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Veröffentlicht am 02.12.2021

Mehr Lust als Liebe, mehr Klatsch als Tiefe

Liebe in Zeiten des Hasses
1

Florian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ...

Florian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ebenso wie philosophisch, umfasst aber auch die Liebe zu Eltern/Kindern, zur Kunst, zu sich selbst. An sich ein schöner Gedanke, die Liebe in all ihren Facetten zu demonstrieren. Allerdings fand ich die Gewichtung nicht sonderlich gelungen. Nachdem Titelbild und der Untertitel „Chronik eines Gefühls“ mir den Eindruck vermittelten, hier würde ich tiefgründige Einblicke zu Menschen bekommen, die ihre Liebe in der dunkelsten Zeit des letzten Jahrhunderts leben mussten, hatte ich bei dem Buch leider zu oft das Gefühl, die Klatschspalten zu lesen. Der Fokus liegt hier sehr stark auf körperlicher Liebe. Die „wer mit wem“-Informationen und ständiges „Verlieben“ auf ersten Blick nahmen den Großteil des Buches ein und gingen über „X schlief mit Y, welche die Verlobte von Z war, woraufhin Z eine Beziehung mit Xs Ehefrau begann“ inhaltlich oft nicht hinaus.
Die meisten der im Buch erwähnten Personen sind Künstler, die 1920er Jahre waren zudem eine ungewöhnlich freigeistige Zeit, da ist es nur natürlich, wenn selten traditionelle Ehen gelebt werden. Allerdings stellte sich mir die Frage, warum der Autor nicht eine repräsentative Auswahl getroffen hat, denn diese Geschichten ähneln sich alle sehr. Das ging so weit, dass ich manchmal am Anfang eines Absatzes schon wusste, was in den nächsten Sätzen stehen wird. Illies arbeitet mit Vignetten, wir reisen schnell von einem Schicksal zum anderen und wenn man sehr häufig Dinge liest, die wie eine Endloswiederholung wirken, dann verschwimmt alles und ist auch nicht mehr sonderlich interessant, gerade weil kaum in die Tiefe gegangen wird. Im Vergleich zu den vielen Kreuz-und-Quer-Affairen gehen dann interessante, tiefgründige Schicksale wie z.B. das von Victor Klemperer und seiner Frau völlig unter. Hier und da werden ein paar Sätze aus seinem Tagebuch eingeworfen, kaum Hintergrundinformationen, dabei hätte die Geschichte von ihm und seiner Frau eine wesentlich ausführlichere Behandlung verdient und wäre auch um einiges interessanter als der 27. herumschlafende Künstler.

Die Vignettenform ist an sich originell und abwechslungsreich. Allerdings waren es mir einfach zu viele Personen. Als ich auf Seite 100 war und immer noch mit jeder Vignette jemand Neues auftauchte, war es mir zu viel. Ich hätte mich gerne weniger Schicksalen gewidmet, diesen dafür eingehender. Das Personenverzeichnis hat neun Seiten, pro Seite etwas 60 Namen, also kann man sich vorstellen, wie voll es auf den Seiten des Buches wird. Manche werden leider nur einmal kurz erwähnt, in einer Vignette eingeworfen und gehen ebenso unter wie der o.e. Klemperer. Es ist ein wenig wie auf einer Party, bei der die lauteste Gruppe die meiste Aufmerksamkeit bekommt, obwohl die ruhig in einer Ecke Stehenden viel Aufschlussreicheres zu erzählen hätten, wenn man ihnen nur zuhören würde. Ich fühlte mich mit Namen und Schicksalen überschüttet und konnte immer nur zehn bis zwanzig Seiten am Stück lesen. Einerseits ist bewundernswert, welche Recherche und Hingabe in ein solches Werk gesteckt wurde, und man bekommt wohl selten einen so kondensierten Blick auf derart viele Schicksale. Wer nichts gegen schnelle Wechsel hat, mit kurzen Einblicken zufrieden ist und sich nicht daran stört, sehr häufig sehr Ähnliches zu lesen, wird hier eine Vielzahl interessanter Personen finden und manche von ganz neuen Seiten kennenlernen. Deshalb möchte ich gar nicht sagen, mir hätte das Buch nicht gefallen. Es war unterhaltsam, es hat mir viele neue Informationen geliefert und - gerade in den letzten Abschnitten - einige Beispiele dessen, was ich von dem Buch erwartet hatte: Liebe, die sich in dunkelsten Zeiten beweist.

Die Sprache ist eine wahre Freude. Illies geht mit ihr so gekonnt um, daß ich viele Formulierungen mehrfach las und gerne darin eintauchte. Ich war immer wieder beeindruckt. Ich habe aber auch immer wieder gedacht, wie herrlich es wäre, wenn diese Sprachvirtuosität mit der Einsicht „weniger ist mehr“ hinsichtlich der Vielzahl an Schicksalen und einem somit ermöglichen tieferen Einblick verbunden worden wäre. So blitzt die Tiefe nur ab und zu durch und geht inmitten von zu viel „Wer mit wem“ unter.

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Veröffentlicht am 25.11.2021

Spannendes Thema, stilistisch zu distanziert umgesetzt

Sehnsucht nach Shanghai
1

Ich habe vor diesem Buch noch nie von Emily Hahn, der amerikanischen Journalistin, welche 1935 acht Jahre in China lebte, gehört, war vom Klappentext gleich fasziniert und freute mich darauf, mehr über ...

Ich habe vor diesem Buch noch nie von Emily Hahn, der amerikanischen Journalistin, welche 1935 acht Jahre in China lebte, gehört, war vom Klappentext gleich fasziniert und freute mich darauf, mehr über diese aufwühlende Zeit von Chinas Geschichte zu erfahren. Es ist ein ausgezeichnetes Thema für eine Romanbiographie und ich bin froh, einen Einblick in Emily Hahns Leben bekommen zu haben, und finde es ausgezeichnet, daß ihre Geschichte einem hoffentlich breiteren Publikum bekanntgemacht wird.

Vom Informationsgehalt her sind die weniger als 300 Seiten beachtlich, ich habe hier viel gelernt und interessante Einblicke bekommen. Auch die ab und an eingeflossenen Erklärungen zur chinesischen Denkweise, den Kulturunterschieden fand ich interessant - davon hätten es gerne mehr sein können. Dies führt zu einem Punkt, den ich etwas bedauerlich fand: entgegen meiner Erwartungen tauchen wir nicht wirklich tief in Kultur und Geschehnisse ein. Das liegt weniger an einem Mangel an Informationen als an der knappen, ausgesprochen distanzierten Erzählweise. Für eine Romanbiographie werden weder Charaktere noch Atmosphäre lebendig genug. Auch Motivationen, Gedanken werden nur angerissen und fast kühl berichtet. Konflikte werden rasch abgehandelt, Gefühle tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden ohne Erklärung. Gerade bei den Dialogen war ich oft irritiert, es werden einige Sätze hineingeworfen, dann bricht der Dialog ab oder wird rasch aufgelöst, bei gegensätzlichen Meinungen reichen zwei Sätze, um den Gesprächspartner umgehend zu überzeugen. Hier fehlt die Tiefe. Symptomatisch fand ich eine Episode, in der Emily aus dem umkämpften Chongqing nach Hongkong kommt. In einer Bar kommt die Barbesitzerin zu Emilys Gruppe, fragt nach der Erwähnung Chongqings: „Wird dort nicht viel bombardiert?“ - Emily antwortet emotionslos: „Es gab jeden Tag einen Luftangriff. Manchmal sah ich Leichen auf der Straße (…). Manche hatten keinen Kopf mehr, manchen quollen die Gedärme aus dem Bauch.“ Es wirkt wie das Vorlesen eines Einkaufszettels, man liest es, aber es kann nicht berühren, wie überhaupt die an sich furchtbaren Kriegserfahrungen so geschildert sind, daß sie den Leser emotional nicht erreichen. Nach Emilys Antwort legt ihr Begleiter den Arm um sie und sie wird umgehend von erotischem Verlangen (!) übermannt, während die Barbesitzerin reaktionslos wieder verschwindet und die ganze Szene unbeholfen, abrupt und etwas unangemessen wirkt.

Der Fokus liegt leider ohnehin sehr auf Emilys erotischen Eskapaden. Ihre Arbeit wird nur am Rande dargestellt, das Buch über die Soong-Schwestern, welches sie berühmt macht, wird kaum beschrieben. Wir erfahren ein wenig über die Vorarbeit, aber dann ist es plötzlich geschrieben und ein Bestseller und ich saß ein wenig verwirrt da und fragte mich, warum dieses Buch so nebenbei abgehandelt wird, während Emilys Bettgeschichten so viel Raum einnehmen. Trotz dieser ausführlichen Behandlung fehlen hier, wie erwähnt, leider oft die tieferen Einsichten. Emilys große Liebe in Shanghai endet irgendwie sang- und klanglos, plötzlich ist sie rasend verliebt in einen andren Mann, ohne daß wir nachvollziehen können, woher diese Liebe - zuerst ging es nur um eine von sehr vielen Bettgeschichten - kam, worauf sie beruht.

Der Stil war allgemein nicht unbedingt mein Fall. Es gibt sehr schöne, poetische und treffende Formulierungen, die ich mehrmals gelesen habe, aber überwiegend fand ich ihn zu schlicht, manche Formulierungen sogar etwas unbeholfen. Positiv ist, daß sich das Buch sehr leicht und locker lesen läßt und die Autorin es geschafft hat, viele komplexe Informationen und Sachverhalte verständlich zu vermitteln. Es wurde auch nie langweilig und ich konnte aus der Lektüre viel mitnehmen. Ein Nachwort blickt gelungen auf das weitere Leben der Hauptcharaktere und gibt ein wenig Einblick in den Schreib- und Rechercheprozeß. Das Sujet ist ausgezeichnet gewählt; wäre die stilistische Umsetzung weniger distanziert und knapp gewesen und hätte die berufliche Seite und Fähigkeiten Emilys mehr berücksichtigt, wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch geworden. So hat es mich leider nur teilweise überzeugt.

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Veröffentlicht am 23.02.2021

Ein schöner Ansatz, aus dem wenig gemacht wurde

Die Bücherfrauen
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Die Geschichte des Buches hat mich gleich angesprochen: Kleinstadtamerika, die Liebe zu Büchern, ein Rückblick in die Geschichte der ersten Bibliotheken in Kansas. Es klang nach einer gelungenen Mischung ...

Die Geschichte des Buches hat mich gleich angesprochen: Kleinstadtamerika, die Liebe zu Büchern, ein Rückblick in die Geschichte der ersten Bibliotheken in Kansas. Es klang nach einer gelungenen Mischung für einen leichten, entspannten Wohlfühlroman. Der Einband ist auch wundervoll gestaltet, sowohl visuell wie auch haptisch. Er deutet ein wesentlich besseres Buch an, als das, was man dann bekommt.

Die Autorin hat lange Jahre in der Kulturförderung des Staates Kansas gearbeitet, weiß also, wovon sie spricht, wenn sie uns anschauliche Einblicke in die dortigen Bibliotheken und Kulturzentren bietet, die in einem Land, in dem das Recht auf Waffen relevanter ist als die Förderung von Bildung und Kultur, ständige Budgetprobleme haben und um ihr Bestehen kämpfen müssen. Die Schilderungen der Spendensammlungsaktivitäten sind interessant, auch die lokalen Informationen lesen sich unterhaltsam. Eine weitere erfreuliche Komponente sind die historischen Informationen über Andrew Carnegie, mir bislang nur als rücksichtsloser Geschäftsmann bekannt, der Anfang des 20. Jahrhunderts unzählige Bibliotheken finanziert hat. Insofern las ich den Anfang des Buches mit Vergnügen. Wir begleiten Angelina, die ihre Doktorarbeit über die Carnegie-Bibliotheken schreiben möchte und auch familiäre Bezüge zu der Kleinstadt hat, in die sie nun fährt. Hier hoffte ich auf eine lesenswerte Reise in die Kleinstadtgemeinschaft, die Geschichte der Bibliotheken und war auch gespannt auf die Geschichten der anderen beiden Protagonistinnen.

Diese Hoffnung wurde leider enttäuscht. Alle drei Hauptcharaktere, Angelina, Traci und Gayle, berichten als Ich-Erzählerinnen. Es gibt keine Unterschiede in ihrer Sprache, sie klingen alle drei gleich. Dies ist schon das erste Anzeichen dafür, dass die Autorin nicht über literarisches Können verfügt. Gayle bleibt zudem das ganze Buch hindurch blass, ihre Abschnitte sind wesentlich kürzer als die der anderen beiden und sie trägt so wenig zur Geschichte bei, dass sie auch einer der zahlreichen austauschbaren Nebencharaktere sein könnte. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil ihre Geschichte – ihre Stadt wird durch einen Tornado zerstört – eigentlich neben Angelinas Dissertation der Aufhänger des Buches und des Klappentextes ist. Das Thema kommt aber dann so gut wie gar nicht vor und wurde völlig verschenkt. Es scheint oft, als ob die Autorin sich nicht für ein Thema entscheiden konnte, sie packt alles mögliche ungeordnet in das Buch hinein, erzählt ohne roten Faden. Hätte sie sich auf ihre Kernthemen konzentriert und diese mit ein wenig Tiefe behandelt, wäre es ein tolles Buch geworden. Hätte sie ihre mehreren kleinen Geschichten so gut verknüpft, dass diese ein harmonisches Ganzes ergeben hätten, wäre es ebenfalls ein tolles Buch geworden. Hier schlägt aber das mangelnde literarische Können wieder zu. Das Buch verzettelt sich in seinen Geschichtchen und Charakteren. Eine Nebenperson wird ausgiebig eingeführt und taucht dann nur noch als Name wieder auf. Irrelevante Kleinigkeiten werden detailliert geschildert, wichtige Themen mit der Seichtigkeit einer Vorabendserie abgefrühstückt. Das paßt alles nicht zusammen.

Eine Grundregel guten Schreibens ist „Zeigen, nicht erzählen.“ Diese Grundregel wird hier unablässig gebrochen. Angelina und Traci begegnen sich kaum, wechseln ein paar Sätze miteinander und plötzlich erklärt uns die Autorin durch Traci, dass zwischen den beiden die tiefste innigste Freundschaft bestehe. Man liest es und wundert sich. Auch Liebesbeziehungen entstehen aus dem Nichts. Da wird dem Leser eben mitgeteilt, dass sich diese Leute umgehend verliebt haben. Nachvollziehbar ist das alles nicht. Nachvollziehbar sind auch die Zeitangaben nicht. Das Buch beginnt mit einem Zeitungsausschnitt, der zeigt, dass es 2008 spielt. Plötzlich aber wird – im gleichen Sommer – der 40. Geburtstag einer 1971 geborenen Person gefeiert. Im Jahre 2008? Viele Altersangaben wirken generell wenig plausibel.

Auch die Übersetzung ist kein Glanzstück und enthält grobe Schnitzer. Da wird „it touched me“ mit „es fasste mich an“ anstelle von „es rührte mich“ übersetzt. Ein markanter Ausguck wird zu einem prominenten Ausguck, weil das englische Wort „prominent“ falsch übersetzt wurde. „Imagine“ wird zu „imaginieren“, was wenigstens nicht falsch, aber dafür schlecht übersetzt ist. Ich habe hier sehr oft den Kopf geschüttelt.

Das Ende des Buches wird mit einer dicken Schicht aus quietschrosa Zuckerguss überdeckt – ein überzogenes Happy End folgt dem nächsten. Hier wird dermaßen übertrieben, dass es schon albern ist. Der Aufhänger des Buches wird dann noch rasch und knapp abgehandelt und hätte ein schönes Ende ergeben, wenn es nicht so nebenbei – und unrealistisch – geschehen wäre. So war das Buch leider eine Enttäuschung, insbesondere weil aus dieser Geschichte so viel hätte gemacht werden können. Es ist nämlich nicht per se ein schlechtes Buch. Immer, wenn es sich den Kernthemen zuwendet, ist es erfreulich, die lokalen und geschichtlichen Informationen (die viel zu kurz kommen) sind absolut lesenswert, auch die Kulturarbeit und die Symbolik des Quiltens passen gut ins Buch. Nur werden diese positiven Punkte durch zu viele Kritikpunkte überdeckt. Schade.

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Veröffentlicht am 31.01.2021

Fundierter Blick auf Beatrice von Burgund

Beatrice von Burgund
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Ich habe mich sehr gefreut, ein Buch zu entdecken, das sich der Ehefrau von Friedrich "Barbarossa" widmet, die nach allen vorhandenen Informationen eine interessante und willensstarke Persönlichkeit gewesen ...

Ich habe mich sehr gefreut, ein Buch zu entdecken, das sich der Ehefrau von Friedrich "Barbarossa" widmet, die nach allen vorhandenen Informationen eine interessante und willensstarke Persönlichkeit gewesen sein muß, von der man aber insgesamt eher wenig weiß. Schon von außen erfreut das Buch, es ist sehr hochwertig und ansprechend gestaltet. Fundierte Recherche verspricht der Klappentext und dieses Versprechen wurde absolut erfüllt. Die absolut akribische Recherche scheint auf jeder Seite durch, die Autorin arbeitet zudem mit einigen Originaltexten, die hier z.B. als Briefe oder Proklamationen ins Geschehen eingebunden werden. Die Informationen sind historisch korrekt und überwiegend gut in die Geschichte eingearbeitet. Ein wenig ungeschickt wirkt lediglich eine Szene bei der Hochzeit von Beatrice und Friedrich, als gleich zwei von Beatrices Dienerinnen zu ihr kommen, um detaillierte Zahlen und Fakten zur Feier herunterzurattern, die sie in dieser Detailreichheit wohl kaum kennen oder sich so merken konnten; auch ist die Motivation für eine fast geschichtsbuchartige Rezitation nicht überzeugend. Die ist aber, wie gesagt, eher ein Einzelfall.

Der Schreibstil ist auf positive Weise ungewöhnlich. Die Autorin spielt oft mit der Sprache, findet farbige, originelle Metaphern, hat offensichtlich viel Seele und Sorgfalt gerade in die Beschreibungen gelegt. An mehreren Stellen ließ mich der ungewöhnliche Satzbau stutzen, der dort jeweils eher dem englischen Satzbau entsprach, nicht dem deutschen. Das war nicht unbedingt ganz mein Fall, aber als Teil des ganz eigenen Stils der Autorin durchaus interessant. Nur die Liebesszenen gleiten meist zu sehr ins Schwülstige ab. Insgesamt aber habe ich mich an vielen Stellen über den gekonnten Umgang mit Sprache und dem Mut zum Ungewöhnlichen gefreut. Schön wäre es gewesen, wenn das Korrektorat sorgfältiger gearbeitet hätte. Es gibt hier ziemlich viele Fehler und gerade bei den Namen wird es fast ärgerlich. Da heißt Friedrichs Schwester abwechselnd "Bertha" und "Berta". In einer Szene wird ein Gerard zwischendurch gleich mehrfach zu Guillaume. Beatrice spricht mittendrin ihrer Freundin gegenüber von Friedrich plötzlich zweimal als "Barbarossa", ohne daß der Leser erfährt, wie es zu diesem Namen kommt (ich finde es überhaupt sehr schade, daß dies im Buch gar nicht thematisiert wird); ganz davon abgesehen, daß Beatrice diesen Namen zu dem Zeitpunkt nicht als Anrede oder Bezeichnung für Friedrich verwenden würde. An einer Stelle wird historisch inkorrekt gesiezt. Hier wäre also wesentlich mehr Sorgfalt erforderlich gewesen und das Lesevergnügen ist bei so vielen auch inhaltlich relevanten Fehlern doch ein wenig gegtrübt.

Das Erzähltempo ist sehr geruhsam - auf den etwa 550 Seiten werden gerade mal acht Jahre im Leben Beatrices behandelt, wobei die beiden Schwerpunkte auf ihrer Jugend und Friedrichs zweitem Feldzug gegen Italien liegen. Mir war dies oft zu langatmig, gerade wenn immer wieder seitenlange Naturbeschreibungen eingestreut werden. Diese lesen sich zwar vom Stil her schön, sind aber einfach zu lang und zu häufig. Auch Szenen, in denen Beatrice grübelnd irgendwo sitzt, wurden mir zu häufig und ausführlich genutzt. Die Erzählweise ist sehr deskriptiv, es gibt wenig Dialoge und dies nimmt zusammen mit den detailfreudigen Naturbeschreibungen, introspektiven Betrachtungen und vielen Erlebnissen aus zweiter Hand der Erzählung die Lebhaftigkeit. Dies fällt inbesondere im Vergleich zu jenen Szenen auf, in denen Beatrice erster Hand etwas erlebt, in denen Dialoge geführt werden - das Buch gewinnt in diesen Szenen sofort an Farbe. Dies ist natürlich Geschmackssache, manche Leser werden die ruhige Erzählweise als angenehm empfinden. Ich hätte es vorgezogen, weniger der langatmigeren Passagen und dafür mehr Jahre im Leben Beatrices im Buch zu haben.

Ein informatives Nachwort erläutert, wo die Autorin bei mangelnder Quellenlage einer Theorie folgte oder Lücken mit Fiktion ausfüllte. Dies ist wirklich gut gelungen, auch die nicht belegten Handlungen sind absolut stimmig, passen zu dem, was wir von den historischen Persönlichkeiten wissen. Sie sind gut in die historischen Fakten eingewoben, ergeben ein passendes Gesamtbild. Beatrices häufiges Erzengelversionen sollten meiner ganz persönlichen Meinung nach dagegen kein Teil einer realistischen historischen Romanbiographie sein.

Wie bereits erwähnt, hätte ich mich gefreut, wenn mehr als nur acht Jahre im Leben Beatrices behandelt worden wären, gerade weil es noch viele Stationen ihres Lebens gab, die sich hervorragend für eine Romanschilderung geeignet hätten. Doch hat die Autorin durchaus eine gute Zeitspanne gewählt, das letzte Kapitel zeigt, daß hier auch ein Lebensabschnitt, eine Stufe der inneren und äußeren Entwicklung vollendet wurde und insofern ist auch dies stimmig.

So kann man in diesem Buch sehr viel über Beatrice und auch Friedrich lernen oder sich als mit den historischen Ereignissen vertrauter Leser an der akribischen, gelungenen Recherche erfreuen. Auch wenn das Erzähltempo fast überwiegend nicht meinem Geschmack entsprach, habe ich den Umgang mit der Sprache genossen und mich gefreut, daß es hier ein Buch gibt, daß die Zeit Friedrichs und Beatrices fundierter betrachtet als die Mainstreamromane zu dieser Epoche.

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Veröffentlicht am 07.12.2020

Herrlich gestaltete Informationswundertüte

Atlas der verschwundenen Länder
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Der „Atlas der verschwundenen Länder“ setzt eine ungewöhnliche Idee gelungen um. Der Untertitel sagt es schon: „Weltgeschichte in 50 Briefmarken.“ Björn Berge stellt uns hier 50 Länder vor, die es nicht ...

Der „Atlas der verschwundenen Länder“ setzt eine ungewöhnliche Idee gelungen um. Der Untertitel sagt es schon: „Weltgeschichte in 50 Briefmarken.“ Björn Berge stellt uns hier 50 Länder vor, die es nicht mehr als eigene Länder gibt. Manche haben nur wenige Wochen existiert, manche mehr als ein Jahrhundert. Wir reisen durch die ganze Welt und die Zeit zwischen 1840 und 1975. Das Buch ist wie eine Wundertüte vielfältiger Informationen.

Schon die Gestaltung spricht an, im ungewöhnlichen Querformat, gebunden, innen mit hochwertigem cremefarbenen Papier. Die sechs Zeitabschnitte sind jeweils in anderen Farben gehalten. Der Aufbau jedes Eintrags ist gleich – auf einem farblich unterlegten Feld finden wir Daten wie Bestehenszeitraum,Name, Bevölkerung und Größe des Landes, darunter zwei Karten, die das Land und die Lage zeigen. Nach einem etwa vierseitigen Text folgen Literatur- und Filmhinweise (hinten im Buch ist noch ein umfangreiches Literaturverzeichnis, sehr lobenswert!), jeder Eintrag schließt mit einem Zitat ab, das in der Farbe des Abschnitts gehalten wird. Und natürlich ist auch in jedem Eintrag die von dem Land herausgegebene Briefmarke zu sehen – dies sind Abbildungen der tatsächlichen, dem Autor gehörenden Exemplare, und er erwähnt auch Besonderheiten wie Stempel, Beschädigungen und manchmal sogar den Geschmack des Leims (das ist Enthusiasmus …). Es ist insgesamt eine wirklich erfreuliche Gestaltung, die zum Lesevergnügen beiträgt.

Aber auch der Inhalt lohnt sich. Die Einträge sind eine Mischung aus historischen Informationen, ungewöhnlichen Menschen, Schilderungen aus Romanen oder Filmen, geographischen Beschreibungen. Es ist bemerkenswert, wie viel sich hier findet. Der Schreibstil ist locker, unterhaltsam, es lässt sich leicht und erfreulich lesen. Durch die Vielfalt machte jeder Eintrag auf’s Neue neugierig. Ein paar vereinzelte Einträge wirkten ein wenig lieblos und gelegentlich fehlte es mir ein wenig an Informationen über die Entwicklungen im Land. Wenn in einem Eintrag erwähnt wird, man habe sich entschlossen, das Experiment der Unabhängigkeit aufzugeben, wird leider mit keinem Wort erklärt, worauf diese Entscheidung beruht. Dann gab es noch einen Datumsfehler und im Artikel über Danzig wird Hermann Rauschning erwähnt, „der später zu einem Kritiker des 1/3 Regimes wurde und ins Exil ging.“ 1/3 Regime? Da hat wohl – sofern mir nicht irgendein völlig unbekannter Begriff für das 3. Reich bislang entging – ein Übersetzer und auch ein Korrektat ziemlich geschlampt. Aber diesen Mängelpunkten steht sonst so viel Positives gegenüber, daß das Buch eine Freude ist. Es gelingt Björn Berge auch gut, Hintergründe zu erklären – man erfährt immer wieder, welche langfristigen verheerenden Folgen die gierige Kolonialpolitik mit sich brachte und insgesamt zeigen diese 50 Einblicke vor allem die Gier und Skrupellosigkeit der Menschheit. Aber auch von Träumen lesen wir ein wenig, von durchaus amüsanten Betrachtungen, die der Autor mit trockenem Humor einflicht. Wie gesagt – eine Wundertüte.

Wer also auf unterhaltsame Weise durch die Welt reisen und eine ganze Menge Neues über Geschichte lernen möchte, dem kann ich dieses Buch sehr ans Herz legen. Ich werde es sicher immer wieder mal lesen, denn es lohnt sich!

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