Mehr Lust als Liebe, mehr Klatsch als Tiefe
Liebe in Zeiten des HassesFlorian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ...
Florian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ebenso wie philosophisch, umfasst aber auch die Liebe zu Eltern/Kindern, zur Kunst, zu sich selbst. An sich ein schöner Gedanke, die Liebe in all ihren Facetten zu demonstrieren. Allerdings fand ich die Gewichtung nicht sonderlich gelungen. Nachdem Titelbild und der Untertitel „Chronik eines Gefühls“ mir den Eindruck vermittelten, hier würde ich tiefgründige Einblicke zu Menschen bekommen, die ihre Liebe in der dunkelsten Zeit des letzten Jahrhunderts leben mussten, hatte ich bei dem Buch leider zu oft das Gefühl, die Klatschspalten zu lesen. Der Fokus liegt hier sehr stark auf körperlicher Liebe. Die „wer mit wem“-Informationen und ständiges „Verlieben“ auf ersten Blick nahmen den Großteil des Buches ein und gingen über „X schlief mit Y, welche die Verlobte von Z war, woraufhin Z eine Beziehung mit Xs Ehefrau begann“ inhaltlich oft nicht hinaus.
Die meisten der im Buch erwähnten Personen sind Künstler, die 1920er Jahre waren zudem eine ungewöhnlich freigeistige Zeit, da ist es nur natürlich, wenn selten traditionelle Ehen gelebt werden. Allerdings stellte sich mir die Frage, warum der Autor nicht eine repräsentative Auswahl getroffen hat, denn diese Geschichten ähneln sich alle sehr. Das ging so weit, dass ich manchmal am Anfang eines Absatzes schon wusste, was in den nächsten Sätzen stehen wird. Illies arbeitet mit Vignetten, wir reisen schnell von einem Schicksal zum anderen und wenn man sehr häufig Dinge liest, die wie eine Endloswiederholung wirken, dann verschwimmt alles und ist auch nicht mehr sonderlich interessant, gerade weil kaum in die Tiefe gegangen wird. Im Vergleich zu den vielen Kreuz-und-Quer-Affairen gehen dann interessante, tiefgründige Schicksale wie z.B. das von Victor Klemperer und seiner Frau völlig unter. Hier und da werden ein paar Sätze aus seinem Tagebuch eingeworfen, kaum Hintergrundinformationen, dabei hätte die Geschichte von ihm und seiner Frau eine wesentlich ausführlichere Behandlung verdient und wäre auch um einiges interessanter als der 27. herumschlafende Künstler.
Die Vignettenform ist an sich originell und abwechslungsreich. Allerdings waren es mir einfach zu viele Personen. Als ich auf Seite 100 war und immer noch mit jeder Vignette jemand Neues auftauchte, war es mir zu viel. Ich hätte mich gerne weniger Schicksalen gewidmet, diesen dafür eingehender. Das Personenverzeichnis hat neun Seiten, pro Seite etwas 60 Namen, also kann man sich vorstellen, wie voll es auf den Seiten des Buches wird. Manche werden leider nur einmal kurz erwähnt, in einer Vignette eingeworfen und gehen ebenso unter wie der o.e. Klemperer. Es ist ein wenig wie auf einer Party, bei der die lauteste Gruppe die meiste Aufmerksamkeit bekommt, obwohl die ruhig in einer Ecke Stehenden viel Aufschlussreicheres zu erzählen hätten, wenn man ihnen nur zuhören würde. Ich fühlte mich mit Namen und Schicksalen überschüttet und konnte immer nur zehn bis zwanzig Seiten am Stück lesen. Einerseits ist bewundernswert, welche Recherche und Hingabe in ein solches Werk gesteckt wurde, und man bekommt wohl selten einen so kondensierten Blick auf derart viele Schicksale. Wer nichts gegen schnelle Wechsel hat, mit kurzen Einblicken zufrieden ist und sich nicht daran stört, sehr häufig sehr Ähnliches zu lesen, wird hier eine Vielzahl interessanter Personen finden und manche von ganz neuen Seiten kennenlernen. Deshalb möchte ich gar nicht sagen, mir hätte das Buch nicht gefallen. Es war unterhaltsam, es hat mir viele neue Informationen geliefert und - gerade in den letzten Abschnitten - einige Beispiele dessen, was ich von dem Buch erwartet hatte: Liebe, die sich in dunkelsten Zeiten beweist.
Die Sprache ist eine wahre Freude. Illies geht mit ihr so gekonnt um, daß ich viele Formulierungen mehrfach las und gerne darin eintauchte. Ich war immer wieder beeindruckt. Ich habe aber auch immer wieder gedacht, wie herrlich es wäre, wenn diese Sprachvirtuosität mit der Einsicht „weniger ist mehr“ hinsichtlich der Vielzahl an Schicksalen und einem somit ermöglichen tieferen Einblick verbunden worden wäre. So blitzt die Tiefe nur ab und zu durch und geht inmitten von zu viel „Wer mit wem“ unter.