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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.08.2017

Düster, verstörend, aber genau deswegen brillant

... und morgen werde ich dich vermissen
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Für mich war der Roman „… und morgen werde ich dich vermissen“ der erste, richtige Krimi seit langer Zeit. Gerade bei skandinavischen Krimis erwarte ich zudem immer spannende Charaktere und seine sehr ...

Für mich war der Roman „… und morgen werde ich dich vermissen“ der erste, richtige Krimi seit langer Zeit. Gerade bei skandinavischen Krimis erwarte ich zudem immer spannende Charaktere und seine sehr düstere Atmosphäre. Da Heine Bakkeid bisher eher für Jugendbücher bekannt war, habe ich mich gespannt auf die Lektüre eingelassen – und ich wurde belohnt!



Unverstellte Nordmänner

Thorkild Aske ist ein vollständig gebrochener Mann. Als ehemaliger Polizist, der sich auf Verhöre bei internen Ermittlungen spezialisiert hat, weiß er eine Menge über Psychologie, doch natürlich hilft das einem Menschen nie bei eigenen Problemen. Ein Vorfall bei seinem letzten Fall hat ihn nicht nur hinter Gittern gebracht, sondern auch tiefe seelische Wunden hinterlassen. Davon erfahren wir schon zu Beginn sehr viel und über den ganzen Roman hinweg spielen seine Pillen und sein psychologischer Aufpasser eine große Rolle. Seine Schmerzen, seine Halluzinationen und seine gesamte Einstellung dem Leben gegenüber machen Thorkild zu einem spannenden Mann. Das Buch ist aus der Ich-Perspektive von ihm geschrieben, vollständig, auch in den kurzen Rückblenden, die uns mehr Aufschluss darüber geben, was damals geschehen ist. Interessanterweise sind seine inneren Reflexionen durchaus tiefgründig, aber gleichzeitig haben sie bei mir manchmal das Gefühl hinterlassen, es nicht mit einem älteren, erfahrenen Mann, sondern mit einem Jugendlichen zu tun zu haben. Das fiel mir bereits auf, bevor ich von den Jugendbüchern des Autors wusste, doch ich führe das darauf zurück: Er ist ihm noch nicht vollständig gelungen, einen erwachsenen Protagonisten zu kreieren. Glücklicherweise ist es kein ernstzunehmender Störfaktor.

Die übrigen Gestalten sind ebenso grob wie glaubwürdig gezeichnet. Hakkeid verschwendet keine Zeit darauf, Nebencharaktere tiefgründig zu gestalten, dennoch erhalten alle genug Charakter, um ernstgenommen werden zu können. Es gibt deutlich mehr Männer als Frauen in diesem Roman, doch daran habe ich mich nicht gestört. Die Beamten, die wir kennenlernen, ebenso wie die einfachen Bewohner des Küstendorfes sind schlichte Leute, die ihre eigenen, nicht unbedingt weltoffenen Meinungen haben, und obwohl sie Fremden gegenüber nicht allzu offen sind, äußern sie ihre Gedanken bereitwillig und ungefiltert. Das macht sie nicht unbedingt sympathischer, aber genau davon lebt der Roman.



Ein unerklärliches Verschwinden

Eigentlich ist Thorkild in den Norden gefahren, um den verschollenen Rasmus zu finden, doch in der stürmischen Nacht auf der Leuchtturminsel findet er stattdessen eine Frauenleiche. Seine Ermittlungen dazu gehen nur schleppend voran, da diverse hindernde Umstände ihn ablenken. Einerseits ist der Schatten seiner Vergangenheit noch immer groß und düster, andererseits ist die örtliche Polizei auch mehr als feindselig. Als Leser hat man unwillkürlich das Gefühl, dass die Dorfbewohner alle mehr wissen, als sie zugeben, jeder von ihnen wirkt verdächtig. Wirklich vorwärts gehen die Ermittlungen erst auf den letzten hundert Seiten, nachdem Thorkild sich daran erinnert, dass er einst ein ernstzunehmender Ermittler, der unerbittlich und scharfsinnig einer Spur folgen kann, war. Ihn dann jedoch bei der Arbeit zu beobachten, macht sehr, sehr viel Spaß. Nichts anderes zählt mehr, als die Aufklärung des Falls. Warum Rasmus verschwunden ist und wer die Leichte ist, scheint sich niemand erklären zu können, doch Thorkild lässt nicht locker.

Mir gefallen Krimis, in denen man tatsächlich Polizeiarbeit beobachten kann. Seien es Verhöre, seien es pathologische Befunde, als Laie bin ich davon fasziniert. Und auch, wenn dieser Roman als Auftakt einer längeren Reihe vor allem den Ermittler etablieren muss, bekommen wir doch genug von diesen Dingen präsentiert, um mich zu unterhalten und bei der Stange zu halten. Ein klein wenig konstruiert waren manche Erklärungen zu Verhören oder der Pathologie schon, als wollte der Autor beweisen, wie viel er zu dem Thema recherchiert hat, doch da es amüsant verpackt war, kann ich das verzeihen.



Ein wenig Wasser im Wein

Um die Worte meines Professors zu benutzen, muss ich am Ende dennoch ein wenig Wasser in den Wein gießen. Nicht alles in diesem Buch ist gelungen. Ich kann akzeptieren, dass es kein reiner Kriminalroman ist, sondern auch ein Thriller mit Mystery-Elementen. Trotzdem hatte ich erwartet, dass alles eine realistische Erklärung erhalten würde. Was Thorkild manchmal sieht und wahrnimmt, lässt sich bspw. problemlos auf seine Psychopharmaka zurückführen. Doch dann gibt es diese eine Episode, die tatsächlich übernatürlich wird, ohne dass es dafür realweltliche Erklärungen geben kann. Ich vermutete kurzfristig, dass es eventuell konstruiertes Theater ist, doch dem war nicht so. Es war wirklich übernatürlich. So gut das auch geschrieben war, ich war vollkommen aus dem Fluss des Lesens rausgerissen. Es wirkte wie ein Fremdkörper. Ich hoffe sehr, dass in weiteren Romanen der Reihe keine weiteren solcher Episoden stattfinden werden.

Ebenso sind einige Ereignisse zu verwirrend beschrieben. Ich kann verstehen, dass Thorkild verwirrt ist und seine Umwelt zwischenzeitlich nicht mehr korrekt wahrnehmen kann, doch ich als Leserin bin tatsächlich manchmal verloren gegangen und habe gar nicht mehr verstanden, wo wir sind und was passiert. Das hat mich doch sehr frustriert.


FAZIT:

Der Kriminalroman „… und morgen werde ich dich vermissen“ von Heine Bakkeid ist ein düsterer, aber auch unterhaltsamer Trip durch die Abgründe der menschlichen Seele. Während der Ermittler Thorkild Aske mit seiner Vergangenheit beschäftigt ist, löst er Stück für Stück das Rätsel um die Vorfälle auf einer abgelegenen Leuchtturminsel. Auf typische Weise bedrückend und zynisch, ist die Lektüre ebenso interessant wie unterhaltsam. Obwohl es einige unpassende Elemente gab, ist die Figur des Ermittlers doch spannend genug und die Fähigkeit des Autors, Atmosphäre zu schaffen, so gut, dass ich schon jetzt weiß, dass diese Krimi-Reihe erfolgreich sein wird. Wer Skandinavien-Krimis mag, wird hier definitiv glücklich.

Veröffentlicht am 23.08.2017

Mitreißend, tragisch und top aktuell

Das Genie
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"Ich sage dir, das Zeitalter der Muskelschinderei wird enden und ein neues beginnen, das elektrische. Und dann werden die Menschen endlich anfangen, Menschen zu sein anstatt Sklaven ihres Selbsterhalts."

- ...


"Ich sage dir, das Zeitalter der Muskelschinderei wird enden und ein neues beginnen, das elektrische. Und dann werden die Menschen endlich anfangen, Menschen zu sein anstatt Sklaven ihres Selbsterhalts."

- Boris Sidis zu Sarah, S. 120.



Ein junger, intelligenter Boris Sidis, getrieben von unstillbarem Ehrgeiz und Leidenschaft, ist sich sicher, dass Elektrizität, die für alle nutzbar ist, der Schlüssel zu einem neuen Zeitalter ist. Ebenso ist er sich sicher, dass Bildung die Unterschiede zwischen den Menschen verschwinden lassen kann. Wenn nur jedes Kind richtig und frühzeitig gefördert wird, kann jeder intelligent genug sein, um nicht länger von Demagogen und anderen Verführern abhängig sein zu müssen, sondern ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Boris Sidis, der idealistische, gebildete Einwanderer, will im Land der unbegrenzten Möglichkeiten tatsächlich unbegrenzte Möglichkeiten für alle ermöglichen.

In der nicht unbedingt hochintelligenten, aber fleißigen und mindestens ebenso ehrgeizigen Sarah findet Boris die perfekte Ehefrau, um sein Leben nach seinen Vorstellungen leben zu können. Und wer würde sich besser eignen, der Welt zu beweisen, dass seine Erkenntnisse über Psychologie und das Subwaking Self, wie er es nennt, stimmen, als der eigene Sohn? Boris und Sarah ziehen an einem Strang, um ihrem gemeinsamen Sohn die Tore der Welt zu öffnen.



"Die Überheblichkeit ist die engste Freundin der Ignoranz, man trifft die beiden stets gemeinsam an."

- Boris zu seinem wenige Wochen alten Sohn, S. 164.



Von Anfang an lehrt Boris seinen Sohn, dass er keinen Respekt vor älteren Menschen oder Institutionen haben soll. Allein das Maß der Bildung, das Maß des Intellekts zählt. Wer sich nicht um Bildung bemüht, verdient keinen Respekt. Die Erziehungsmethoden von Boris und Sarah wirken mal logisch, mal abstoßend. Eindringlich wird geschildert, wie sie alle Sinnes-eindrücke für ihr kleines Kind filtern, um ihm zu helfen, die Welt schneller zu begreifen. Tat-sächlich tut William James das auch, in atemberaubender Geschwindigkeit erlernt er nicht nur Dinge, für die andere Kinder Jahre brauchen, sondern entwickelt auch Verständnis für komplexere Zusammenhänge, die selbst Erwachsenen verborgen bleiben. Doch was auf der einen Seite verlockend und wundervoll klingt, hat seine eindeutigen Schattenseiten.



"Er wollte alles wissen, was es zu wissen gab. Dann wäre er kein Angeber mehr, der sich nur schlau gibt. Und Boris wäre endlich zufrieden mit ihm."

- Gedanken des dreijährigen William über seinen Vater, S. 195.



Immer wieder schildert der Autor Szenen, in denen die stolzen Eltern ihr hochintelligentes Kind vor anderen zu Schau stellen, Szenen, in denen sie William auffordern, sein Wissen oder sein Denkvermögen zu demonstrieren, nicht etwa, weil sie stolz auf seine Leistung sind, nein. Sie sind stolz, dass ihre Erziehungsmethode funktioniert. Rund um die Uhr ist William umgeben von einer Atmosphäre des Lernens. Gewiss, die Eltern legen Wert darauf, dass er Spaß am Lernen hat und sie ermuntern ihn dazu, eigenen Interessen nachzugehen. Doch dabei geht es nie um ihn, sondern nur um den Beweis, dass die Sidis-Methode funktioniert. Es ist beim Lesen bisweilen hart, die Eltern nicht zu verfluchen für ihre Unfähigkeiten, jenseits des rational-logischen Teils eine gute Erziehung zu liefern.

Es ist entsprechend wenig verwunderlich, wie schwer sich William, genannt Billy, in der Schule tut. Nicht nur lebt sein Vater ihm Verachtung für diese Institution vor. Die Institution selbst lässt sich tatsächlich auf das Spiel ein: Immer wieder überspringt er eine Stufe, steigt auf, kommt mit älteren Kindern zusammen, bis er mit gerade elf Jahren im Rahmen eines Förderungsprogramms für hochbegabte Kinder an der Harvard Universität aufgenommen wird. Ebenso wenig wundert man sich darüber, dass er mit den Studenten im Wohnheim nicht zu-recht kommt, dass er sich schwer tut, den Vorlesungen zu folgen und generell Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen hat. Er versteht nicht, dass sein Drang, jederzeit alles zu hinterfragen und jederzeit auf alles die richtige Antwort zu geben, gesellschaftlich problematisch ist. Seine Eltern haben dieses Verhalten immer gefördert und in dem jungen William lodert das Feuer kindhafter Neugier.



"Trotz seiner vierzehn Jahre war Billy immer noch weit von seinem ersten akademischen Titel entfernt. Das war angesichts der Erwartungen, die seine Leistungen als Kind geweckt hatten, enttäuschend, und gemessen an seinen Möglichkeiten geradezu skandalös."

- S. 333.



Erziehung und Bildung ist schon seit der Aufklärung ein sehr beliebtes Thema. Hatten sich Ratgeber vor der Zeit vor allem damit beschäftigt, wie man den Willen des Kindes brechen kann, damit er einem gottgefälligen Pfad folgt und nicht den Verlockungen des Teufels er-liegt, ging es seit dem 18. Jahrhundert vor allem um die Frage, wie man (zumindest reiche und/oder adelige) Jungen (und später auch Mädchen) so erziehen kann, dass sie ihren Ver-stand best möglich nutzen. Und so sehr die Aufklärer auch die Vernunft lobten, so gut begriffen sie doch, dass unsere Menschlichkeit in Gefühlen, vor allem im Mitgefühl für andere Menschen, verankert liegt. Sie wussten, eine gute Erziehung bildet nicht nur den rationalen, son-dern auch den emotionalen Teil des Menschen. Genauso gibt es genügend Aufsätze aus jener Zeit darüber, wie wichtig es ist, Kindern Grenzen zu setzen und sie unter die Aufsicht von Erwachsenen zu stellen, um ihre moralische und intellektuelle Bildung zu überwachen.

Nichts davon scheint Boris und Sarah bekannt zu sein. Als nämlich William schließlich nach Harvard zurückkehrt, macht er eine für sich selbst enorm wichtige Entdeckung:



"Billy war dankbar für jede Entscheidung, die ihm abgenommen wurde. Am besten, dachte er, wäre es, wenn man für jede wiederkehrende Situation im Leben eine eindeutige Handlungsanweisung hätte. Dann müsste man nie mehr überlegen, was man tun soll und wie."

- S. 341.



Offensichtlich haben seine Eltern es versäumt, ihm Grenzen aufzuzeigen. Sein Alltag hat sich stets nur darum gedreht, immer mehr und mehr zu lernen und immer mehr und mehr Fragen zu stellen. Aber Grenzen, die Eltern ihren Kindern setzen, sind nichts anderes als abgenommene Entscheidungen. Die Welt ist zu groß und zu verwirrend, als dass ein Kind alle Entscheidungen für sich selbst treffen könnte. Nicht umsonst bemerkt man als junger Erwachsener plötzlich, dass Erwachsensein ganz schön beängstigend ist. Man kann alles tun - aber man muss die Entscheidung dazu selbst treffen. Die Entscheidung, die Vorlesung zu besuchen. Die Entscheidung, sich um Rechnungen, Steuern und den Einkauf zu kümmern. All das sind Entscheidungen und jede Entscheidung kostet Energie. Je weniger Entscheidungen man treffen muss, umso mehr Energie hat man übrig. Es ist sehr klug von William, sich einen ausführlichen Katalog von Prinzipien zu erstellen, der ihm diverse Alltagsentscheidungen abnimmt. So hat er mehr Energie für sich, das Lernen und das Leben übrig. Doch so intelligent ein Vierzehnjähriger auch ist, er hat nicht die Lebenserfahrung, um über alle Materien ein ausgewogenes Urteil fällen zu können. Ebenso kann man sich sehr schnell darin verrennen - und genau das tut William.

Entsprechend verwundert es nicht, dass er als Mann Mitte zwanzig plötzlich an der Welt verzweifelt. Er hat viel erlebt in der Zeit und er kann Amerika nicht mehr als das Land der Freiheit sehen.



"Was war falsch gelaufen? Waren seine Regeln schlecht? Nein. Aber die Welt war es. Sie war das Problem."

- Ein verzweifelter William, S. 468.



William sehnt sich nach nichts mehr als nach einem normalen Leben. Er will keine Aufmerksamkeit durch die Presse, ebenso wie er keine Gehaltserhöhung und anspruchsvollere Arbeit ob seines Intellekts will. Er liebt die Anonymität und die Abgeschiedenheit. Längst könnte er zur intellektuellen Elite gehören, genau das ist es, was seine Eltern von ihm erwartet hatten, doch genau das ist es, was er nicht will.

Es ist herzzerreißend zu lesen, wie sich William selbst die Schuld daran gibt, dass sein Va-ter Boris sein Lebenswerk, die Entwicklung der Sidis-Methode, zerstört sieht. Insbesondere seine Mutter hält ihm immer wieder vor, was er schon alles hätte erreichen sollen und wie un-verständlich ihr war, dass er ihr gemeinsames Lebenswerk durch sein gedankenloses Handeln in Verruf gebracht hatte. Denn die Presse hört nicht auf über das Wunderkind von einst zu sprechen, doch statt lobend äußern sie sich zunehmend verachtend und höhnisch. Dass zeit-gleich durch Freud die Psychoanalyse populär wird und an den psychiatrischen Methoden von Boris verstärkt Zweifel aufkommen, hilft der Familie auch nicht.

Aus William James Sidis hätte ein großer Universalgelehrter werden können. Stattdessen beschäftigt er sich in den letzten Jahren seines Lebens mit Straßenbahntickets und führt einen aussichtslosen juristischen Kriegen gegen die New York Times. Die Lebensgeschichte von William James Sidis ist wahr, er hat wirklich gelebt und der Klaus Cäsar Zehrer hat intensive Recherchen durchgeführt, um sie so authentisch wie möglich darzustellen. Trotzdem - oder genau deswegen - ist das angesprochene Thema unwahrscheinlich wichtig. Immer wieder begegnet man Eltern, die in ihrem Drang, in der Erziehung alles richtig zu machen, völlig über-sehen, worauf es eigentlich ankommt: Liebe. Ein Kind muss durch die Eltern erfahren, dass es bedingungslos geliebt wird, um seiner selbst Willen, um zu einem selbstbewussten, glücklichen Menschen heranwachsen zu können. Wer in seiner Kindheit nie erfahren hat, dass er ohne Bedingungen liebenswert ist, wird das als Erwachsener kaum noch nachholen können. Ebenso macht nichts ein Kind unglücklicher, als sich Erwartungen ausgeliefert zu sehen, die es nicht erfüllen kann. Dass es Eltern gibt, die nicht ertragen können, dass ihr Kind eventuell nicht für das Gymnasium oder ein Studium geeignet ist, ist tragisch.

William scheint darüber hinaus nie gelernt zu haben, dass Kunst und Schönheit um ihrer selbst Willen eine Existenzberechtigung haben. Sie sind nicht nützlich, zumindest in keinem rational erfassbaren Rahmen. Er hat Liebe nie verstanden - zumindest in der Schilderung des Autors. Er hat sein Leben lang damit gehadert, dass seine Eltern Erwartungen an ihm haben, ein Hadern, das ihn schließlich in abgrundtiefen Hass insbesondere gegen die eigene Mutter getrieben hat. Zu früh hat er begriffen, dass er immer ein anderer bleiben wird. Er ist alleine, unverstanden und zu interessant, als dass die Öffentlichkeit ihn in Ruhe lassen könnte. So spannend und aufschlussreich die Theorien von Boris auch sind, seine maßlose Übertreibung hat einem jungen Menschen die Möglichkeit genommen, glücklich zu werden.

Trotz des schwierigen Themas ist das Lesen dieses Romans ein Genuss. Der Schreibstil ist fantastisch, er spiegelt stets den Charakter wieder, durch dessen Augen wir das Geschehen gerade wahrnehmen. Mal haben wir die strenge Sarah, mal den idealistischen Boris als Perspektive und später den kindlich-naiven William. Das Amerika zur Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg wird so anschaulich, aber trotzdem nebenher beschrieben, dass man sich tat-sächlich in der Zeit zurückversetzt fühlt. Es ist beinahe nicht zu glauben, dass dies der erste Roman des Autors ist.





FAZIT:



Mit seinem Debütroman "Das Genie" ist es Klaus Cäsar Zehrer gelungen, die Biografie eines sehr spannenden Mannes lebensnah und unterhaltsam zu erzählen. Die Vorstellung, dass William James Sidis tatsächlich so ein Leben gelebt hat, ist ebenso tragisch wie lehrreich. Die psychologischen und philosophischen Lehren dieses Buches, aber auch die politiktheoretischen und mathematisch-physikalischen Erörterungen regen zu immer neuem Nachdenken an. Nicht selten lacht man auf der einen Seite, um auf der nächsten Seite schon wieder starr vor Entsetzen zu sein. Die Mischung aus Tragik und scharfzüngiger Realitätsbeschreibung macht diesen Roman zu einem strahlenden Juwel. Ich kann nur wärmstens eine umfassende Kaufempfehlung aussprechen. Das Buch war anregender als jeder Kaffee, denn ich habe die über 600 Seiten innerhalb von zwei Tagen inhaliert, ohne zu ermüden.



Veröffentlicht am 16.08.2017

Lehrreich, emotional und unterhaltsam

Und Marx stand still in Darwins Garten
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Marx und Darwin, was für eine interessante Kombination. Als Master der Politikwissenschaft ist mir natürlich Marx mehr als bekannt, ebenso wie wohl kein Schüler in diesem Land im Biologie-Unterricht um ...

Marx und Darwin, was für eine interessante Kombination. Als Master der Politikwissenschaft ist mir natürlich Marx mehr als bekannt, ebenso wie wohl kein Schüler in diesem Land im Biologie-Unterricht um Darwin herum kommen kann. Grundlegendes Wissen über diese beiden Männer ist also durchaus vorhanden beim Leser, doch das, was Ilona Jerger hier schreibt, geht weit darüber hinaus.

Mit Hilfe der Figur des Dr. Beckett schafft sie ein Bindeglied zwischen zwei bedeutenden Persönlichkeiten, die sich in der realen Geschichte nie leibhaftig begegnet sind, auch wenn sie natürlich von der Existenz des anderen gewusst haben. Was hätten die beiden wohl zueinander zu sagen gehabt? Das Dinner im Hause Darwin, welches im Klappentext erwähnt wird, findet tatsächlich erst recht spät im Buch statt, und so unterhaltsam es auch ist, es ist nur eine kurze Szene, eher eine Anekdote. Meine Erwartungen in der Hinsicht wurden enttäuscht, doch in jedem anderen Aspekt hat dieser Roman meine Erwartungen übertroffen.

Der Schreibstil von Jerger ist eine überraschende Kombination aus plastischer, lebhafter Darstellung und subtiler, zurückhaltender Beobachtung. Sie schafft es mühelos, Marx und Darwin in all ihrer Menschlichkeit zu zeigen, ohne dabei respektlos zu werden. Ich kannte Marx schon immer als aufbrausenden, nicht sonderlich feinen Herrn, doch die sanftmütige Seite von Darwin habe ich erst durch diesen Roman kennengelernt. Vom Temperament her könnten diese beiden Wissenschaftler unterschiedlicher kaum sein. Trotzdem spürt man, dass sie in ihrem Wissensdurst sehr ähnlich sind. Ein sehr interessanter Punkt für mich war dabei, dass Marx, der Geisteswissenschaftler, glaubt – oder zumindest vorgibt zu glauben – dass er die gesellschaftliche Welt entschlüsselt hat, während Darwin, der Naturwissenschaftler, stets vorsichtig, zweifelnd und zurückhaltend bleibt. Üblicherweise ist es die Naturwissenschaft, die für sich beansprucht, die Welt zu erklären, wie sie ist, während die Geisteswissenschaft auf jede Frage nur stets mit neuen Fragen antwortet und sich alles um das beste Argument, die beste Verknüpfung von Theorien und Ideen dreht. Doch Marx, wie er hier beschrieben wird, ist ein Kämpfer, der so fest an die Korrektheit seiner Thesen glaubt, dass er niemals aufhören kann zu kämpfen, während Darwin mit zunehmendem Wissen nur immer mehr spürt, wie unzulänglich ein einzelnes Leben, ein einzelner Verstand ist.

Da wir die beiden Männer aus den Augen eines Arztes präsentiert bekommen, dreht sich natürlich ein großer Teil des Romans um die verschiedensten Leiden dieser beiden. Sie sind alt und auf vielfältige Weise krank. Das Londoner Klima am Ende des 19. Jahrhunderts tut zudem keinem der beiden gut. Doch Beckett, als Verfechter neuerer medizinischer Methoden und in dem festen Glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen psychischen und physischem Wohlergehen gibt, hilft, wo er kann. Er hört aufmerksam zu und sein scharfer Verstand erlaubt es ihm, Zusammenhänge zwischen Darwin und Marx zu sehen – und genau dort liegt die Stärke in diesem Roman.

Natürlich sind Marx und seine Anhänger begeistert davon, dass Darwin wissenschaftlich fundiert Gott abgeschafft hat. Ebenso natürlich muss Marx dessen These vom „survival of the fittest“ ablehnen, da sie suggeriert, dass es naturgegeben, richtig und notwendig ist, dass es Klassenunterschiede gibt. Auf der anderen Seite scheut Darwin nichts mehr, als politisch instrumentalisiert zu werden. Direkt zu Beginn plagt ihn ein Alptraum, dass Kirchenanhänger ihn ob seiner Veröffentlichungen verfolgen. Er will sich gar nicht mit der Kirche überwerfen, er kann nur nicht anders, als die Welt durch die Augen eines Naturwissenschaftlers sehen. Obwohl er sich anfangs dagegen sperrt, mit Beckett über Marx zu sprechen, ist sein Interesse doch geweckt, als der Arzt seine eigenhändig entwickelte These präsentiert: Marx, dessen Eltern ehemals Juden waren und der selbst von Hass auf Juden geprägt ist, lehnt die Kirche mit all seinem Wesen ab, schafft aber mit seinem Kommunismus eine eigene Religion nach jüdischem Vorbild: Statt der Juden sieht er die Arbeiter unterdrückt, statt den Ägyptern ist die Bourgeoisie der Feind und statt Moses ist Marx der Prophet, der das Volk befreit und ins Paradies, eine kommunistische Gesellschaft, führt.

Beckett ist begeistert von dieser Einsicht, insbesondere auch, weil er in der Entfremdung, über die Marx ständig spricht, einen direkten Bezug zu dessen Leben sieht: Die Juden sind in der Welt entfremdet, Marx ist seiner Familie entfremdet und er ist seiner Heimat entfremdet, weil er wegen seiner Veröffentlichungen politisches Asyl in England suchen musste. Diese Bezüge zwischen dem Judenhass und der Religionskritik bei Marx und seiner eigenen Biografie sind nicht neu, doch Jerger lässt Beckett dies in so schillernden Farben ausführen, dass man unwillkürlich selbst wissenschaftliche Erregung ob dieser neuen Erkenntnis verspürt. Es ist unmöglich, einen Autor ohne seinen biografischen Kontext zu interpretieren, auch wenn man es tunlichst vermeiden sollte, alles auf seine Lebensumstände zurückzuführen. Dass Jerger hier einen kurzen Moment im Leben von Marx so anschaulich darstellt und darin all das verdichtet, was Marx in seinem Leben erfahren hat, während sie gleichzeitig seinen fortwährenden Kampf mit seinem Körper, seinen Büchern und fremden Theorien beschreiben kann, ist eine Meisterleistung, vor der ich tiefen Respekt habe.

In einem Interview hat sie selbst gesagt, dass sie sich Darwin näher fühlt und das zeigt sich in dem Buch durchaus. Wir erfahren weit mehr über Darwin, erleben weit mehr auch aus seiner Vergangenheit. Trotzdem – vielleicht, weil ich Politikwissenschaftlerin bin? – empfand ich die von Marx ausgehenden politiktheoretischen Teile als deutlich spannender. Ich kann Darwins Begeisterung für Regenwürmer vielleicht verstehen, aber nicht nachempfinden. Dass er sich nicht politisch instrumentalisieren lassen will, ist ihm hoch anzurechnen, doch als Philosophin weiß ich nur zu genau, dass es unmöglich ist, fremde Theorien, die auch nur entfernt nützlich erscheinen, nicht in eigene Theorien einzubauen. Insofern bin ich Marx deutlich näher.

Das Buch ist ein biografischer Roman mit einem großen Schuss eigener Fantasie. Es geht hier nicht darum, einen Handlungsbogen zu entwickeln und über die bekannten Schritte zu einem spannenden Höhepunkt zu kommen. Dessen muss man sich als Leser bewusst sein, sonst wird man enttäuscht. Stattdessen erhalten wir auf sehr leichte, aber eingängige Weise politik- und naturwissenschaftliche Konzepte erklärt und lernen, dass auch große historische Persönlichkeiten von ganz menschlichen Zweifeln und Problemen geplagt werden. Ich war hingerissen von der Lektüre.

FAZIT:

Der Roman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ von Ilona Jerger ist ein wundervoller Einblick in das Leben zweiter bedeutender Männer. Einfühlsam, aber ungeschönt lässt sie uns an einigen Wochen teilhaben. Mit Hilfe der erfundenen Figur Dr. Beckett diskutiert sie die Berührungspunkte und Widersprüche in den Theorien beider Wissenschaftler, während sie zugleich großen Wert auf menschliche Darstellung legt. Das Buch hat mich zum Nachdenken angeregt, ebenso wie es mich insbesondere während des im Klappentext erwähnten Dinner zu unkontrolliertem Lachen verführt hat. Ich kann jedem neugierigen Geist dieses Buch nur wärmstens empfehlen.

Veröffentlicht am 08.08.2017

Ein Thriller mit erstaunlichem Tiefgang

Heartware
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Bevor ich mit meiner Rezension beginne, warne ich vor leichten Spoilern, die der Text beinhalten wird. Ich werde nicht über den Fortgang der Handlung sprechen, aber zentrale Thematiken, die erst später ...

Bevor ich mit meiner Rezension beginne, warne ich vor leichten Spoilern, die der Text beinhalten wird. Ich werde nicht über den Fortgang der Handlung sprechen, aber zentrale Thematiken, die erst später im Buch erörtert werden, aufgreifen. Wer also wirklich gar nichts über diesen Roman wissen möchte, sollte hier nicht weiterlesen. Alle anderen lade ich dazu ein, sich eine Tasse Kaffee zu schnappen, es sich in einem Sessel gemütlich zu machen und die höchste Aufmerksamkeitsstufe zu aktivieren - wir haben viel zu besprechen, denn dieser Thriller ist keine leichte Kost. Entsprechend schreibe ich auch keine klassische Rezension zu diesem Buch, sondern eher eine Besprechung mit Diskussion.



Die Definition der Freiheit

Wir sind alle Geschöpfe Gottes, sagt die Philosophin Catharine Macaulay (02.04.1731 - 22.06.1791). Als er uns geschaffen hat, hat Gott uns allen die Vernunft geschenkt. Mit Hilfe dieser Vernunft, so ist es Gottes Wille, sind wir in der Lage, gut und böse zu unterscheiden und uns für das Gute zu entscheiden. Als Anhängerin des Postmillenialism geht Macaulay davon aus, dass der einzelne Mensch und die Menschheit als Ganze stetig tugendhafter wird, bis schließlich alle Menschen tugendhaft sind und ein tausendjähriges Reich Gottes voller Glück auf uns wartet, eingeläutet vom zweiten Erscheinen von Christus. Sie hielt die Französische Revolution für den Beginn dieses tausendjährigen Reiches und verstarb, ehe sie die grausame Wendung miterleben konnte. Zentraler Kern ihrer Philosophie ist, dass Gott uns den freien Willen gegeben hat, so dass wir uns zwischen gut und böse entscheiden können. Dass es das Böse gibt, liegt daran, dass wir nur im Kampf gegen das Böse zu wahrer Tugendhaftigkeit gelangen können. Das Gute wiederum ist der Wille Gottes. Ihn zu erkennen bedeutet, Freiheit zu erfahren. Der wahrhaft freie Mensch wird sich also immer für das Gute entscheiden. Wer sich für das Böse entscheidet, ist nicht frei. In Macaulays Lehre ist es dem vernünftigen Menschen unmöglich, sich nicht für das Gute zu entscheiden. Und weil das so ist, ist es unaufhaltsam, dass wir den Zustand weltweiter, endgültiger Glückseligkeit erreichen werden.

Warum erzähle ich euch das? Jenny-Mai Nuyen hat ihren Roman in drei Teile aufgeteilt und der letzte ist hochgradig philosophisch. Schon vorher begegnen wir sozialistischen Gedanken und es wird schnell klar, dass es hier irgendwie um Größeres geht. Doch erst im letzten Teil wird klar, wie groß dieses Größere eigentlich ist. Durch das ganze Buch ziehen sich Andeutungen, wie mächtig jene sind, die den Informations- und Technikvorsprung haben. Der bereits im Klappentext erwähnte Internettycoon Balthus bspw. hat ein wahrhaft grauenerregendes Programm geschrieben, welches auch von der Hauptperson Adam Eli genutzt wird, um nicht ganz legale Recherchen anzustellen. Wer Programme schreiben, nutzen und verkaufen kann, hat die Macht. Im Nachteil sind wie immer jene, denen die Bildung und das Geld dazu fehlt. Die Welt ist ungerecht. Warum ist sie ungerecht? Weil die Menschen ihren negativen Trieben nachgehen und andere nicht gleichberechtigt beteiligen. Am Ende werden wir mit der These konfrontiert, dass es unmenschlich ist, kein Mitleid mit seinen Mitmenschen zu haben (eine These, die auch schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel hat) und dass wahre Menschlichkeit darin besteht, sich, wird man vor die Wahl gestellt, für den guten Teil in sich zu entscheiden. So könnten alle sich demokratisch an Wohlstand und Wissen beteiligen. Und im Hintergrund würde ein Gott agieren, der darauf achtet, dass alle ihre Freiheit genießen können - während er gleichzeitig dafür sorgt, dass jeder Mensch motiviert ist, sich für seine Menschlichkeit, für das Gute zu entscheiden.

Freiheit wird auch hier definiert darüber, sich für das Gute, für das Richtige, für die so ausgelegte Menschlichkeit zu entscheiden. Ein Utopia, in dem alle glücklich sein können, weil alle dazu motiviert werden, sich für das Gute zu entscheiden. Na, hast du auch schon eine Gänsehaut?

Das Spannende an diesem Thriller ist, dass Nuyen uns diese Zukunftsvision präsentiert, ohne selbst klar Stellung zu beziehen. Empfindet die Autorin dies als Dystopie oder Utopie? Wie steht eigentlich die Hauptperson Adam Eli zu dieser Aussicht? Und die anderen Charaktere, die wir kennenlernen? Wir bleiben im Ungewissen. Klar ist nur, dass im Hintergrund Mächte am Wirken sind, die genau dieses Utopia anstreben - und andere, die alles, wirklich alles tun würden, um so eine Zukunft zu verhindern. Welche Seite gewinnt? Wer weiß.



Psychologische Grausamkeiten

So viel also zum philosophischen Grundgerüst. Verpackt wird das alles in einen gut funktionierenden Thriller, der auch auf psychologischer Ebene unter die Haut geht. Jede Figur, die wir näher kennenlernen, schleppt ein schweres Bündel mit sich rum. Adam Eli krankt an seiner Liebe zu Willenya, die er nur Will nennt. Er überlebt von Tag zu Tag, doch seit er sie verloren hat, hat er aufgehört zu leben. Entsprechend braucht es nicht viel, damit Marigny, die zweite Hauptperson, ihn für die Suche nach Will einspannen kann. Er hat ein offensichtlich gestörtes Verhältnis zu seinem Körper und zu anderen Menschen. Ebenso wie Marigny, die frühe Kränkungen erfahren hat und sich heute zwar ihrer weiblichen Macht über Männer bewusst ist und diese einsetzt, trotzdem aber innerlich voller Zweifel bleibt. Viel Handlung erleben wir aus der Sicht dieser beiden. Besonders erstaunlich und ein offensichtliches Zeichen für Nuyens Talent ist dabei, dass ich Marigny Teilen stets Mitleid mit ihr hatte und sie sympathisch fand, während ich sie in Elis Abschnitten und aus seinen Augen anstrengend, ja beinahe abstoßend fand. Die beiden entwickeln schnell eine sehr merkwürdige Beziehung, die getränkt ist von Misstrauen und Anziehung, wobei letzteres insbesondere Eli zu schaffen macht. Denn er will treu zu Will stehen.

Auch andere Personen haben ihre Momente, selbst wenn es nur bezahlte Mörder im Auftrag der Bösen sind. Alle sind zutiefst menschlich, alle sind auf ihre Art so eigen, wie man es nur werden kann, wenn man das eine oder andere Trauma mit sich herumschleppt.

Und dann ist da Will, die wir fast nur aus der Perspektive von anderen erleben. Je mehr man über Will lernt, je näher wir sie kennenlernen, umso weniger wird sie als Person greifbar. Sie hatte eine furchtbare Kindheit, unvorstellbar für Leser wie mich, doch als junge Erwachsene widerfährt ihr beinahe noch Schlimmeres. Die Liebe von Adam Eli wirkt wie ein Weichzeichner, man will sie mögen, doch immer wieder steht man als Leser vor Will und fragt sich: Wer ist sie wirklich? Was will sie wirklich? Lügt sie? Kann sie überhaupt noch die Wahrheit sagen? Weiß sie eigentlich noch, was die Realität ist? Ist sie Opfer oder Täter? Kann man das überhaupt klar trennen?

Wo immer wir in diesem Thriller Menschen begegnen, begegnen wir auch Sexualität. Da ist Marigny, die schamlos flirtet, um an ihr Ziel zu kommen. Da ist der böse Schatten, der Adam und Marigny folgt, der in sexistischen Begriffen von seiner Auftraggeberin spricht und generell eine stark sexualisierte Sicht auf die Welt zu haben scheint. Da sind die Wissenschaftler, die auch vor Kinderpornografie nicht zurückschrecken, solange es der Sache dient. Und natürlich sind da Adam Eli und Willenya, die trotz aller Umstände die Finger nicht voneinander lassen können. Gibt es in diesem Roman eigentlich irgendeine Figur, die nicht in irgendeiner Form ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper hat? Ich glaube fast nicht.

Es ist spannend zu sehen, wie Nuyen hier einen Kommentar zum Sozialismus mit Erörterungen über sexuelle Gewalt verknüpft und daraus einen Tech-Thriller webt. Besonders spannend wird das, wenn man es vor dem Hintergrund politikwissenschaftlicher Konzepte wie der Biopolitik sieht. Wir kennen Sozialismus nur in Form von Diktatur und Diktatur ist dann besonders leicht zu stabilisieren, wenn der Staat Macht über den Körper hat, sowohl über den politischen als auch über den menschlichen Körper. Nichts richtet so viel Schaden in der Seele der Menschen an wie die grausame Schattenseite der Sexualität. Dabei muss es gar nicht um den Geschlechtsakt als solchen gehen, wie wir auch in diesem Buch eindrücklich erfahren. Es ist eine düstere Welt, in die uns Nuyen wirft, wo selbst die zarteste, unschuldigste, aufrichtigste Liebe machtlos erscheint gegen die Grausamkeit der Umgebung.



Ein paar kritische Gedanken

Um zum Ausgangspunkt meiner Rezension zurückzukommen: Schon Macaulay hat in meiner Auffassung die Menschen falsch definiert und das geschieht auf exakt die gleiche Art und Weise im Buch. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Nuyen selbst die Auffassung nicht teilt, doch ich kann nur mit dem philosophischen Konzept ringen, welches mir präsentiert wurde, also nehme ich dies als Gegner: Ja, wir Menschen müssen uns tagtäglich mit Entscheidungen auseinandersetzen, die im Kern auf gut oder böse hinauslaufen. Ja, es wäre wünschenswert, wenn immer die Entscheidung für das Gute fallen würde. Aber: So sind wir Menschen nicht gestrickt. Das Böse gehört zu uns. Ganz essentiell zu uns. Wir sind triebhafte Menschen, von Emotionen, Hormonen, von chemischen Reaktionen gesteuert. Wir haben unsere Vernunft und können lernen, unsere negativen Gefühle zu kontrollieren. Doch wenn wir diese negativen Gefühle, die Triebe, die uns unmenschlich erscheinen lassen, unterdrücken, werden wir krank. Neid, Eifersucht, Geltungsdrang, der Wunsch, sich von anderen abzuheben, all das ist ein natürlicher Teil von uns. Weder ein christlicher Gott noch ein moderner Gott (welche Form auch immer er annehmen würde) haben das Recht, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen. Was im dritten Teil in Nuyens Thriller entworfen wird, wäre für mich eine Dystopie.

Zum Abschluss will ich doch noch einige klassische Rezensions-Bemerkungen anbringen: Der Schreibstil ist wundervoll, zugleich eindringlich, empathisch und an passenden Stellen angemessen technisch. Die Figuren sind authentisch und menschlich und klar voneinander zu unterscheiden. Die Handlung bleibt bis zum Schluss nachvollziehbar, selbst wenn man im Dunkeln tappt, es geschieht viel, aber nie zu viel. Trotzdem bin ich am Ende mit ein paar Fragen zu viel zurückgeblieben. Ich muss nicht jede Charaktermotivation auf dem Silbertablett serviert bekommen, doch wenn ich am Ende bei jedem einzelnen Charakter zweifle, ob ich seine Motivation tatsächlich kenne und verstanden habe, bin ich unzufrieden. Die Motivation aller unwichtigen Personen ist so schlicht wie einsichtig. Die Motivation aller wichtigen Personen ist so komplex wie undurchsichtig. Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Autorin hier ein wenig offener gezeigt hätte.



FAZIT:

Der Thriller "Heartware" von Jenny-Mai Nuyen ist nicht nur eine atemberaubend spannende Suche eines jungen Mannes nach seiner Jugendliebe, sondern eine philosophisch und psychologisch fundierte Frage danach, was es heißt, Mensch zu sein. Während im Hintergrund abstrakte Mächte, von denen man bis zum Schluss nicht weiß, wer gut und wer böse ist, die philosophische Seite der Frage aushandeln, bleibt der Fokus auf Adam Eli und seiner geliebten Willenya, um in die Tiefe der Psyche hinabzusteigen. Heraus kommt ein Roman, der sehr viel richtig mach und am Ende nur ein wenig zu viele Frage unbeantwortet lässt, um rundum gelungen zu sein. Ich spreche eine uneingeschränkte Kaufempfehlung aus, denn das Buch ist gleichermaßen lehrreich wie unterhaltsam.

Veröffentlicht am 04.08.2017

Die Abgründe der menschlichen Psyche

Murder Park
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Die Prämisse für diesen Thriller ist ein bekanntes, immer wieder gerne genommenes Konzept: Eine Anzahl von unschuldig wirkenden Personen sitzen auf einer Insel, einem Berg oder anderswo für einige wenige ...

Die Prämisse für diesen Thriller ist ein bekanntes, immer wieder gerne genommenes Konzept: Eine Anzahl von unschuldig wirkenden Personen sitzen auf einer Insel, einem Berg oder anderswo für einige wenige Tage fest, vollständig von der Außenwelt abgeschnitten, und ein Mörder geht um. Schon in Agatha Christies And Then There Were None lesen wir davon, ähnlich funktioniert auch der Edgar-Wallace-Film Das Indische Tuch. Auch in der Manga-Reihe Detektiv Conan gehört diese Idee zum Grundkonzept, das regelmäßig auf neue Weise verarbeitet wird. Entsprechend vertraut bin ich damit und ich weiß, dass ich es sehr, sehr gerne lese.

Doch gerade weil das Konzept so bekannt ist, muss man sich als Autor etwas einfallen lassen, um trotzdem noch etwas Neues, Spannendes zu erzählen. In diesem Falle würzt Jonas Winner die Geschichte damit, dass einst ein Serienmörder als Triebtäter unterwegs gewesen ist auf dem Gelände von Zodiac Island. Entsprechend erfahren wir recht viel über die Sexualität der zwölf Protagonisten, gerade bei Paul Greenblatt, aus dessen Sicht wir das meiste erleben, dreht sich sehr viel um Sex. Die Morde der Vergangenheit sind besonders deswegen verstörend, weil die sexuelle Perversion dahinter so bizarr und abstoßend ist. Das zu beschreiben gelingt dem Autor fantastisch. Ich habe mich tatsächlich beim Lesen mehrfach sehr unwohl gefühlt.

Von diesen verstörenden Details erfahren wir vor allem auch durch Interviews, die das Buch durchziehen. Von Anfang bis zum Ende bekommen wir Interviews aller zwölf Opfer mit einem Psychiater zu lesen, die vor dem Beginn der Handlung spielen. Das soll dem Leser Aufschluss über die Charaktere geben, Hintergrundinformationen vermitteln und über das Beziehungsgeflecht aufklären. Generell ist das gut gemacht und es gefällt mir auch, doch leider empfand ich hier – wie auch im Rest der Geschichte -, dass die Dialoge nicht vollständig überzeugen. Winner bemüht sich darum, die Personen sprechen zu lassen, wie Menschen wohl sprechen – Sätze sind grammatikalisch nicht korrekt, oft unterbrechen sie sich selbst, Gedanken werden gestammelt, man wiederholt sich mehrfach, wenn man ein Thema umgehen will. Während mir das eingangs positiv aufgefallen ist, habe ich doch schnell festgestellt, dass alle exakt auf dieselbe Art und Weise reden. Alle zwölf Personen sprechen so, der einzige Unterschied besteht darin, dass die Männer eine geringfügig härtere Ausdrucksweise wählen. In meinen Augen sollte man sich als Autor darum bemühen, zumindest den wichtigsten Personen auch durch ihre Sprechweise etwas Eigenes, Persönliches zu geben. Abgesehen davon ist der Schreibstil jedoch gut, teilweise sogar auf eine Art und Weise plastisch, die uns unaufdringlich den Horror in die Glieder treibt. Das vermisse ich oft bei Thriller, umso mehr fiel es hier positiv auf.

Während des Lesens der eigentlichen Geschichte jedoch habe ich mich streckenweise ein wenig gelangweilt. Es geht also ein Mörder um, anfangs zweifelt man noch, ob es real ist, irgendwann ist man sich sicher, dass es real ist. Die Opfer stellen fest, dass das Hotel, in dem sie untergebracht sind, diverse Fallen, geheime Vorrichtungen und andere Überraschungen bereithält, die es dem Mörder einfach machen, unerkannt und unbemerkt sogar in abgeschlossene Zimmer zu gelangen. Ein Mord in einem verschlossenen Raum, eines der schönsten Rätsel in Krimis! Schade, dass mindestens eine der Lösungen exakt so, aber wirklich bis aufs Haar in „Das Indische Tuch“ vorgekommen ist und generell eine der beliebtesten Fallen darstellt. Aufgrund dieser Ähnlichkeit fühlte ich mich auch wieder an Agatha Christies Roman erinnert, an dessen Auflösung am Ende und wer tatsächlich noch übrig war. Sofort schlichen sich bei mir Zweifel über das Gelesene ein.

Mit Paul Greenblatt haben wir zudem einen eher unzuverlässigen Erzähler. Das bemerkt man recht schnell, da er immer wieder kurze Gedanken und Traumbilder hat, die man auch Halluzinationen nennen könnte, die mit der Realität wenig zu tun haben. Als Leser weiß man daher nie, woran man wirklich ist – und ob nicht, obwohl wir alles aus seiner Sicht erleben, am Ende er gar der Mörder ist. An sich ist das clever gemacht, da es zumindest mich ständig in Hab-Acht-Stellung gehalten hat, doch die Art, wie um Paul zunehmend ein riesiges Mysterium, eventuell gar ein schreckliches Geheimnis konstruiert wurde, hat mich gegen Ende dann doch gestört. Es ist in Ordnung, dem Leser zu sagen, dass Paul eventuell selbst nicht weiß, was ihm geschieht, aber wir müssen das nicht in derartiger Häufigkeit lesen.

Die Aufklärung erfolgt am Ende in zwei Schritten, einerseits wird aufgedeckt, wer die zwölf Opfer auf der Insel umbringt, andererseits erfahren wir endlich die Wahrheit über den Serienmörder von vor zwanzig Jahren, der überhaupt erst Anlass gegeben hatte, den Vergnügungspark in den titelgebenden „Murder Park“ umzugestalten. Ich gebe zu, das Konzept hinter dem Murder Park hat mich von Anfang an zweifeln lassen, ich kann mich nicht vorstellen, dass das in der Realität umsetzbar wäre. Die Aufklärung dazu tat ihr Übriges. Gewiss, dies ist Fiktion und da kann man die Regeln durchaus mal biegen, aber das hier war für mich leider doch ein wenig zu weit hergeholt.

Wirklich spannend ist eigentlich das Porträt von Jeff Bohner, dem Serienmörder, der einst drei Frauen umgebracht hat. Als Inspiration für den Murder Park spielt auch er eine große Rolle und wir steigen ziemlich tief in die Abgründe der menschlichen Psyche und Sexualität, um mehr über ihn, seine Opfer und die Betroffenen zu erfahren. Das ist spannend, da hat das Buch seine Stärken. So haarsträubend es stellenweise auch erscheinen mag, sexuelle Perversion ist ein spannendes Thema, in dem es leider auch in der Realität keine Grenzen gibt. Die Wahrheit, die hier am Ende ans Licht kam, war überraschend, gut inszeniert, aber leider nicht vollständig gelungen in meinen Augen. Die Überraschung ist für den Schluss vorgesehen und so hatte der Autor keine Zeit mehr, den Bösewicht ebenso tiefgründig zu analysieren wie die übrigen Figuren. Seine Motive, sein Trieb werden angedeutet, ich verstehe sie auch, doch ein klein wenig mehr Information hätte mich dennoch gefreut. Schon alleine, weil der Autor ganz offensichtlich begabt darin ist, diesen Aspekt des Menschen anschaulich darzustellen.

Wir bekommen hier also eine spannende Triebtäter-Analyse vor dem Hintergrund einer „And Then There Were None“-Situation. Während ich letzteres wirklich gerne mag, muss ich doch sagen, wurde es in diesem Thriller nach etwa der Hälfte etwas zäh und ich hoffte beinahe, dass möglichst bald alle sterben, damit es endlich mit dem interessanten Teil weitergehen kann. Der alte Fall des Serienmörders hingegen ist spannend, gerade weil er uns wie ein Puzzle präsentiert wird. Auch hier wäre noch mehr möglich gewesen, doch es ist definitiv die Stärke in diesem Roman.


Fazit:

Der Thriller „Murder Park“ von Jonas Winner nimmt das bekannte Konzept einer abgeschiedenen Gruppe von Menschen, die sich einem unbekannten Mörder gegenüber sehen, um vor diesem Hintergrund einen zwanzig Jahre alten Serienmörderfall wie in einem Puzzle zu präsentieren. Während das aktuelle Geschehen stellenweise recht zäh ist, sind die Informationen, die wir über den Triebtäter von damals, die Opfer und die Umstände erfahren, höchst spannend. Der Schreibstil ist plastisch, so dass abstoßende Szenen tatsächlich Unwohlsein auslösen. Leider sind viele kleine Details nicht ganz so gut ausgearbeitet, wie es diesem talentierten Autor sicher möglich gewesen wäre, so dass ich am Ende nicht vollständig überzeugt bin. Trotzdem ist das Buch unterhaltsam genug, dass ich mit gutem gewissen eine Kaufempfehlung aussprechen kann.