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Veröffentlicht am 20.05.2022

Liebevoll illustriert, mit detaillierten Fakten

Alt-Buckower Geschichte(n)
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Das Buch widmet sich dem Berliner Stadtteil Alt-Buckow, einstmals ein eigenes Dorf mit lang zurückgehender Geschichte. Schon auf den ersten Blick fällt die ausgezeichnete Ausstattung auf, die Seiten bestehen ...

Das Buch widmet sich dem Berliner Stadtteil Alt-Buckow, einstmals ein eigenes Dorf mit lang zurückgehender Geschichte. Schon auf den ersten Blick fällt die ausgezeichnete Ausstattung auf, die Seiten bestehen aus hochwertigem Fotopapier, der Klappbroschurumschlag zeigt vorne einen Dorfplan aus dem Jahr 1819, hinten einen aktuellen Straßenplan, beide farbig, so dass man gleich einen guten Vergleich der Entwicklung hat. Auch sonst erfreut das Buch mit zahlreichen Abbildungen, darunter mehrere in Farbe. Hauptsächlich zeigen diese Fotos ehemalige und momentane Gebäude, aber es gibt auch Familien- oder Gruppenfotos, Abbildungen alter Einladungen, Sitzungsprotokolle und anderer Dokumente. Das ist eine gelungene Mischung, die viele Facetten des Alt-Buckower Lebens aus langen Jahren zeigt, hier sieht man die liebevolle Zusammenstellung schon auf den ersten Blick.

Besonders berührte mich eine Verlobungsanzeige aus dem Jahr 1932 - nicht nur wegen der anrührenden Gestaltung, sondern auch wegen der Information im Text, dass der Ehemann weniger als zehn Jahre nach dieser Verlobung von den Nazis ermordet wurde. Dies wird recht knapp berichtet und ich hätte gerne mehr darüber erfahren. Dies führt mich zu dem Aspekt, der mich an dem Buch ein wenig enttäuschte - es gibt "Alt-Buckower Geschichte", aber die im Titel ebenfalls angekündigten Geschichten kamen etwas kurz. Ich hatte mir von dem Buch eine Reise in die Lebensgeschichten der Buckower erwartet, wollte erfahren, wie diese Menschen Geschchte erlebt, erfahren, bewältigt hatten. Das Buch fokussiert sich allerdings darauf, die Geschichte jedes Grundstücks zu umreißen und dies führt zu vielen Kapiteln, in denen man lediglich erfährt, wer das Grundstück bewohnt hat, ob bauliche Veränderungen vorgenommen wurden, welche Läden sich dort befanden, wie die Hofwirtschaft sich entwickelte. Das sind überwiegend trockene Fakten, die nur selten ins Persönliche hineingehen. Gelegentlich finden die Schicksale der Menschen Erwähnung, das waren für mich die interessantesten Passagen des Buches, aber sie kamen mir viel zu kurz, sowohl von der Häufigkeit wie von der Ausführlichkeit her. Manchmal wird etwas gestreift, so erfahren wir, dass die Tochter einer Familie mit Ende 20 starb, oder dass "ein schwere Schicksalsschlag" jemanden "im Alter von nur 43 Jahren aus dem Leben" riss, aber wir erfahren nicht, was geschah. Auch das Schicksal dreier Schwestern, die durch den Krieg so ziemlich alles verloren, sich mühsam durchschlugen und ein Leben lang unverheiratet blieben, ist nur knapp umrissen, lässt Fragen offen und weckt den Wunsch, doch etwas mehr über solche Lebenswege zu erfahren. So wird oft etwas angedeutet, aber nicht ausgeführt und mir blieben die Familien Buckows größtenteils fremd, sich abwechselnde Namen mit Lebensdaten, aber ohne echtes Leben. Nun ist dies meinen Erwartungen geschuldet, der Fokus des Buches ist es, die Chronologie der Grundstücke aufzuzeigen und gelegentlich ein wenig durch einige Anekdoten aufzulockern. Mir fehlte hier aber das Leben hinter den Daten. Wer jedoch mit anderen Erwartungen an das Buch herangeht, wird eine liebevoll chronologisierte Geschichte Alt-Buckows finden, sorgfältig recherchiert, mit Quellenangaben und Bildnachweisen und einigen wenigen persönlichen Einblicken.

Es wird viel Anschauliches geboten, um zu zeigen, wie und warum sich Alt-Buckow veränderte, faszinierend u.a. eine herrlich und übersichtlich gestaltete Stammtafel einer Familie, die 12 Generationen umfasst. Auch der literarische Spaziergang am Damm entlang ist eine gute Idee, dem Leser den Ort zu zeigen. Der Ort mit seinen Gebäuden und Veränderungen wurde mir detailliert nahegebracht und für jemanden, der dort wohnt oder sich für den Ort interessiert, ist dies eine wahre Fundgrube mit vielen informativen und nützlichen Fakten. Hier wurde auf liebevolle Art dem Ort Alt-Buckow ein Denkmal geschaffen und Lesern die Möglichkeit gegeben, die Entwicklung über Jahrhunderte hinweg mitzuerleben. Auch die gelungene optische Gestaltung mit ihrer Vielfalt an Abbildungen kann ich nur noch einmal erfreut hervorheben.

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Veröffentlicht am 07.05.2022

Herrlich gestaltet und vielfältig informativ

Inselwandern in Kroatien
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Dieser Inselwanderführer für Kroatien war eine echte Freude! Dies begann schon bei der ausnehmend ansprechenden Gestaltung. Jede der sieben vorgestellten Inseln hat ein eigenes Kapitel, welches mit einer ...

Dieser Inselwanderführer für Kroatien war eine echte Freude! Dies begann schon bei der ausnehmend ansprechenden Gestaltung. Jede der sieben vorgestellten Inseln hat ein eigenes Kapitel, welches mit einer farbig unterlegten Doppelseite eingeleitet wird, auf der sich links eine Karte der Insel und eine hübsche Zusammenfassung ihrer wesentlichen Vorzüge (z.B. "Sonnenreichtum, mediterranes Flair und der Charme der k.u.k. Monarchie") findet, rechts ein Einführungstext. Die Farbe dieser Doppelseite zieht sich dann erfreulich durch das ganze jeweilige Kapitel, inklusive farbig abgesetzter Seitenränder, so daß man sich sofort gut orientieren kann. Die Farben sind übrigens alle sanft und harmonisch - einer der vielen Aspekte, in denen sich die liebevolle Gestaltung des Buches zeigt.

Insgesamt werden fünfunddreißig Touren (fünf pro Insel) vorgestellt, von unterschiedlicher Länge und auch sonst in vielerlei Hinsicht abwechselnd. Jede Tour beginnt, wie in Wanderführern üblich, mit nützlichen Informationen, die hier umfassend und gut dargestellt sind - lediglich ein Höhenprofil hätte mich noch gefreut, aber das ist persönliche Präferenz und nicht in jedem Wanderführer enthalten. Hier hat man den Gesamtunterschied an Höhenmetern sowie auf den - für meinen Geschmack etwas zu reduzierten - Karten die Höhenangaben einzelner Punkte. Es wird auch darauf hingewiesen, sich vor Ort mit Karten zu versorgen. Ob die Wege, wie im Buch erwähnt, auch "ohne weiteres Informaterial" zu begehen sind, kann ich - noch - nicht beurteilen, die Kombination auf Karte und Routenbeschreibung macht aber einen umfassenden Eindruck. Sehr schön auch Tips für kleine Umwege oder zum "Weiterwandern". Ebenfalls gelungen fand ich, dass bei den praktischen Informationen (die übrigens in ihrer visuelle Gestaltung mit dem restlichen Buch absolut mithalten können) immer mit einem Begriff die Art der Wanderung (z.B. "Bergwanderung", "Küstenwanderung" oder "Spaziergang") zusammengefasst war. Eine weitere schöne Idee: vorne im Buch findet sich eine - ebenfalls hübsch gestaltete - Übersicht, die für jede Insel eine besonders empfehlenswerte Wanderung nennt. Man sieht - Übersichtlichkeit, Informationsgehalt und Gestaltung haben mich absolut überzeugt.

Die Routenbeschreibungen lesen sich überwiegend sehr angenehm. Wir bekommen hier nicht nur eine Wegbeschreibung, sondern zahlreiche Eindrücke - fast sieht man alles vor sich, so farbig werden Gerüche, Pflanzen, Geräusche und kleine Besonderheiten geschildert. So mag ich Wanderführer, wenn man schon beim Lesen einen Eindruck bekommt, was einen erwartet und zudem am liebsten gleich loswandern würde (oder eben auch erkennt, welche Route nicht unbedingt den eigenen Geschmack treffen würde). Auch die Beschreibungen jener Routen, die ich nicht wandern würde, habe ich interessiert gelesen, weil sie so unterhaltsam waren. Das einzige kleine Manko ist die Neigung der Autorin, uns kontinuierlich über ihre Gefühlswelt zu informieren. Schon beim gefühlig-pathetischen Vorwort habe ich gefürchtet, dass das Lesen anstrengend werden würde. Das ist so stark nun nicht eingetreten, aber es wurde doch zunehmen enervierend, ständig mit Verzückung aller Art konfrontiert zu werden. Passagen wie "hatte uns (...) in Entzücken versetzt. Ich bin hingerissen (...), genieße (...) bin voll Freude über mein Hier-Sein! Vollends glücklich bin ich ..." oder " "Ich bin fasziniert ... Ich bin gebannt ... Hingerissen betrachte ich ... und mir gehen die Augen über ... Es verblüfft mich ... Und dann kippt meine fast ehrfürchtige Betrachtung in kichernde Heiterkeit ..." (diese war fast eine halbe Seite lang) sind vielleicht für einen persönlichen Wanderbericht angebracht (aber auch da schwächt inflationäre Begeisterung die Wirkung eher), in einem Wanderführer aber fehl am Platz, zumindest in dieser Häufigkeit. Auf einer Seite wird uns eine Viertelseite vom Malhobby der Autorin berichtet - da verstehe ich wirklich nicht, welchen Wert diese Information für den Leser haben soll. Dies war ein zwar kleiner, aber doch beständiger Wermutstropfen in dem ansonsten aber erfreulichen Text.

Sehr schön fand ich, dass die Autorin sich nicht nur auf die Wanderrouten beschränkt, sondern in - ansprechend farbig unterlegten - Informationskästen noch zahlreiche Hintergrundinformationen berichtet. Diese sind herrlich vielfältig, wir erfahren Geschichtliches, etwas über die Produkte der Inseln und ihre Herstellung, es gibt Städtebeschreibungen und Beschreibungen origineller Museen. Eine tolle Mischung und inhaltlich auf positive Weise weit über das hinausgehend, was ich von Wanderführern kenne. Dieses Buch ist letztlich schon fast ein umfassender Inselreiseführer und zudem eine unterhaltsame Lektüre.

Abgerundet wird dieses so erfreulich Buch dann noch durch zahlreiche qualitativ herrliche Farbfotos. Ich war angenehm überrascht, wie viele Fotos sich im Buch finden, wie groß und gut sie sind. Diese anzusehen hat richtig Spaß gemacht.

Wer also mehr über diese sieben Inseln vor der Küste Kroatiens erfahren möchte, ob nun als Reisevorbereitung oder auch einfach aus allgemeinem Interesse, tut hier einen ganz ausgezeichneten Griff!

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Veröffentlicht am 07.05.2022

Als hochwertige Imagebroschüre gelungen - mehr leider nicht

Little Book of Prada
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Nachdem ich aus derselben Reihe "The Little Book of Chanel" genossen habe, habe ich mich schon gefreut, nun auch über Prada mehr zu erfahren. Leider konnte dieses Buch nicht annähernd so sehr überzeugen.

Von ...

Nachdem ich aus derselben Reihe "The Little Book of Chanel" genossen habe, habe ich mich schon gefreut, nun auch über Prada mehr zu erfahren. Leider konnte dieses Buch nicht annähernd so sehr überzeugen.

Von der Gestaltung her ist es hochwertig, ein fester Einband mit minimalistischer, zur Marke passender Gestaltung, ein handliches Format, im Buch hochwertiges Papier und zahlreiche Farbfotos. Visuell also ein Vergnügen.

Es beginnt interessant mit der Gründung der Firma im Jahr 1913, dem ersten Geschäft, ein paar alten Fotos, und ich las mich gerade gemütlich in diese Firmengeschichte hinein, als ich umblätterte und mich plötzlich 60 Jahre weiter fand. Ich habe noch mal zurückgeblättert, um zu sehen, ob ich eine Seite überschlagen hatte. Der Sprung kommt plötzlich und etwas enttäuschend - 60 Jahre Firmengeschichte sind ja nun keine Kleinigkeit. Nun muss man der Fairness halber sagen, dass - wie ich dann online herausfand - es über diese sechzig Jahre wirklich nicht sonderlich viel zu sagen gibt, aber genug für ein, zwei überleitende Sätze hätte sich herausfinden lassen. Dieser Anfang ist symptomatisch für das Buch.

Die Autorin geht nie in die Tiefe. Letztlich besteht der Großteil des Buches aus einer Beschreibung der verschiedenen Kollektionen und der entsprechenden Fotos, mit Bildbeschriftungen, die über das rein Beschreibende nur selten hinausgehen. So steht neben einem Foto von einem gelben Kleid mit Sternenmuster "Miu Miu verwendet oft hübsche Muster, wie etwa dunkle Sterne auf hellgelbem Grund". Im Textteil finden sich viele Sätze, die man in Imagebroschüren häufig liest: sie klingen hübsch, benutzen einige Schlagworte und enthalten keinerlei Informationen, so z.B. bei der Aussage über ein neues Parfum: "ein sinnliches, intensives und luxuriöses Eau de Parfum".

Natürlich gibt es auch Informatives und Interessantes. So werden Hintergründe von Mustern und Designs, Engagement für Kunst und Weiterentwicklung von bewährten Erfolgsstilen erwähnt. Diese Informationen sind aber recht spärlich, wiederholen sich und versinken in enthusiastischen Werbefloskeln - die ständige Lobudelei war anstrengend und enervierend. Da überrascht es wahrscheinlich auch nicht, dass sich kein einziger kritischer Satz über die von Prada auch nach 2010 noch reichlich verwendeten und im Buch ebenso reichlich abgebildeten Pelze oder Angora findet.

Während das Chanelbuch Einblicke in die Unternehmensstrategie und Arbeitsweise, Chanels Person und weitere Hintergründe gab, die man eben nicht in jeder Zeitschrift liest, bleibt das Pradabuch auf dem Niveau eines Zeitschriftenartikels oder einer edel gestalteten Imagebroschüre. Auch die Textqualität ist im Vergleich wesentlich schwächer. Über Miuccia Prada erfahren wir dafür, daß sie dieses Unternehmen so enorm verändert und vorwärtsgebracht hat, enttäuschend wenig. Schön sind die von ihr im Buch in malerischer Schrift abgedruckten Zitate, aber das waren insgesamt (wenn ich keines übersehen habe) nur drei Stück.

Wer ein wenig in zahlreichen Fotos schwelgen möchte und nicht zu tiefgehende Informationen erwartet, wird mit diesem hübsch gestalteten Buch sicher recht glücklich werden. Mir war es leider - auch unter Berücksichtigung des "Little Book"-Konzepts, das naturgemäß keine Unternehmensanalyse sein kann und will - zu wenig.

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Veröffentlicht am 28.03.2022

Kurzweilig und informativ

Im Rausch des Aufruhrs
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Christian Bommarius nimmt uns in diesem Buch mit auf eine Reise durch das Jahr 1923, in dem so viel geschah und das doch bisher in der Literatur verhältnismäßig wenig Beachtung erfuhr. Dies geschieht in ...

Christian Bommarius nimmt uns in diesem Buch mit auf eine Reise durch das Jahr 1923, in dem so viel geschah und das doch bisher in der Literatur verhältnismäßig wenig Beachtung erfuhr. Dies geschieht in Berichten über verschiedene Leute und Geschehnisse, die wir von Monat zu Monat begleiten. So wechseln wir von dem demotivierten und erfolglosen Bankangestellten Joseph Goebbels zu Vertretern der rechten Hugenbergpresse, Künstlern, politischen Aktivisten, dem Serienmörder Haarmann und auch ganz normalen Mitmenschen. Der Vergleich mit Illies, der ähnlich aufgebaute Bücher über andere wichtige Jahre oder Epochen schrieb, drängt sich natürlich auf. Bommarius‘ Stil ist weniger literarisch, zugänglicher, manchmal ein wenig süffisant und angenehm lesbar. Erfreulich finde ich, dass er sich auf eine übersichtliche Gruppe von Leuten beschränkt, anstatt uns ein Schicksal nach dem anderen vor die Füße zu werfen, bis man vor lauter Namen nicht mehr ein noch aus weiß. So hat das Buch einen persönlicheren Bezug.
Jedem Monat ist ein Kapitel gewidmet, dem zwei passende Fotos vorangestellt sind, ebenso wie eine knappe Zusammenfassung der Geschehnisse in dem jeweiligen Monat. Diese endet jeweils mit dem Preis für Brot – eine hervorragende Methode, uns die galoppierende Hyperinflation zu verdeutlichen. Zu Beginn des Jahres kostet das Brot 250 Mark, im Dezember 399 000 000 000 Mark. Oben auf jeder Seite finden wir links den Monat und rechts einige Worte zum Inhalt der Seite (z.B. „Christian Kraft ist seine Sorgen los“ oder „Aus Pretzel wurde Haffner“). Das ist alles schön übersichtlich und oft pfiffig. Am Ende des Buches erfahren wir in einer Übersicht, was aus jenen Leuten, die wir durch das Jahr 1923 begleiteten, später wurde. Auch das ist willkommen, ebenso wie die Quellenangaben, die den Anhang abrunden. Optisch spricht das Buch ebenfalls an.
Erfreulich fand ich die Vielfalt der Themen – Kultur, Politik, Alltag, Lebensumstände, Wirtschaft, es ist alles dabei. Mir war es etwas zu viel Politik und etwas zu wenig Alltag, denn die politischen Entwicklungen kenne ich, an diesem Buch hatte mich eigentlich der Blick auf das allgemeine Leben gereizt. Aber das sind natürlich auch persönliche Präferenzen, größtenteils ist die Mischung für mich gut gelungen. Es gibt viele interessante Hintergrundinformationen, die sowohl persönliche wie auch politische Zusammenhänge gut erklären, nur gelegentlich fehlten mir einige erklärende Sätze zu einer knappen Aussage. Man kann hier auf unterhaltsame Weise eine Menge erfahren, das Buch liest sich leicht und angenehm. Ein erfreuliches Leseerlebnis, das Informationen gelungen vermittelt und dem offensichtlich eingehende Recherche zugrunde liegt.

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Veröffentlicht am 22.03.2022

Stilistisch gelungene Reise durch eine Familie

Dschinns
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Dschinns zog mich umgehend durch den ungewöhnlichen Schreibstil in meinen Bann. Hüseyin, das erste Familienmitglied, das wir in diesem Buch über eine türkische Familie kennenlernen, wird direkt angesprochen ...

Dschinns zog mich umgehend durch den ungewöhnlichen Schreibstil in meinen Bann. Hüseyin, das erste Familienmitglied, das wir in diesem Buch über eine türkische Familie kennenlernen, wird direkt angesprochen und so erleben wir ihn, in dem Monolog, den jemand – ein Dschinn – mit ihm hält. Während Hüseyin voller Freude die neue Wohnung erkundet, die er für sich und seine Familie in Istanbul gekauft hat, erfahren wir in stetigem Wechsel von Gegenwart und Vergangenheit einiges aus seinem Leben, z.B. den Jahrzehnten harter Arbeit in Deutschland oder den Angehörigen. Es macht neugierig, während der farbige Schreibstil die Szenerie aufsteigen lässt und ich schon glaubte, neben Hüseyin in der Wohnung zu stehen.
Jedes der sechs Kapitel widmet sich einem anderen Mitglied dieser Familie, bringt die Gegenwartshandlung voran und nimmt uns gleichzeitig mit in die Vergangenheit. Nach und nach erfahren wir so immer mehr über die Familienmitglieder, ihre Beziehungen zueinander und ihre Dschinns – wie man diese nun interpretieren mag. Im Buch selbst gibt es einige Ansätze dazu, ob nun unausgesprochene Wahrheiten, die Lasten der Vergangenheit oder eine Mischung aus vielem. Jedes Familienmitglied hat jedenfalls seine ganz persönliche Last zu tragen und diese wird uns enthüllt. Die Erzählsprache wechselt je nach Kapitel, passt sich dem jeweiligen Charakter an. Das ist gut gelungen, allerdings wurde durch diese Methode die Sprache in einem Kapitel so vulgär, abgehackt und hektisch, dass sie zwar dem Charakter entsprach, aber unangenehm zu lesen war. Insgesamt aber ist der Schreibstil – abgesehen von der zu häufigen Verwendung von Eigennamen anstelle von sie/er – eine Freude und sticht positiv heraus.
Da jedes Kapitel aus dem persönlichen Blickwinkel des jeweiligen Protagonisten geschrieben ist, erhalten wir sowohl dessen Eigensicht wie auch die Sicht von außen, also den anderen Familienmitgliedern. Das ist ausgezeichnet gemacht und beleuchtete manche Geschehnisse noch auf ganz neue Weise. Das ganze Buch war wie eine Entdeckungsreise durch die Familie – eine überwiegend traurige Entdeckungsreise, denn diese Familie ist alles andere als glücklich. Uns begegnet eine Vielzahl an Schicksalen, für meinen Geschmack waren es zu viele, gerade bei einem Familienmitglied häufte sich eins auf das andere, bis die Katastrophen-Kulmination letztlich die Gesamtwirkung eher schwächte. Auch das Ende setzt eins auf das andere, bis es einfach zu viel wird. Es gab einen Moment mit einer Enthüllung, der für mich ein perfektes Ende gewesen wäre und mich tief berührt hat. Darauf wurden dann aber noch gleich drei weitere Dinge draufgesetzt und so war mein letzter Eindruck des Buches leider: „Viel zu überzogen.“ Es ist insgesamt doch etwas unglaubwürdig, was in einer Familie alles zusammenkommt, leider gerieten dadurch auch einige interessante Themen (z.B. die kurdische Herkunft der Familie) in den Hintergrund, einige Fragen wurden für mich nicht hinreichend beantwortet, während andere Themen eher dem momentanen Zeitgeist geschuldet scheinen und zur Geschichte nichts Relevantes beitrugen, sondern eher irritierten. Bedauerlich finde ich auch, dass sowohl bei manchen Charakteren als auch manchen Erlebnissen und Äußerungen tief in die Klischeekiste gegriffen wurde. Hier habe ich oft gedacht, dass viele Möglichkeiten verschenkt wurden.
Dschinns ist in jedem Fall ein ungewöhnliches und vielseitiges Buch, das mir zudem einen aufschlussreichen Blick in das Leben einer türkischen Familie bot. Mit weniger Klischees und weniger Übertreibungen wäre dieser Blick eindringlicher und nachdrücklicher gewesen, aber auch so war es ein Leseerlebnis.

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