen endlich anfangen, Menschen zu sein anstatt Sklaven ihres Selbsterhalts."

- ...


"Ich sage dir, das Zeitalter der Muskelschinderei wird enden und ein neues beginnen, das elektrische. Und dann werden die Menschen endlich anfangen, Menschen zu sein anstatt Sklaven ihres Selbsterhalts."

- Boris Sidis zu Sarah, S. 120.



Ein junger, intelligenter Boris Sidis, getrieben von unstillbarem Ehrgeiz und Leidenschaft, ist sich sicher, dass Elektrizität, die für alle nutzbar ist, der Schlüssel zu einem neuen Zeitalter ist. Ebenso ist er sich sicher, dass Bildung die Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden lassen kann. Wenn nur jedes Kind richtig und frühzeitig gefördert wird, kann jeder intelligent genug sein, um nicht länger von Demagogen und anderen Verführern abhängig sein zu müssen, sondern ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Boris Sidis, der idealistische, gebildete Einwanderer, will im Land der unbegrenzten Möglichkeiten tatsächlich unbegrenzte Möglichkeiten für alle ermöglichen.

In der nicht unbedingt hochintelligenten, aber fleißigen und mindestens ebenso ehrgeizigen Sarah findet Boris die perfekte Ehefrau, um sein Leben nach seinen Vorstellungen leben zu können. Und wer würde sich besser eignen, der Welt zu beweisen, dass seine Erkenntnisse über Psychologie und das Subwaking Self, wie er es nennt, stimmen, als der eigene Sohn? Boris und Sarah ziehen an einem Strang, um ihrem gemeinsamen Sohn die Tore der Welt zu öffnen.



"Die Überheblichkeit ist die engste Freundin der Ignoranz, man trifft die beiden stets gemeinsam an."

- Boris zu seinem wenige Wochen alten Sohn, S. 164.



Von Anfang an lehrt Boris seinen Sohn, dass er keinen Respekt vor älteren Menschen oder Institutionen haben soll. Allein das Maß der Bildung, das Maß des Intellekts zählt. Wer sich nicht um Bildung bemüht, verdient keinen Respekt. Die Erziehungsmethoden von Boris und Sarah wirken mal logisch, mal abstoßend. Eindringlich wird geschildert, wie sie alle Sinnes-eindrücke für ihr kleines Kind filtern, um ihm zu helfen, die Welt schneller zu begreifen. Tat-sächlich tut William James das auch, in atemberaubender Geschwindigkeit erlernt er nicht nur Dinge, für die andere Kinder Jahre brauchen, sondern entwickelt auch Verständnis für komplexere Zusammenhänge, die selbst Erwachsenen verborgen bleiben. Doch was auf der einen Seite verlockend und wundervoll klingt, hat seine eindeutigen Schattenseiten.



"Er wollte alles wissen, was es zu wissen gab. Dann wäre er kein Angeber mehr, der sich nur schlau gibt. Und Boris wäre endlich zufrieden mit ihm."

- Gedanken des dreijährigen William über seinen Vater, S. 195.



Immer wieder schildert der Autor Szenen, in denen die stolzen Eltern ihr hochintelligentes Kind vor anderen zu Schau stellen, Szenen, in denen sie William auffordern, sein Wissen oder sein Denkvermögen zu demonstrieren, nicht etwa, weil sie stolz auf seine Leistung sind, nein. Sie sind stolz, dass ihre Erziehungsmethode funktioniert. Rund um die Uhr ist William umgeben von einer Atmosphäre des Lernens. Gewiss, die Eltern legen Wert darauf, dass er Spaß am Lernen hat und sie ermuntern ihn dazu, eigenen Interessen nachzugehen. Doch dabei geht es nie um ihn, sondern nur um den Beweis, dass die Sidis-Methode funktioniert. Es ist beim Lesen bisweilen hart, die Eltern nicht zu verfluchen für ihre Unfähigkeiten, jenseits des rational-logischen Teils eine gute Erziehung zu liefern.

Es ist entsprechend wenig verwunderlich, wie schwer sich William, genannt Billy, in der Schule tut. Nicht nur lebt sein Vater ihm Verachtung für diese Institution vor. Die Institution selbst lässt sich tatsächlich auf das Spiel ein: Immer wieder überspringt er eine Stufe, steigt auf, kommt mit älteren Kindern zusammen, bis er mit gerade elf Jahren im Rahmen eines Förderungsprogramms für hochbegabte Kinder an der Harvard Universität aufgenommen wird. Ebenso wenig wundert man sich darüber, dass er mit den Studenten im Wohnheim nicht zu-recht kommt, dass er sich schwer tut, den Vorlesungen zu folgen und generell Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen hat. Er versteht nicht, dass sein Drang, jederzeit alles zu hinterfragen und jederzeit auf alles die richtige Antwort zu geben, gesellschaftlich problematisch ist. Seine Eltern haben dieses Verhalten immer gefördert und in dem jungen William lodert das Feuer kindhafter Neugier.



"Trotz seiner vierzehn Jahre war Billy immer noch weit von seinem ersten akademischen Titel entfernt. Das war angesichts der Erwartungen, die seine Leistungen als Kind geweckt hatten, enttäuschend, und gemessen an seinen Möglichkeiten geradezu skandalös."

- S. 333.



Erziehung und Bildung ist schon seit der Aufklärung ein sehr beliebtes Thema. Hatten sich Ratgeber vor der Zeit vor allem damit beschäftigt, wie man den Willen des Kindes brechen kann, damit er einem gottgefälligen Pfad folgt und nicht den Verlockungen des Teufels er-liegt, ging es seit dem 18. Jahrhundert vor allem um die Frage, wie man (zumindest reiche und/oder adelige) Jungen (und später auch Mädchen) so erziehen kann, dass sie ihren Ver-stand best möglich nutzen. Und so sehr die Aufklärer auch die Vernunft lobten, so gut begriffen sie doch, dass unsere Menschlichkeit in Gefühlen, vor allem im Mitgefühl für andere Menschen, verankert liegt. Sie wussten, eine gute Erziehung bildet nicht nur den rationalen, son-dern auch den emotionalen Teil des Menschen. Genauso gibt es genügend Aufsätze aus jener Zeit darüber, wie wichtig es ist, Kindern Grenzen zu setzen und sie unter die Aufsicht von Erwachsenen zu stellen, um ihre moralische und intellektuelle Bildung zu überwachen.

Nichts davon scheint Boris und Sarah bekannt zu sein. Als nämlich William schließlich nach Harvard zurückkehrt, macht er eine für sich selbst enorm wichtige Entdeckung:



"Billy war dankbar für jede Entscheidung, die ihm abgenommen wurde. Am besten, dachte er, wäre es, wenn man für jede wiederkehrende Situation im Leben eine eindeutige Handlungsanweisung hätte. Dann müsste man nie mehr überlegen, was man tun soll und wie."

- S. 341.



Offensichtlich haben seine Eltern es versäumt, ihm Grenzen aufzuzeigen. Sein Alltag hat sich stets nur darum gedreht, immer mehr und mehr zu lernen und immer mehr und mehr Fragen zu stellen. Aber Grenzen, die Eltern ihren Kindern setzen, sind nichts anderes als abgenommene Entscheidungen. Die Welt ist zu groß und zu verwirrend, als dass ein Kind alle Entscheidungen für sich selbst treffen könnte. Nicht umsonst bemerkt man als junger Erwachsener plötzlich, dass Erwachsensein ganz schön beängstigend ist. Man kann alles tun - aber man muss die Entscheidung dazu selbst treffen. Die Entscheidung, die Vorlesung zu besuchen. Die Entscheidung, sich um Rechnungen, Steuern und den Einkauf zu kümmern. All das sind Entscheidungen und jede Entscheidung kostet Energie. Je weniger Entscheidungen man treffen muss, umso mehr Energie hat man übrig. Es ist sehr klug von William, sich einen ausführlichen Katalog von Prinzipien zu erstellen, der ihm diverse Alltagsentscheidungen abnimmt. So hat er mehr Energie für sich, das Lernen und das Leben übrig. Doch so intelligent ein Vierzehnjähriger auch ist, er hat nicht die Lebenserfahrung, um über alle Materien ein ausgewogenes Urteil fällen zu können. Ebenso kann man sich sehr schnell darin verrennen - und genau das tut William.

Entsprechend verwundert es nicht, dass er als Mann Mitte zwanzig plötzlich an der Welt verzweifelt. Er hat viel erlebt in der Zeit und er kann Amerika nicht mehr als das Land der Freiheit sehen.



"Was war falsch gelaufen? Waren seine Regeln schlecht? Nein. Aber die Welt war es. Sie war das Problem."

- Ein verzweifelter William, S. 468.



William sehnt sich nach nichts mehr als nach einem normalen Leben. Er will keine Aufmerksamkeit durch die Presse, ebenso wie er keine Gehaltserhöhung und anspruchsvollere Arbeit ob seines Intellekts will. Er liebt die Anonymität und die Abgeschiedenheit. Längst könnte er zur intellektuellen Elite gehören, genau das ist es, was seine Eltern von ihm erwartet hatten, doch genau das ist es, was er nicht will.

Es ist herzzerreißend zu lesen, wie sich William selbst die Schuld daran gibt, dass sein Va-ter Boris sein Lebenswerk, die Entwicklung der Sidis-Methode, zerstört sieht. Insbesondere seine Mutter hält ihm immer wieder vor, was er schon alles hätte erreichen sollen und wie un-verständlich ihr war, dass er ihr gemeinsames Lebenswerk durch sein gedankenloses Handeln in Verruf gebracht hatte. Denn die Presse hört nicht auf über das Wunderkind von einst zu sprechen, doch statt lobend äußern sie sich zunehmend verachtend und höhnisch. Dass zeit-gleich durch Freud die Psychoanalyse populär wird und an den psychiatrischen Methoden von Boris verstärkt Zweifel aufkommen, hilft der Familie auch nicht.

Aus William James Sidis hätte ein großer Universalgelehrter werden können. Stattdessen beschäftigt er sich in den letzten Jahren seines Lebens mit Straßenbahntickets und führt einen aussichtslosen juristischen Kriegen gegen die New York Times. Die Lebensgeschichte von William James Sidis ist wahr, er hat wirklich gelebt und der Klaus Cäsar Zehrer hat intensive Recherchen durchgeführt, um sie so authentisch wie möglich darzustellen. Trotzdem - oder genau deswegen - ist das angesprochene Thema unwahrscheinlich wichtig. Immer wieder begegnet man Eltern, die in ihrem Drang, in der Erziehung alles richtig zu machen, völlig über-sehen, worauf es eigentlich ankommt: Liebe. Ein Kind muss durch die Eltern erfahren, dass es bedingungslos geliebt wird, um seiner selbst Willen, um zu einem selbstbewussten, glücklichen Menschen heranwachsen zu können. Wer in seiner Kindheit nie erfahren hat, dass er ohne Bedingungen liebenswert ist, wird das als Erwachsener kaum noch nachholen können. Ebenso macht nichts ein Kind unglücklicher, als sich Erwartungen ausgeliefert zu sehen, die es nicht erfüllen kann. Dass es Eltern gibt, die nicht ertragen können, dass ihr Kind eventuell nicht für das Gymnasium oder ein Studium geeignet ist, ist tragisch.

William scheint darüber hinaus nie gelernt zu haben, dass Kunst und Schönheit um ihrer selbst Willen eine Existenzberechtigung haben. Sie sind nicht nützlich, zumindest in keinem rational erfassbaren Rahmen. Er hat Liebe nie verstanden - zumindest in der Schilderung des Autors. Er hat sein Leben lang damit gehadert, dass seine Eltern Erwartungen an ihm haben, ein Hadern, das ihn schließlich in abgrundtiefen Hass insbesondere gegen die eigene Mutter getrieben hat. Zu früh hat er begriffen, dass er immer ein anderer bleiben wird. Er ist alleine, unverstanden und zu interessant, als dass die Öffentlichkeit ihn in Ruhe lassen könnte. So spannend und aufschlussreich die Theorien von Boris auch sind, seine maßlose Übertreibung hat einem jungen Menschen die Möglichkeit genommen, glücklich zu werden.

Trotz des schwierigen Themas ist das Lesen dieses Romans ein Genuss. Der Schreibstil ist fantastisch, er spiegelt stets den Charakter wieder, durch dessen Augen wir das Geschehen gerade wahrnehmen. Mal haben wir die strenge Sarah, mal den idealistischen Boris als Perspektive und später den kindlich-naiven William. Das Amerika zur Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg wird so anschaulich, aber trotzdem nebenher beschrieben, dass man sich tat-sächlich in der Zeit zurückversetzt fühlt. Es ist beinahe nicht zu glauben, dass dies der erste Roman des Autors ist.





FAZIT:



Mit seinem Debütroman "Das Genie" ist es Klaus Cäsar Zehrer gelungen, die Biografie eines sehr spannenden Mannes lebensnah und unterhaltsam zu erzählen. Die Vorstellung, dass William James Sidis tatsächlich so ein Leben gelebt hat, ist ebenso tragisch wie lehrreich. Die psychologischen und philosophischen Lehren dieses Buches, aber auch die politiktheoretischen und mathematisch-physikalischen Erörterungen regen zu immer neuem Nachdenken an. Nicht selten lacht man auf der einen Seite, um auf der nächsten Seite schon wieder starr vor Entsetzen zu sein. Die Mischung aus Tragik und scharfzüngiger Realitätsbeschreibung macht diesen Roman zu einem strahlenden Juwel. Ich kann nur wärmstens eine umfassende Kaufempfehlung aussprechen. Das Buch war anregender als jeder Kaffee, denn ich habe die über 600 Seiten innerhalb von zwei Tagen inhaliert, ohne zu ermüden.



Veröffentlicht am 16.08.2017

Lehrreich, emotional und unterhaltsam

Und Marx stand still in Darwins Garten
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Marx und Darwin, was für eine interessante Kombination. Als Master der Politikwissenschaft ist mir natürlich Marx mehr als bekannt, ebenso wie wohl kein Schüler in diesem Land im Biologie-Unterricht um ...

Marx und Darwin, was für eine interessante Kombination. Als Master der Politikwissenschaft ist mir natürlich Marx mehr als bekannt, ebenso wie wohl kein Schüler in diesem Land im Biologie-Unterricht um Darwin herum kommen kann. Grundlegendes Wissen über diese beiden Männer ist also durchaus vorhanden beim Leser, doch das, was Ilona Jerger hier schreibt, geht weit darüber hinaus.

Mit Hilfe der Figur des Dr. Beckett schafft sie ein Bindeglied zwischen zwei bedeutenden Persönlichkeiten, die sich in der realen Geschichte nie leibhaftig begegnet sind, auch wenn sie natürlich von der Existenz des anderen gewusst haben. Was hätten die beiden wohl zueinander zu sagen gehabt? Das Dinner im Hause Darwin, welches im Klappentext erwähnt wird, findet tatsächlich erst recht spät im Buch statt, und so unterhaltsam es auch ist, es ist nur eine kurze Szene, eher eine Anekdote. Meine Erwartungen in der Hinsicht wurden enttäuscht, doch in jedem anderen Aspekt hat dieser Roman meine Erwartungen übertroffen.

Der Schreibstil von Jerger ist eine überraschende Kombination aus plastischer, lebhafter Darstellung und subtiler, zurückhaltender Beobachtung. Sie schafft es mühelos, Marx und Darwin in all ihrer Menschlichkeit zu zeigen, ohne dabei respektlos zu werden. Ich kannte Marx schon immer als aufbrausenden, nicht sonderlich feinen Herrn, doch die sanftmütige Seite von Darwin habe ich erst durch diesen Roman kennengelernt. Vom Temperament her könnten diese beiden Wissenschaftler unterschiedlicher kaum sein. Trotzdem spürt man, dass sie in ihrem Wissensdurst sehr ähnlich sind. Ein sehr interessanter Punkt für mich war dabei, dass Marx, der Geisteswissenschaftler, glaubt – oder zumindest vorgibt zu glauben – dass er die gesellschaftliche Welt entschlüsselt hat, während Darwin, der Naturwissenschaftler, stets vorsichtig, zweifelnd und zurückhaltend bleibt. Üblicherweise ist es die Naturwissenschaft, die für sich beansprucht, die Welt zu erklären, wie sie ist, während die Geisteswissenschaft auf jede Frage nur stets mit neuen Fragen antwortet und sich alles um das beste Argument, die beste Verknüpfung von Theorien und Ideen dreht. Doch Marx, wie er hier beschrieben wird, ist ein Kämpfer, der so fest an die Korrektheit seiner Thesen glaubt, dass er niemals aufhören kann zu kämpfen, während Darwin mit zunehmendem Wissen nur immer mehr spürt, wie unzulänglich ein einzelnes Leben, ein einzelner Verstand ist.

Da wir die beiden Männer aus den Augen eines Arztes präsentiert bekommen, dreht sich natürlich ein großer Teil des Romans um die verschiedensten Leiden dieser beiden. Sie sind alt und auf vielfältige Weise krank. Das Londoner Klima am Ende des 19. Jahrhunderts tut zudem keinem der beiden gut. Doch Beckett, als Verfechter neuerer medizinischer Methoden und in dem festen Glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen psychischen und physischem Wohlergehen gibt, hilft, wo er kann. Er hört aufmerksam zu und sein scharfer Verstand erlaubt es ihm, Zusammenhänge zwischen Darwin und Marx zu sehen – und genau dort liegt die Stärke in diesem Roman.

Natürlich sind Marx und seine Anhänger begeistert davon, dass Darwin wissenschaftlich fundiert Gott abgeschafft hat. Ebenso natürlich muss Marx dessen These vom „survival of the fittest“ ablehnen, da sie suggeriert, dass es naturgegeben, richtig und notwendig ist, dass es Klassenunterschiede gibt. Auf der anderen Seite scheut Darwin nichts mehr, als politisch instrumentalisiert zu werden. Direkt zu Beginn plagt ihn ein Alptraum, dass Kirchenanhänger ihn ob seiner Veröffentlichungen verfolgen. Er will sich gar nicht mit der Kirche überwerfen, er kann nur nicht anders, als die Welt durch die Augen eines Naturwissenschaftlers sehen. Obwohl er sich anfangs dagegen sperrt, mit Beckett über Marx zu sprechen, ist sein Interesse doch geweckt, als der Arzt seine eigenhändig entwickelte These präsentiert: Marx, dessen Eltern ehemals Juden waren und der selbst von Hass auf Juden geprägt ist, lehnt die Kirche mit all seinem Wesen ab, schafft aber mit seinem Kommunismus eine eigene Religion nach jüdischem Vorbild: Statt der Juden sieht er die Arbeiter unterdrückt, statt den Ägyptern ist die Bourgeoisie der Feind und statt Moses ist Marx der Prophet, der das Volk befreit und ins Paradies, eine kommunistische Gesellschaft, führt.

Beckett ist begeistert von dieser Einsicht, insbesondere auch, weil er in der Entfremdung, über die Marx ständig spricht, einen direkten Bezug zu dessen Leben sieht: Die Juden sind in der Welt entfremdet, Marx ist seiner Familie entfremdet und er ist seiner Heimat entfremdet, weil er wegen seiner Veröffentlichungen politisches Asyl in England suchen musste. Diese Bezüge zwischen dem Judenhass und der Religionskritik bei Marx und seiner eigenen Biografie sind nicht neu, doch Jerger lässt Beckett dies in so schillernden Farben ausführen, dass man unwillkürlich selbst wissenschaftliche Erregung ob dieser neuen Erkenntnis verspürt. Es ist unmöglich, einen Autor ohne seinen biografischen Kontext zu interpretieren, auch wenn man es tunlichst vermeiden sollte, alles auf seine Lebensumstände zurückzuführen. Dass Jerger hier einen kurzen Moment im Leben von Marx so anschaulich darstellt und darin all das verdichtet, was Marx in seinem Leben erfahren hat, während sie gleichzeitig seinen fortwährenden Kampf mit seinem Körper, seinen Büchern und fremden Theorien beschreiben kann, ist eine Meisterleistung, vor der ich tiefen Respekt habe.

In einem Interview hat sie selbst gesagt, dass sie sich Darwin näher fühlt und das zeigt sich in dem Buch durchaus. Wir erfahren weit mehr über Darwin, erleben weit mehr auch aus seiner Vergangenheit. Trotzdem – vielleicht, weil ich Politikwissenschaftlerin bin? – empfand ich die von Marx ausgehenden politiktheoretischen Teile als deutlich spannender. Ich kann Darwins Begeisterung für Regenwürmer vielleicht verstehen, aber nicht nachempfinden. Dass er sich nicht politisch instrumentalisieren lassen will, ist ihm hoch anzurechnen, doch als Philosophin weiß ich nur zu genau, dass es unmöglich ist, fremde Theorien, die auch nur entfernt nützlich erscheinen, nicht in eigene Theorien einzubauen. Insofern bin ich Marx deutlich näher.

Das Buch ist ein biografischer Roman mit einem großen Schuss eigener Fantasie. Es geht hier nicht darum, einen Handlungsbogen zu entwickeln und über die bekannten Schritte zu einem spannenden Höhepunkt zu kommen. Dessen muss man sich als Leser bewusst sein, sonst wird man enttäuscht. Stattdessen erhalten wir auf sehr leichte, aber eingängige Weise politik- und naturwissenschaftliche Konzepte erklärt und lernen, dass auch große historische Persönlichkeiten von ganz menschlichen Zweifeln und Problemen geplagt werden. Ich war hingerissen von der Lektüre.

FAZIT:

Der Roman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ von Ilona Jerger ist ein wundervoller Einblick in das Leben zweiter bedeutender Männer. Einfühlsam, aber ungeschönt lässt sie uns an einigen Wochen teilhaben. Mit Hilfe der erfundenen Figur Dr. Beckett diskutiert sie die Berührungspunkte und Widersprüche in den Theorien beider Wissenschaftler, während sie zugleich großen Wert auf menschliche Darstellung legt. Das Buch hat mich zum Nachdenken angeregt, ebenso wie es mich insbesondere während des im Klappentext erwähnten Dinner zu unkontrolliertem Lachen verführt hat. Ich kann jedem neugierigen Geist dieses Buch nur wärmstens empfehlen.