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Veröffentlicht am 27.10.2023

Wann hat man ein Kind verloren?

Endstation Malma
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„Endstation Malma“ ist mein erstes Werk von Alex Schulman, und das Cover mit dem halben, übergroßen Adler hat mich zuerst verwundert, nach der Lektüre des Romans jedoch überzeugt, denn der Adler hat eine ...

„Endstation Malma“ ist mein erstes Werk von Alex Schulman, und das Cover mit dem halben, übergroßen Adler hat mich zuerst verwundert, nach der Lektüre des Romans jedoch überzeugt, denn der Adler hat eine wichtige Funktion.
Stilistisch ist dieses Oeuvre brillant, fein und ausdrucksstark. Das Erzähltempo ist dem des Zuges angepaßt, der ins schwedische Malma fährt, wo die Schicksale der drei Hauptakteure miteinander verbunden sind. Die Spannung steigt kontinuierlich, denn man ist gespannt auf die Auflösung, die überraschend ganz zum Schluß kommt und den Leser mit offenem Mund zurücklässt. Das wird auch erreicht, indem durch drei Handlungsperspektiven hin - und hergesprungen wird. Somit muß man immer weiterlesen und ist gefangen in der Thematik.
Die Hauptprotagonistin Harriet fährt mit ihrem Vater nach Malma, ebenso Oskar kurz vor der Trennung von seiner Frau. Yana sucht anhand eines Fotoalbums nach den Spuren ihrer Familie in Malma. Was werden die drei Personen dort finden?
Harriet ist besonders intensiv und vielschichtig beschrieben. Durch die Trennung der Eltern, als sie ein Kind ist wird sie stark verunsichert, ist zunehmend verletzlich und in sich gekehrt. Hier ist ein Ankerpunkt zum Nachdenken über die eigene Kindheit, denn was macht die Androhung der Scheidung der Eltern mit der Psyche eines Kindes? Das ständige Streiten der Eltern führt zur Traumatisierung, und lässt das Kind verzweifeln. Wie wirkt sich das in der Entwicklung auf die verlassene Herriet aus, zumal der Vater, bei dem sie aufwachst, gehemmt und zurückgezogen damit klarzukommen versucht?
Die Phrase „ You are not alone“ zieht sich wie eine Art Mantra durch das Werk und verdeutlicht die verzweifelte Suche nach Sicherheit und Behütetsein.
Harriet als erwachsene Frau ist ständig auf der Suche, das Rätsel ihres Lebens zu lösen. Sie ist sehr egoistisch, überaus spontan und unberechenbar in ihren Handlungen, man kann sagen „komplett durchgeknallt“. Als Mutter gibt sie ihrer Tochter kein gutes Beispiel, und wir stellen uns die Frage des Einflusses von Vergangenem auf das Leben. Gibt es so etwas wie einen Fluch? Oskar, ihr Ehemann, hält es irgendwann nicht mehr mit ihr aus, zumal er unsicher und auch leicht depressiv ist.
Schulman ist ein Meister im erzählen zwischenmenschlicher Probleme. Folglich ist dieses Werk gut geeignet für Personen, die sich dafür interessieren. Da es immer mehr Scheidungskinder gibt, die ihren Eltern Probleme bereiten könnten, muß hinterfragt werden: „Wann weiß man, dass man ein Kind verloren hat?“
Mich hat das Werk sehr beeindruckt und wird mir lange in Erinnerung bleiben.

Veröffentlicht am 03.09.2023

Ungeklärte Todesfälle

Mit kalter Präzision
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Tsokos hat mich schon seit einiger Zeit fasziniert. Sein Name steht in übergroßen Lettern auf den Covern seiner Thriller und ist als Symbol und auch als Synonym für Spannung zu sehen.
Der Titel „Mit kalter ...

Tsokos hat mich schon seit einiger Zeit fasziniert. Sein Name steht in übergroßen Lettern auf den Covern seiner Thriller und ist als Symbol und auch als Synonym für Spannung zu sehen.
Der Titel „Mit kalter Präzision“ passt perfekt, besonders zu dem eiskalten Serienkiller mit rechtsmedizinischer Expertise, dessen Charakterisierung mir besonders gefallen hat: sehr angsteinflößend, sehr beherrscht, präzise und regungslos, mit eiskalten Augen, welche die Farbe wechseln. Aber er kann auch ausflippen! Sehr gut hat mir auch die Charakterisierung der deutsch-chinesischen Fachärztin für Rechtsmedizin gefallen, die das Ableben der Frau eines Schönheitschirurgen untersuchen soll. Dabei findet sie Ungereimtheiten und stößt auf weitere Fälle. Alles Morde? Dabei gerät sie in das Visier eines Serienkillers.
Dr. Sabine Yao handelt sehr überlegt und gewissenhaft, auch nach Dienstschluß. Es gelingt ihr, aus allerkleinsten Merkmalen bei Sektionen die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Es ist erstaunlich, was bei „cold cases“ die Wissenschaftler noch Jahre später als Nachweise erbringen können.
Sprachlich ist das Werk meist flüssig und leicht zu lesen. Allerdings dominieren im Ermittlungsumfeld oft lateinische Fachtermini, welche dem Leser aber oft erläutert werden. Somit habe ich sprachlich, aber auch viel über Pathologie hinzugelernt. Zeitweise, wenn es um das Thema Sektion geht, hätte der Autor aber weniger langatmig referieren können.
Vom Aufbau her hat mir der Prolog sehr gefallen, denn er erzeugt Spannung und versucht, den „perfekten“ Suizid darzustellen.
Der innere Monolog einzelner Figuren wird in einer anderen Schrifttype gedruckt, was die Charaktere von verschiedenen Seiten toll beleuchtet.
Am Anfang ist das Werk oft recht deskriptiv, wird aber durch die recht kurzen Kapitel aufgelockert und nimmt gen Ende besonders an Fahrt und Spannung zu.
Hier hat Tsokos wieder einmal gezeigt, wie er die Leserschaft in seinen Bann ziehen kann. Tolle Unterhaltung und Spannung!

Veröffentlicht am 15.07.2023

Leben in Deutschland

Das Licht zwischen den Schatten
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Michaela Becks historischer Roman ist ein instruktives und mitreißendes Leseerlebnis. Das Cover jedoch ist sehr neutral und nichtssagend, also kein Hingucker im Bücherladen.
Die über 800 Seiten hatten ...


Michaela Becks historischer Roman ist ein instruktives und mitreißendes Leseerlebnis. Das Cover jedoch ist sehr neutral und nichtssagend, also kein Hingucker im Bücherladen.
Die über 800 Seiten hatten mich zunächst abgeschreckt, aber der sehr eindrucksvolle und anschauliche Schreibstil hat mich dann gefesselt. Natürlich besonders die Thematik!
Wir begleiten das Leben von Konrad, Brigitte und André über acht Jahrzehnte. In einzelnen Kapiteln wird nicht chronologisch, sondern im Wechsel von deren Schicksal berichtet. Zuerst geht es um Konrads Schicksal; geboren im Jahre 1919 ist er stark von der Nazizeit beeinflusst. Brigittes Geschichte beginnt 1950. Sie flüchtet mit ihren Eltern aus der DDR in die BRD.
André verbrachte seine Kindheit in der DDR, wurde adoptiert, sucht jedoch nach seinen Wurzeln. Über ihn wird ab 1976 erzählt. Er ist ein sehr talentierter Kunstspringer.
Michaela Beck hat zu derem Leben intensiv und umfangreich die historischen Hintergründe recherchiert. Die Fakten sind emotional und erschreckend, wobei die Autorin ihre Protagonisten sehr differenziert, manchmal auch recht klischeehaft, beschreibt. Es geht, unter anderem, um Euthanasie, Krieg, Nazitum, Vertuschung und Verfolgung sowie um RAF-Anhängertum.
Besonders haben mich die geschichtlichen Fakten interessiert, und die Autorin schafft es, das Leben der drei Hauptakteure immer näher zusammenzubringen. Obwohl sehr ausführlich berichtet, schafft das Werk, den Leser zu flashen.
Mit dieser deutschen Familiengeschichte hat die Autorin ein eindrucksvolles Buch geschrieben, das ich für historisch interessierte Personen empfehle.

Veröffentlicht am 27.06.2023

Morde in Sommerhitze

Sommersonnenwende
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Das Cover mit der sehr intensiven Farbgebung in rot, orange und gelb symbolisiert das brennend heiße Klima in einem Stockholmer Vorort und passt sehr gut zu der brisante Problematik.
Die Dynamiken zwischen ...

Das Cover mit der sehr intensiven Farbgebung in rot, orange und gelb symbolisiert das brennend heiße Klima in einem Stockholmer Vorort und passt sehr gut zu der brisante Problematik.
Die Dynamiken zwischen den wohl elaborierten Charakteren entwickeln sich rasant, und die Autoren schaffen den beiden Protagonisten Ecken und Kanten, die sie besonders und ungemein nah machen.
Der Kriminalkommissar, Thomas Wolf, und die Journalistin, Vera Berg, haben es im privaten wie auch beruflichen Bereich nicht ganz leicht. Er, ein ehemaliger Neonazi, aber auch Familienvater, Ehebrecher und traumatisierter Soldat, ist auf der Suche nach einem Serienmörder, der sich als Opfer Frauen mit Migrationshintergrund vorgenommen hat. Sie sucht nach einer reißenden Story zu diesen Mordfällen, muß aber ihrem kriminellen Ex-Freund entkommen. Nach einer Weile interagieren beide. Der Krimi entwickelt nach einiger Zeit einen großen Sog und eine knisternde Spannung mit verschiedenen Handlungssträngen. Die Ermittlungsansätze sind undurchsichtig und abwechslungsreich. Gefühle und Atmosphäre werden in flüssigem und fesselndem Schreibstil perfekt rübergebracht, wobei der Spannungsbogen konstant erhalten bleibt. Somit schafft man mit Begeisterung die 586 Seiten.
Der Fall endet schlüssig, aber es bleiben noch Fragen offen, die möglicherweise in einem Folgeband aufgegriffen werden.
Das Autorenduo Engman und Selåker hat einen mitreißenden Krimi erarbeitet. Es gefällt mir besonders, dass auch politische Probleme aufgegriffen werden sowie Fragen, die das soziale Gefüge infrage stellen.
Also, Spannung pur für alle Krimi-Fans!

Veröffentlicht am 27.06.2023

Einfluss von Familienvergangenheit

Schönwald
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Das etwas biedere Cover leitet sehr gut in dieses Familienepos ein. Es zeigt eine sehr gut distinguierte Ehepaar, wahrscheinlich Hans-Harald, den Staatsanwalt a.D., der immer im „Versteck“ lebt und alles ...

Das etwas biedere Cover leitet sehr gut in dieses Familienepos ein. Es zeigt eine sehr gut distinguierte Ehepaar, wahrscheinlich Hans-Harald, den Staatsanwalt a.D., der immer im „Versteck“ lebt und alles schlichten möchte, sowie Ruth, seine Gattin, die auch ein nach außen perfektes Bild abgibt, jedoch immer alles unter den Teppich kehrt, obwohl sie über den Verlauf ihres Lebens unglücklich ist.
Dieses gekünstelte, perfekte Verhalten, das (Ver)Schweigen, geben sie unbewusst an ihre drei Kinder weiter, die zwar sehr unterschiedlich sind, aber ähnlich auf große Konflikte reagieren.. Als die Tochter Karolin einen queeren Buchladen in Berlin eröffnet, kommen die Eltern sowie die Brüder, Chris und Benni, zusammen. Internetblogger greifen das Geschäft mit Farbbeuteln an und werfen der Familie vor, mit dem „Nazigeld“ des Großvaters ein erfolgreiches Leben aufgebaut zu haben. Es kommt zum „Knall“, und das wackelige Lügenkonstrukt gerät ins Wanken. Quälende Geheimnisse treten zutage.
Die Dramatiken zwischen den Charakteren, die sehr exakt und individuell gezeichnet sind, werden offenbar. Alle sind sehr realistisch und mit psychologischem Einfühlungsvermögen charakterisiert.
Die offenen Konflikte innerhalb der Familie unterliegen einer Zerreißprobe , und es fragt sich, ob die Familie an ihren Geheimnissen zerbrechen wird. Viele politische und gesellschaftliche Themen werden auch thematisiert. Der sehr stark aktuelle Bezug wirkt manchmal etwas konstruiert, ebenso wie eine Überfrachtung mit brennend heißen Themen wie, unter anderem, Bezug zur Trump-Bewegung, Me-Too Movement, Missbrauch und Homosexualität.
Aber der Roman ist sehr unterhaltsam und abwechslungsreich, besonders durch Perspektivwechsel.
Der Spannungsbogen wird geschickt aufgebaut, ist temporeich und humorvoll, und der Leser muß sich fragen, ob die Nazi-Vergangenheit oder die Familienproblematik das Leitthema sind. Der Showdown zum Schluß hat mir gut gefallen.
Der anschauliche, mitreißende Schreibstil schafft den Charakteren Ecken und Kanten, allerdings versteckt hinter den Halbwahrheiten.
Das sehr umfangreiche Werk regt zum Nachdenken an, denn es geht um Identifikation, Bewusstwerdungsprozesse und Erklärungen, warum wir sind, wie wir sind.
Zwar gibt es einige Längen, aber der Roman ist ein sehr unterhaltsames, kritisches Familienportrait.