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Veröffentlicht am 22.09.2016

Für beide Eltern

Stresst ihr noch oder liebt ihr schon?
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Heute werden Eltern bemitleidet. Kinder stressen, schreien, machen Dreck und kosten Nerven. Dass Kinder auch schön sind und Spaß machen wird schnell vergessen. Eltern stressen zwischen Nachwuchs und Karriere, ...

Heute werden Eltern bemitleidet. Kinder stressen, schreien, machen Dreck und kosten Nerven. Dass Kinder auch schön sind und Spaß machen wird schnell vergessen. Eltern stressen zwischen Nachwuchs und Karriere, Kinder hetzen zwischen Elternteilen, Nachmittagsprogrammen und sonstigen Problemen. Familie, das lernen wir schnell, ist Stress pur. Die Autoren von Stresst ihr noch oder liebt ihr schon haben dieses Problem erkannt und schreiben dagegen an, denn Familie kann erfüllender Lebensinhalt sein, bereichern, ohne zu erdrücken.
Dabei erzählen Alexa Hennig von Lange und Marcus Jauer vor allem ihre Geschichte. Die Geschichte einer Familie, in der nicht alle Kinder von beiden Elternteilen sind. Eine wahre Geschichte, die hinter den Blickwinkeln der Protagonisten gefärbt wird. Als die beiden zueinander fanden hatte Alexa bereits zwei Kinder von zwei Vätern und Marcus war überzeugter Junggeselle. Binnen kürzester Zeit änderte sich für beide alles. Partnerschaft, Zusammenziehe, Erziehung. Punkte die hier unter der Sichtweise einer modernen Familie beleuchtet werden. Darf er miterziehen, wo er doch nicht der „Vater“ ist? Kann sie loslassen, wenn sie sich doch seiner Unterstützung sicher sein will? Die erste Phase der hier aufgezeigten Familie befasst sich vor allem mit solchen Punkten.
Der Stil ist dabei locker und ungezwungen. Wie bei einem abendlichen Plausch und ohne Wertung oder Belehrung lesen sich die Geschichten andekdotenhaft. Leichte Kost also und gut nachzuvollziehen.
Dabei wird die Besonderheit des Alltäglichen herausgearbeitet. Angefangen bei Kochen und Haushalt, über Arbeit und Termine zu Freiraum und Nähe. Dass hierbei auch die Ausgangssituationen der beiden eine Rolle spielen und nicht alles Friede Freude Eierkuchen ist, fand ich sehr realistisch. Hier wird kein Allheilmittel prognostiziert, auch Alexa und Marcus stressen sich. Der Unterschied ist, wie sie damit umgehen und was sie daraus machen. Entwicklung, statt Stillstand. Reflexion, statt Verteidigung der eigenen Fehler.
Die zwei Kinder, die Alexa in die Beziehung bringt werden im Lebenslauf der Familie bald durch drei gemeinsame ergänzt. Hier ist vor allem das Kapitel, in dem Marcus erklärt, dass er sich auch als Vater der anderen zwei Kinder versteht und dementsprechend handelt, aufschlussreich. Ebenfalls interessant fand ich dazu die Absätze zum leiblichen Vater des ersten Kindes und des Einflusses der Situation auf Mutter, Kind und die restliche Familie. Dieser Teil hat beispielsweise erfrischend wenig mit Marcus zu tun, es geht hier vor allem um Alexas Blick auf die Erziehungssituation. Natürlich ist er hier auch nicht außen vor, aber in diesem Moment ist schlicht der Anspruch ein anderer und so deckt das Buch einen weiten Bereich ab und wird nicht zum Spielball zwischen zwei Partnern.
Schön ist hierbei auch, wenn die unterschiedliche Sicht auf die gleichen Begebenheiten erkennbar ist. Auch in einer funktionierenden Partnerschaft existiert ein Bild des anderen in unserem Kopf, das keinesfalls absolut mit dessen Selbstwahrnehmung übereinstimmen muss. Nicht zuletzt aber fand ich den Umgang der Eltern mit den Kindern hochinteressant. Dass beide auch hier versuchen, neue Blickwinkel einzunehmen, finde ich bemerkenswert. In der Pubertät nicht damit zu hadern, dass das eigene Kind sich der elterlichen Fremdbestimmung entzieht und eigene Wege geht, sondern dies als Chance zu verstehen, Neues zu erfahren, ist eine interessante Einstellung.
Erholsam fand ich auch, dass das Buch die Konzentration so breit fächert. Es geht hier allgemein um Familie und Zusammenhalt. Damit ist das Buch zwar mehr Erfahrungsbericht als Ratgeber, aber erholsamer Weise wirklich einer, der sich sowohl an Mutter als auch Vater zu gleichen Teilen richtet. Und dabei wird der Fokus nicht auf das leider alltägliche Thema der Aufgabenverteilung gelegt, sondern ganz unterschiedlichen Bereichen gewidmet. Zeit mit den Kindern, Veränderungen, die eine Familie mit sich bringt, Partnerschaft und auch der Zeit für sich selbst.

Veröffentlicht am 22.09.2016

Toller Hintergrund, viel Entwicklung

Goddess of Poison - Tödliche Berührung
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Twylla lebt auf dem Schloss und muss jeden Monat Gift trinken. Sie stirbt davon aber nicht, denn sie ist die wiedergeborene Tochter der Götter. Darum wird sie den Prinzen heiraten, darum darf sie niemand ...

Twylla lebt auf dem Schloss und muss jeden Monat Gift trinken. Sie stirbt davon aber nicht, denn sie ist die wiedergeborene Tochter der Götter. Darum wird sie den Prinzen heiraten, darum darf sie niemand berühren. Denn ihre Berührung tötet. Twylla, einst Tochter der Sündenesserin, hat nun eine neue Bestimmung, die Rettung des Reiches. Als der Prinz von langer Reise zurückkommt und ihr gleichzeitig ein neuer Wächter zur Seite gestellt wird, ändert sich alles. Plötzlich versucht der Prinz sie auf seine Seite zu ziehen, denn er plant etwas. Und auch der Wächter verdreht Twylla mit seinem Grinsen den Kopf und pflanzt dort Gedanken ein, die sie gar nicht haben dürfte. Und hinter allem braut sich eine Gefahr auf, die niemand erahnen kann.
Die ersten Seiten des Buches waren gar nicht so leicht zu lesen. Twylla ist sehr emotionslos, in sich gekehrt, passiv und naiv. Sie lässt alle, allen voran die Königin, mit ihr machen, was sie will. Widerspruch wagt sie nie zu geben – selbst wenn sie überzeugt ist, dass es falsch ist, was sie tun soll. Dass die dahinter aber schlicht verängstigt ist und ihre Umwelt beschützen will, zeigt sich nicht nur in den Gedanken an ihre jüngere Schwester, sondern auch, als sie versucht einen in Ungnade gefallenen Adligen vor der Königin zu retten.
Im Grunde ist Twylla nämlich weder dumm noch gemein, viel eher ist sie hoffnungslos. Die Einsamkeit hat sie gefügig gemacht und die Macht der Königin steht über allem. Als der Prinz und ihr neuer Diener Lief an diesen Machtverhältnissen zerren – jeder auf seine Weise – traut sich Twylla wieder, ihre eigenen Gedanken zu festigen. Sie sucht sich unter dem Bild der Göttlichen, das für die Öffentlichkeit aufgestellt wurde – an das sie mittlerweile selbst geglaubt hat. So ist es kein Wunder, dass sie ihre Kindlichkeit schnell ablegt und schließlich offenbart, wie viel schon in ihr gebrodelt hat.
Diese Adoleszenzentwicklung erfolgt aber nicht im Hinblick auf die Königin als Herrscherin und Vormund, sondern auch in Bezug auf Twyllas leibliche Mutter und ihre Erinnerungen an sie. Diese durchziehen das Buch gemeinsam mit den unterschiedlichen Speisen, die für die begangenen Sünden nach dem Tod gegessen werden müssen. Diese kulinarische Verwebung von tätlicher Sünde und Maßlosigkeit wie Genuss prägt Twyllas Verständnis von Richtig und Falsch und ihr eigenes Verhältnis zur Nahrung. Wie auf der Trauerfeier die Gerichte für die Sünden stehen, werden sie für Twylla zur Sünde selbst. Stets beschäftigt sie dabei auch die Frage, was zu ihrer Beerdigung gegessen werden müsste.
Ein interessantes Beispiel für Taten und ihre Folgen. Auch Twylla lernt, dass manche Taten die Folgen wert sind, Schuld und Sünde aber unterschiedliche Dinge. Das alles bietet einen gut durchdachten Hintergrund für ihre eigene Geschichte, die Geschichte einer Aufklärung und eines Erwachens in mehrfacher Hinsicht. Denn nicht nur Twylla erwacht endlich als sie selbst, auch eine undenkbare Gefahr.
Faszinierend gelöst finde ich hier auch das Motiv der zwei Männer, die um eine Frau buhlen. Dabei zeigen der Prinz und Lief Ähnlichkeiten wie Gemeinsamkeiten und verbergen beide doch vor Twylla entscheidendes. Schade fand ich, dass der Prinz dabei weniger Raum erhält und oft schneller abgefertigt wird. Ihre Wahl am Ende kann ich euch nicht verraten – nur so viel: Ich war beeindruckt, dass ausgerechnet die anfangs so naive Twylla solch eine reife Entscheidung fällen kann.
Goddess of Poison hat mich nach den ersten Seiten schnell in seinen Bann gezogen. Mit Twyllas Entwicklung verändert sich der Stil und auch die Spannung arbeitet auf mehreren Ebenen. Die tolle Hintergrundgeschichte, aus der so viel herauszuarbeiten wäre, finde ich schlicht genial und ich bin sehr gespannt auf den nächsten Teil.

Veröffentlicht am 22.09.2016

Tolles Buch

Die Flucht
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Aus der Sicht eines Kindes erzählt Die Flucht die Geschichte des Flüchtens vor dem Krieg. Angefangen bei den geruhsamen Tagen in der Heimat über den Ausbruch des Krieges, den Verlust von Familienangehörigen ...

Aus der Sicht eines Kindes erzählt Die Flucht die Geschichte des Flüchtens vor dem Krieg. Angefangen bei den geruhsamen Tagen in der Heimat über den Ausbruch des Krieges, den Verlust von Familienangehörigen zu Angst, Hoffnung, Suche und Sehnsucht. Namenlos bleibt dabei sowohl das Heimatland, als auch das ominöse Land mit den Bergen, in das die Familie fliehen will. Verschieden Wege müssen dabei passiert werden, der Besitz schrumpft, die Angst steigt.
Doch die Flucht ist weder ein hoffnungsloses noch ein utopisches. Wächter stellen sich der Familie in den Weg, dunkle Hände „helfen“. Das Meer wird zur Ort der Monster, das ersehnte Ziel zum Sinnbild des Friedens, magisch verklärt. Ohne, dass es je erreicht würde. Es ist der Weg, um den es hier geht. Die Strapazen und Geschichten des Fliehens, der Glaube der Kinder an die Eltern und Sorge der Eltern, die für ihre Kinder stark sind. Dieser Punkt hat meine Kleine sehr bewegt, die Mutter, die lacht, solange die Kinder wach sind, um ihnen die Angst zu nehmen, während sie selbst voller Sorgen ist.
Francesca Sanna hat ihrem Buch viele Freiheiten gelassen. Auch wenn die Zeichnungen deutlich ein südliches Land als Ausgangspunkt haben – durch eine Frau mit Kopftuch mag auch ein muslimisches angedeutet werden – und das ominöse Land des Friedens mit Bergen und Tieren sehr an Europa erinnert, fehlt die Benennung. Genauso gut lässt sich die Geschichte damit auf andere Fluchtgeschichten übertragen. Die Botschaft des gefährlichen und weiten Weges, die Strapazen und Entbehrungen sind klar. Und durch die Wächter wird auch deutlich, dass die Geflüchteten keinesfalls überall mit offenen Armen empfangen werden.
Interessant finde ich dabei, dass die Familie die unterschiedlichsten Verkehrsmittel benutzt. Sie läuft zu Fuß, fährt mit dem eigenen Auto, versteckt sich auf Ladeflächen, radelt, nimmt das Boot und den Zug. Auch der Zeit wird ein wichtiger Bereich zugestanden. Die Reise ist lang – räumlich wie zeitlich. Um sehr schwierige Themen macht das Buch aber einen Bogen. Um Auffanglager und tödliche Unfälle während der Flucht beispielsweise. Teilweise erscheint die Reise wie ein großes Abenteuer. Dafür ist zum einen der kindliche Blick verantwortlich zu machen, der sich Wege sucht, das Erlebte ertragbar zu machen.
Andererseits aber ist Flucht und Exil ein Trauma – das zeigt sich hier weniger. Vieles ist sehr beschönigt dargestellt. Beispielsweise verstehen alle Leute auf dem Boot die Geschichten, die erzählt werden. Sprachschwierigkeiten oder Konflikte gibt es da nicht. Auch die Thematik des Hungers oder des Wartens taucht nicht auf. Die Familie schläft teilweise unter freiem Himmel, flüchtet in der Nacht, verliert ihr Hab und Gut – aber solche deutlichen wie verständlichen Punkte wie fehlendes Essen werden nicht aufgegriffen.
Die Bilder sind dabei wirklich gut gemacht. Helle Farben dominieren am Anfang und symbolisieren auch die Hoffnung. Der Krieg dagegen ist schlicht schwarz, genauso wie alle, die davon profitieren, wie der Mann, der der Familie über die Grenze hilft. Die Gefahr ist – einfach zu verstehen – rot, wie die Wächter, aber auch die Wohnung während des Krieges. Die Flucht selbst wird erst mit dunkleren Farben dargestellt – es wird und ist Nacht. Das Meer stellt ein erstes Ziel dar, zeigt aber auch Tiefe und dunkle Gefahren. Heller und damit auch hoffnungsvoller wird es am Ende wieder. Die Familie ist da noch nicht am Ziel, aber sie sind noch zusammen und geben nicht auf.
Die Flucht ist auf jeden Fall ein aktuelles Buch, ein wichtiges Buch, um auch jüngeren Kindern zu erklären, was Flucht ist und in welcher Situation Geflüchtete nach Europa kommen. Die Reise steht dabei im Mittelpunkt, weniger der Krieg oder das Ankommen. Ein guter Punkt, denn gerne stellen auch wir großen uns diese Reise als einfaches von A nach B vor. Außerdem aber ist die Flucht ein Buch zum gemeinsam Lesen und darüber reden. Unsere Kleine wollte das Buch mehrmals lesen, über die Bilder reden und einige Punkte klären – wie den, dass die Mutter weint, wenn die Kinder schlafen. Die Verknüpfung zu unserer aktuellen Situation ist bei ihr (3 Jahre) noch weniger da, auch hier ist es Aufgabe der Eltern zu klären. Der große Bruder aber, der schon mehr versteht und auch ein Kind aus Syrien in der Klasse sitzen hat, fand das Buch und die Geschichte der Flucht sehr interessant.
Vielleicht liegt gerade hier die Stärke des Kinderbuches. Dass sein Inhalt und seine Geschichte eben nicht nur für kleine Kinder ist, sondern für alle, um Flucht und Exil besser verstehen zu können.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Gelungener Jugenroman

Alles, was ich sehe
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Maggie ist seit einer Hirnhautentzündung blind und verdammt unglücklich damit. Ihr ganzes Leben, den Fußball, ihre Freunde, ihr früheres Zimmer, musste sie aufgeben. Eigentlich will sie sich in dieser ...

Maggie ist seit einer Hirnhautentzündung blind und verdammt unglücklich damit. Ihr ganzes Leben, den Fußball, ihre Freunde, ihr früheres Zimmer, musste sie aufgeben. Eigentlich will sie sich in dieser Welt aus Dunkelheit gar nicht zurecht finden. Da trifft sie auf den zehnjährigen Ben. Und plötzlich ist alles anders, denn sie kann ihn sehen. Fasziniert, neugierig und süchtig nach den „normalen“ Momenten, verbringt Maggie viel Zeit mit Ben. Wäre da nur nicht sein großer Bruder Mason, der in Maggies Lieblingsband spielt, und sich ziemlich sicher ist, dass Maggie ihre Blindheit nur vortäuscht, um an ihn ranzukommen. Doch der Grund, warum Maggie Ben sehen kann, ist kein leichter und schnell wird ihr klar, dass es um mehr geht, als kurze Momente des Sehens.
Wohin das große Geheimnis des Romans führen soll, war mir relativ schnell klar. Darum habe ich mich eher auf das Wie konzentriert und die Entwicklung der Figuren. Maggie ist zu Beginn noch nicht in ihrer Situation angekommen. Sie verweigert sich allem. Den Übungen, die ihr helfen sollen, sich zurecht zu finden, der neuen Schule, den neuen Mitschülern. Notgedrungen macht sie Hausaufgaben mit einer Mitschülerin, die seit Geburt blind ist. Und nur notgedrungen quält sie sich zu ihrer Lehrerin für das Zurechtkommen in der Dunkelheit. Sie kann sich mit ihrer Situation nicht abfinden und ist im Grunde nur mit Ben zusammen, weil sie ihn und seine direkte Umgebung sehen kann.
Das ändert sich. Maggie entwickelt sich. Sie entdeckt Gemeinsamkeiten mit ihrer neuen Freundin und erkennt in Ben einen liebenswerten Jungen, der sie im Grunde verzaubert. Sie lernt seinen Bruder kennen und trifft auch hier auf eine Figur, der sich mit der ihm vorgestellten Realität nicht abfinden wollte und sie verändert hat. Und irgendwie schwebt über allem der unausgesprochene Konflikt mit ihren Eltern, die sich seit Maggies Hirnhautentzündung anders verhalten. Schuld und Scham kommen zusammen. Zwei Dinge, mit denen auch Maggie sich schnell konfrontiert fühlt.
Das Ende von Alles, was ich sehe ist eines voller Hoffnung, aber kein unrealistisches. Es zeigt Wege auf, die zunächst unsichtbar erscheinen und führt Maggie zu einem Punkt, den sie sich immer erträumt hat, nur eben ein bisschen anders. Das Schöne an dem Roman ist also die Entwicklung der Figuren – denn wirklich alle lernen hier etwas dazu.
Interessant ist dabei auch die leichte Veränderung der Sprache. Während Maggie als Erzählerin gerade am Anfang einfach nur furchtbar nervig ist und ich mit dem Augenrollen nicht hinterher gekommen bin, zeigen sich hier die ersten Entwicklungen am schnellsten. Weniger zynisch wird sie, ehrlicher, auch mit sich selbst, und weniger kindisch. Also – natürlich – ist der Roman auch einer über das Erwachsenwerden. Über das zu sich Finden und die Entdeckung der Tätigkeit, die Ben als „das absolute Ding“ bezeichnet.
Mir hat Alles, was ich sehe gut gefallen. Viel Entwicklung auf Figuren- wie Handlungsebene und eine Überlegungen stecken darin. Mit der Sprache musste ich erst etwas Grün werden, dann war ich aber irgendwann ganz drinnen und konnte nicht mehr aufhören.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein Buch, das nicht mehr loslässt

Die Spuren meiner Mutter
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Jenna heuert auf der Suche nach ihrer Mutter einen alkoholsüchtigen Privatdetektiv und ein Medium an, das den Zugang zur Geisterwelt verloren zu haben glaubt. Virgil und Serenity sollen ihr helfen, Alice ...

Jenna heuert auf der Suche nach ihrer Mutter einen alkoholsüchtigen Privatdetektiv und ein Medium an, das den Zugang zur Geisterwelt verloren zu haben glaubt. Virgil und Serenity sollen ihr helfen, Alice aufzuspüren, die vor zehn Jahren verschwand, nachdem im Elefantenreservat, in dem sie arbeitete, eine Pflegerin tot aufgefunden wurde. Während Jenna alles daran setzt, mit ihrer Mutter wieder vereint zu werden, beginnt Virgil, Alice zu verdächtigen, und Serenity will ihre Gabe mehr denn je zurück. Mittendrin immer wieder: Elefanten, denn Alice war Elefantenforscherin.
Ich bin auch nach vier Tagen immer noch berauscht. Der Roman wächst unbemerkt zu solch eine Größe an, stilsicher, fesselnd und voller starker Figuren, dass die wirklich unerwartete Wendung des Endes einfach genial ist. Plötzlich erscheinen viele Details in einem anderen Licht, die Sichtweise verändert sich und es reizt mich, alles sofort noch einmal zu lesen, um es auch wirklich ganz zu verstehen. Ein Roman, der nicht so schnell loslässt.
Loslassen kann auch Jenna nicht. Während im ersten Lesedurchgang ein paar Ungereimtheiten auftreten, sind diese letztendlich Hinweise auf den Ausgang der Geschichte. Die einzelnen Kapitel sind jeweils aus den unterschiedlichen Blickwinkeln von Jenna, Alica, Virgil und Serenity erzählt, so dass die Figuren nicht nur durch ihr Selbstbild bestehen, sondern durch mehrere Fremdbilder ergänzt werden. Das verleiht viel Tiefe und erlaubt, Verknüpfungen zu erkennen und Hinweise zu entschlüsseln, bevor die Figuren es tun.
Interessant finde ich aus der Sicht der Forscherin zwei Dinge: Zum einen ist das Buch von einer Frau geschrieben. Eine Seltenheit bei Büchern, in denen eine Muttersuche fokussiert wird. Auch, dass die Suchende eine weibliche Figur ist, ist selten. Meist suchen männliche Protagonisten die Vorstellung der Erlösung durch das Wiederfinden der Mutter. Jenna aber sucht keine Erlösung. Sie sucht nicht sich selbst, viel mehr besteht sie nur aus dem Antrieb, ihre Mutter zu finden. Sie spart dafür ihr Geld, belügt ihre Großmutter, tritt mit Virgil und Serenity in Kontakt. Trotzdem wird sie dabei nicht erwachsen, denn ein „Danach“ gibt es für sie eigentlich nicht. Gleichzeitig ist sie keinesfalls naiv, sondern durchdenkt die Möglichkeiten, mit denen sie konfrontiert werden kann genau. Vielleicht ist es viel mehr der Abschluss, den Jenna sucht, um endlich ein Ich außerhalb der Muttersuche bilden zu können.
Ein wichtiges Element des Buches sind die Elefanten. Alice ist Elefantenforscherin und erzählt aus ihrem Leben in Afrika und ihrer Zeit im Reservat. Anhand der Elefanten arbeitet sie ihre eigenen Traumata ab. Hier zeichnen sich sehr eindrucksvoll ihr Weg zur Mutterschaft ab und ihr Interesse an der Forschung zur Trauer bei Elefanten. Alice aus diesen Berichten herauszulesen ist nicht immer leicht, gerade das finde ich aber wirklich interessant und gut gemacht. Eine Figur, die aus ihren Worten entsteht und nicht einfach nur beschrieben wird.
Die Spuren meiner Mutter ist ein sehr gutes Buch über Suche, Trauer, Sehnsucht, Liebe und Schuld. Ein Buch über Elefanten und über Menschen. Ich kann es nur empfehlen, ausnahmslos.
Ein kleiner Hinweis noch: Es gibt zum Roman zwei elektronische Kurzgeschichten, die Alice beziehungsweise Serenity noch einmal näher betrachten.