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Veröffentlicht am 31.07.2019

Berührendes, persönliches Buch

Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg
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Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist eine Symbolfigur für den deutschen Widerstand gegen die Hitlerdiktatur und man kann allenthalben minutiöse Darstellungen der Ereignisse des 20. Juli lesen, Analysen, ...

Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist eine Symbolfigur für den deutschen Widerstand gegen die Hitlerdiktatur und man kann allenthalben minutiöse Darstellungen der Ereignisse des 20. Juli lesen, Analysen, Lobpreisungen und Kritik. Es wird meistens eher im Vorbeigehen erwähnt, daß seine Familie im Rahmen der "Sippenhaft" ebenfalls in die Mühlen des menschenverachtenden Unrechtsstaates geriet, und die Ehefrau Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg taucht meistens nur kurz als Name in all diesen Schriften auf. In diesem Buch erzählt nun die Tochter der beiden, Konstanze von Schulthess, die längst überfällige Geschichte ihrer Mutter.

Sie tut dies in einem ausgesprochen angenehmen, hervorragend lesbaren Stil, gleitet nie ab ins Sentimentale oder Pathetische (obwohl das bei einem so engen Familienmitglied absolut verständlich gewesen wäre), während ihre Zuneigung und ihre Hochachtung für beide Eltern, insbesondere für die Mutter, stets spürbar ist. Das macht dieses Buch zu einem hochpersönlichen Bericht. Es beginnt mit den Ereignissen am und nach dem 20. Juli, berichtet von der Verhaftung Nina von Stauffenbergs, ihrer Odyssee durch Gefängnisse und das KZ Ravensbrück. Dann folgt ein Rückblick auf die Jugend, Verlobungszeit und die Ehe, dem Weg zum 20. Juli. Das darauffolgende Kapitel geht in die Familiengeschichte Nina von Stauffenbergs, bis hin ins Zarenreich des 18. Jahrhunderts, bevor dann in den folgenden Kapiteln chronologisch berichtet wird, was nach dem KZ folgte. Diese Kapitelanordnung paßte gut, man beginnt als Leser gleich mit dem Geschehen, das uns bekannt ist, erfährt dann Hintergründe und kann schließlich die Familie auf ihrem Weg durch die letzten Kriegstage bis zum Tode Nina von Stauffenbergs 2006 begleiten.

An mehreren Stellen greift die Autorin auf Aufzeichnungen ihrer Mutter zurück, die diese in den 1960gern in einer Familienchronik auf Bitten ihrer Kinder anfertigte. Diese Aufzeichnungen waren vorab unveröffentlicht und bringen neue und interessante Aspekte ein. Sie sind in einem leichten, amüsanten Stil verfaßt, zeigen Nina von Stauffenberg als eine scharfsinnige, gut beobachtende und unterhaltsame Dame, die sich den Verpflichtungen ihrer Herkunft sehr bewußt war und über eine beeindruckende Stärke verfügte. Sie sind ausgezeichnet in den Erzähltext eingeflochten, reichern diesen an, machen ihn noch lebendiger. Kleine Familienanekdoten wechseln mit berührenden Berichten über die dunkelsten Zeiten. Auch ein Text der Mutter Claus von Stauffenbergs ist enthalten. Konstanze von Schulthess reichert dies auch mit persönlichen Erinnerungen, Berichten aus Gesprächen mit ihrer Mutter an. So stehen uns die Familienmitglieder sehr lebhaft vor Augen, treten aus dem geschichtlichen Hintergrund heraus. Es ist eine Familie mit zahlreichen Persönlichkeiten, die in vielerlei Situation Mut bewiesen, sich nicht haben unterkriegen lassen. Die Grausamkeit der Hitlerdiktatur zeigt sich in vielerlei Details, lakonische Sätze wie "Neunjährig wurde er verhaftet" beleuchten die Absurdität jener Zeit.

Ausgesprochen interessant ist auch, wie Nina von Stauffenberg und andere Familienmitglieder die Kraft fanden, in monatelanger Einzelhaft, Unwissenheit über das Schicksal ihrer Kinder oder anderer Angehöriger, zahlreichen Verhören und anderen leidvollen Situationen zu überleben, bei Verstand zu bleiben, Stärke zu finden. Der Ärger Nina von Stauffenbergs über die Art und Weise, wie ihr Ehemann von Historikern über ihren Kopf hinweg, ohne ihre Einbindung, analysiert und historisch seziert wurde, ist verständlich. Gerade hier ist diese persönliche Sichtweise des Buches so wichtig und Konstanze von Schulthess betont auch, daß ihr der Vater, den sie leider nie kennenlernen durfte, nicht vorwiegend als der Held des Widerstandes vermittelt wurde, sondern als der Papa, der Mensch, so wie er von Nina von Stauffenberg nicht die in die Allgemeinheit übernommene Ikone (oder bei manchen unbelehrbaren Idioten der "Volksverräter") war, sondern ihr Ehemann, mit dem sie eine für jene Zeiten ungewöhnliche und partnerschaftliche Ehe fühlte.

Zahlreiche Fotografien runden dieses vielseitige, berührende Buch ab. Bei einem Bild steht als Unterschrift "'Die Familie Stauffenberg wird ausgelöscht bis ins letzte Glied', so Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, am 3. August 1944. Fast sechzig Jahre später begeht Nina von Stauffenberg mit 43 Nachkommen in Kirchlauter ihren neunzigsten Geburtstag." Eine sehr symbolische, wichtige Bildunterschrift und ebenso anrührend wie das Gedicht, das Nina von Stauffenberg im KZ Ravensbrück über ihren von der Diktatur ermordeten Ehemann schrieb, das Konstanze von Schulthess bei der Beerdigung der Mutter vorlas und welches das Buch abschließt.

Veröffentlicht am 31.07.2019

Vielfältige und interessante Geschichte mit ein paar Schwächen

Im Wald der Wölfe (Jan-Römer-Krimi 4)
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Der Prolog und das erste Kapitel des Buches setzen die Erwartungen hoch, sind spannend und enthalten schon viele aufregende Hinweise. Jan Römer ist diesmal auf Urlaub im Thüringer Wald, und das durchaus ...

Der Prolog und das erste Kapitel des Buches setzen die Erwartungen hoch, sind spannend und enthalten schon viele aufregende Hinweise. Jan Römer ist diesmal auf Urlaub im Thüringer Wald, und das durchaus wortwörtlich: in einem Ferienhäuschen mitten im Wald. Natürlich wird aus dem Urlaub nichts, denn gleich am Anfang erhält er Informationen über eine seltsame jahrzehntelange Mordserie in der Gegend. Ein im Prolog erwähnter Stasibunker weist uns ebenso wie die Jahre, in denen die ersten Morde begangen wurden, auf Verwicklungen in der ehemaligen DDR hin. Ein mysteriöses Wolfssymbol, das den Toten eingebrannt wird, ist ebenfalls ein vielversprechendes Zeichen auf tiefgehende Hintergründe. Ich muß vorweg sagen, daß diese hohen Erwartungen für mich dann nicht völlig erfüllt wurden.

Der Schreibstil ist angenehm, gute Sprache, leicht zu lesen. Ich war gleich in der Geschichte drin und Jan Römer ist weiterhin ein sympathischer Protagonist - angenehm unperfekt, scharfsinnig, aber nicht frei von Irrtümern. Es ist plausibel, daß er auch im Urlaub von einer ungeklärten Verbrechensserie so gebannt ist, dass er einfach nachforschen muß. Am Anfang wechseln Kapitel über seine spannenden Nachforschungen in Thüringen mit in Köln spielenden Kapiteln, wo seine Kollegin "Mütze" ihn mit Hintergrundrecherchen unterstützt. Diese Kölner Kapitel ließen den Spannungsbogen für mich jedes Mal abrupt abfallen. Das lag weniger an den Recherchen als an dem gefühlsmäßigen Hin und Her und den recht zähen Grübeleien Mützes. Es war schon im ersten Band der Serie absehbar, daß Mütze und Jan - wie es ja leider auch das Gesetz der Romanwelt ist, wenn ein Mann und eine Frau irgendwie miteinander zu tun haben - gefühlsmäßig ein wenig ineinander verstrickt sind. Hier zeigt es sich bei beiden in dem ebenfalls völlig überbenutzten "Nein, ich fühle nichts für ihn/sie, aber ich denke bei jeder Gelegenheit an ihn/sie und erkläre mir dann lang und breit, daß ich nichts für ihn/sie fühle". Das habe ich so schon so oft in Büchern gelesen und es wird dadurch nicht weniger enervierend. Auch sonst war Mütze leider für mich eher wieder eine Schwachstelle des Buches. Ich finde sie als Charakter zu blaß. Dann wird ihr im Laufe des Buches plötzlich eine extrem traumatische Vergangenheit verpaßt, die für den Rahmen der Serie mE viel zu übertrieben, zu überfrachtet ist, und auch nicht mit ihrem bisherigen Wesen stimmig ist. Warum so etwas gewissermaßen nebenbei in die Geschichte reingeworfen werden muß, hat sich mir nicht erschlossen.

Der Fall an sich entwickelt sich durchaus interessant, mit vielen Fährten, mehreren Themen. Die Sicht des Täters und die Hintergründe der Morde erfahren wir in Kapiteln, die in die Vergangenheit zurückgehen. Diese fand ich gelungen ungewöhnlich. Geschichtliche Hintergründe werden gut eingebunden und die Einzelthemen werden am Ende gut und für mich unerwartet zusammengefügt. Einige markante Orte, die eine Rolle spielen, existieren tatsächlich und ein informatives Nachwort weist darauf hin, was mir gefallen hat. Es werden einige lokale Skurrilitäten aufgedeckt, die zwar für die Lösung des Falles nicht relevant sind, aber sich unterhaltsam lesen und die Gesamtatmosphäre des Thüringer Waldes, die Gedankenwelt und Befindlichkeiten schön illustrieren.

Zwischendurch gibt es ein paar Längen, ein paar arg theoretische Ausführungen (und daß eine eher zufällig involvierte Psychologiestudentin ausgerechnet ausführliches Profilerwissen über Serienmörder gedanklich abrufen kann, war schon etwas viel des Zufalles - sie war ohnehin kein überzeugender Charakter für mich). Jan trifft kurz vor dem Ende eine Entscheidung, die ich etwas überflüssig für die Handlung fand. (Unglaubwürdig fand ich es auch, dass Menschen, die sich verfolgt und gefährdet fühlen, einfach in einer einsamen Hütte im Wald bleiben und nicht einmal daran denken, in ein Hotel, einen belebeteren Ort auszuweichen). Insgesamt aber liest sich das Wechselspiel aus Nachforschungen und Rückblicken in die Vergangenheit unterhaltsam, Puzzlestücke finden an ihren Platz, Überraschungen gibt es auch. Da Jan in Thüringen schon recht bald von seinen Kölner Freunden besucht wird, die ihm bei den Nachforschungen helfen möchten, gibt es auch mehrere amüsante Szenen, die sich aus den Gegensätzen der Freunde ergeben. Es ist eine gute Mischung aus Spannung, interessanten Hintergrundinformationen und Humor. Deshalb hat mir das Ende, das zu übertrieben, zu unpassend für die Atmosphäre von Buch und Serie ist (genau wie Mützes Vergangenheit) leider nicht gefallen.

Insofern war "Im Wald der Wölfe" schon ein Lesevergnügen, intelligent ausgedacht und gut geschrieben, aber dieses Vergnügen würde an mehreren Stellen überschattet. Die vier Sterne sind hier ganz knapp erreicht.

Veröffentlicht am 28.07.2019

Rundum gelungen, ansprechend geschrieben und gestaltet

Ja, ja am Strande ...
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Ich hatte angesichts des Titels und der Gestaltung des Titelbildes ein wenig Sorge, daß das Buch vielleicht albern oder betulich werden würde, aber diese Sorge war völlig unbegründet, ich angenehm überrascht. ...

Ich hatte angesichts des Titels und der Gestaltung des Titelbildes ein wenig Sorge, daß das Buch vielleicht albern oder betulich werden würde, aber diese Sorge war völlig unbegründet, ich angenehm überrascht.

In diesem innen ansprechend gestalteten Buch erhalten wir, wie es der Untertitel schon sagt, einen Überblick über "Badekultur an der Ostsee von 1900 bis 1939". Dies geschieht durch eine vielseitige Mischung. Ein gut geschriebener Text berichtet über die Entwicklung der einzelnen Seebäder und gibt auch allgemeingeschichtliche Hintergründe. Diese nehmen nicht überhand, sondern konzentrieren sich auf das Wesentliche. In der Einführung geht der Text bis ins Jahr 1793 zurrück, den "offiziellen" Anfängen der Badekultur an der Ostsee. Hier zeigt sich die gelungene Zusammenstellung verschiedener Informationsquellen, die den Leser das ganze Buch hindurch begleitet. Es gibt zahlreiches Bildmaterial - Zeichnungen, Fotografien, Postkarten, Werbeanzeigen. Im Text finden sich Zitate aus zeitgenössischen Texten, so in der Einführung ein Ausschnitt aus den 1893 erschienenen Erinnerungen eines Freiherrn, der illustriert, wie der Adel Heiligendamm für sich entdeckte und mondäne Ferien machte. Später lesen wir zB Tagebucheinträge von Viktor Klemperer, einen Ausschnitt aus Isherwoods "Goodbye to Berlin". In farbig unterlegten Boxen finden sich Ausschnitte aus Benimmbüchern, Modemagazinen, Gesetzen oder Liedtexten. Oft sind auch die Texte der abgebildeten Postkarten abgedruckt, so daß wir teils recht unterhaltsame Urlaubsgrüße lesen können. Diese Mischung macht das Lesen abwechslungsreich und bietet eine weitgefächerte Vielfalt an Informationen, die zu einem runden Gesamtbild führt. Gerade durch die Postkartengrüße und Tagebuchauszüge kommt eine persönliche Komponente hinzu.

Es ist interessant zu sehen, wie sich Postkartenfotografrie und Privatfotos entwickeln. Im Text erfahren wir einiges über fotografische Techniken und Kniffe, auch auf manch geschichtliche Entwicklung wird hingewiesen (zB der Frauenüberschuß auf Fotografien in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg; die vermehrten sportlichen Übungen während der Nazidiktatur). Auszüge aus Reiseführern dokumentieren Aussehen und verschiedene Ausrichtung der einzelnen Badeorte (allerdings wiederholen sich diese Texte manchmal und waren nicht so interessant). Da gibt es die mondänen Orte, an denen das Promenieren in hochmodischer Kleidung der eigentliche Zweck war ebenso wie die verschlafeneren Orte, die sich ihren Dorfcharakter bewahrt haben und zwanglose Ruhe bieten. Viele gesellschaftlichen Themen werden angesprochen, so die "Ehemannszüge", die die hart arbeitenden Ehemänner an den Wochenenden wenigstens für zwei Tage zur urlaubenden Familie bringen. Erschreckend die schamlose Ausprägung des Antisemitimus auch zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Die sich allgemein ändernden Moralvorstellungen, die wachsende Demokratisierung auch der mondäneren Badeorte, die sich ändernden Reisemethoden - all das und noch mehr erfährt man durch das Buch.

Manche Bilder machen nachdenklich. So sieht man ein Bild vom Vorabend des Ersten Weltkrieges mit drei Brüdern - auf der Rückseite dieses Bildes, das als Postkarte verschickt wurde, ist ein fröhlicher Urlaubsgruß eines der Brüder vermerkt und man kann gar nicht anders, als sich zu fragen, wie sie die nur Wochen später ausbrechende Hölle ertragen, ob sie überlebt haben. Zum Ende des Buches ist eine Seite eines privaten Fotoalbums abgedruckt, die letzten Sätze des Albums und auch dieses Buches sind: "Abschied vom Frieden! 26.8.1939 in Warnemünde." Ein gelungener Abschluß für das Buch und ich kann nur noch einmal betonen, daß die kleinen persönlichen Einblicke in die sorglosen Urlaubstage uns eigentlich unbekannter Menschen eine willkommene und frische Perspektive in das Buch brachten.

So war ich beeindruckt und erfreut, auf welch angenehme Art ich auf 120 reich bebilderten Seiten viel gelernt habe. Ich hätte gerne noch weiter gelesen - das ist rundum gelungene Wissensvermittlung und Unterhaltung.

Veröffentlicht am 24.07.2019

Toll recherchierte Nachkriegsgeschichte mit wichtigen Themen

Die Stimmlosen
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"Die Stimmlosen" ist der zweite Band der Geschichte um Richard und Paula Hellmer, die mit dem ersten Band "Die Lautlosen" begann. Das wußte ich vor dem Lesen nicht, es hat aber - abgesehen von anfänglicher ...

"Die Stimmlosen" ist der zweite Band der Geschichte um Richard und Paula Hellmer, die mit dem ersten Band "Die Lautlosen" begann. Das wußte ich vor dem Lesen nicht, es hat aber - abgesehen von anfänglicher Verwirrung über die vielen Personen - keine Probleme bereitet. Die relevanten Geschehnisse aus dem ersten Band werden in "Die Stimmlosen" hinreichend erwähnt und erklärt (leider manchmal auch in mehrfachen unnötigen Wiederholungen).

Zunächst ein Lob für das Titelbild. Ich bin mittlerweile dankbar für jeden historischen Roman, dessen Titel nicht von einer Frau in historischer Kleidung vor einem Gebäude geziert wird. Die "Frau vor Gebäude"-Titelbilder scheinen mittlerweile ein Automatismus der Verlage bei historischen Romanen zu sein. Hier sehen wir ein passendes altes Familienfoto, welches gelungen umrahmt wurde. Das Titelbild ist passend und ansprechend.

Hauptpersonen sind die Freunde Fritz und Richard, sowie dessen Frau Paula und der englische Besatzungssoldat Arthur, den mit den drei befreundet ist. Die Einbindung eines englischen Besatzungssoldaten und dessen freundschaftliches Verhältnis zu Fritz, Richard und Paula ist originell, bietet so die Möglichkeit, weitere Perspektiven und Optionen in die Geschichte aufzunehmen. Diese vier Personen werden in den das Buch umfassenden Jahren 1945 - 1953 von einer sehr großen Anzahl an Verwandten und Freunden begleitet. Manche davon haben ihren eigenen Handlungsstrang oder sind mit den Hauptpersonen durch Geschehen verbunden, aber die meisten fristen ihr literarisches Leben in gelegentlichen Nebensätzen oder kurzen Einschüben. Das war zuweilen etwas überfrachtet. Irritiert war ich, als ein kaum erwähnter Verwandter irgendwann um Seite 320 herum plötzlich vom Nebensatzerwähnten upgegradet wird und einen neuen Handlungsstrang einläutet. Da im Laufe des Buches auch noch mehr Verwandte hinzukommen, war mir das oft zu viel.
Ich weiß nicht, wie Paula im letzten Buch dargestellt wurde, hier ist sie fast das ganze Buch hindurch ziemlich blaß. Richard ist ein angenehmer Charakter, aber ihm hätten ein paar Ecken und Kanten gut getan, an mehreren Stellen kam er mir einfach zu gut vor.

Die Freundschaft zwischen Fritz und Richard hat mir am besten gefallen, die Szenen zwischen ihnen, ihre gemeinsamen Themen waren die interessantesten. Diese Freundschaftsbeziehung war wundervoll dargestellt und ich fand es schade, daß sie in der zweiten Hälfte des Buches in den Hintergrund rückte. Richard hatte mE den interessantesten Handlungsstrang, bei ihm ging es um die T4-Morde, die er im Krieg nicht verhindern konnte und wegen derer er nun gegen einen Arzt aussagt, der 22 geistig behinderte Kinder mit Luminol ermordete. Dieser Handlungsstrang zeigte deutlich, wie widerlich hervorragend nach dem Krieg die alten Seilschaften noch funktionierten und wie wenig Interesse die deutsche Justiz oft daran hatte, Naziverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses Thema hat im Buch einige Ausprägungen und wir lernen mehrere Leute kennen, die damit auf irgendeine Weise befasst waren. Hier ist die differenzierte Erzählweise sehr beeindruckend. Die Details sind hervorragend recherchiert, wie überhaupt alle historischen Details im Buch. Es gibt zahlreiche historische Informationen, von Politik & Bürokratie über historische Ereignisse bis hin zu dem ganz normalen Leben. Gerade die diversen Arten, sich gegen Hunger und Kälte zu wappnen, waren teils faszinierend zu lesen. Ein Lob hier auch der Autorin, daß sie die historischen Informationen so angenehm vermittelt. Es findet kein Infodumping statt, keine langatmigen Geschichtsbuchartigen Ausführungen, sondern fast immer sind die Fakten angenehm in die Handlung eingewoben. Nur zum Ende hin - das ohnehin recht rasch und etwas lieblos abgehandelt wurde, so daß ich oft das Gefühl hatte, die Autorin wollte rasch fertig werden - wirkt die Faktenvermittlung etwas aufgesetzt.

Was mir sehr gut gefiel, war der Humor, den Fritz, Richard und Paula auch in den dunklen Jahren zu Beginn nicht verloren haben. Die Unterhaltungen enthalten manchmal einen so herrlich trockenen Humor, kleine lustige Bemerkungen, unerwartete Reaktionen, daß ich laut lachen mußte. Es brachte mir die Charaktere auch gleich näher. Gar nicht gut gefallen dagegen haben mir die häufigen moralisierenden Monologe, Dialoge oder Gedanken. Gerade in der zweiten Hälfte des Buches fühlt man sich manchmal wie in einem Ratgeber "Wie bin ich ein guter Mensch?". Auch wenn ich inhaltlich den erwähnten Themen und Standpunkten durchaus zustimme, fand ich es anstrengend, in einem Roman ständig den erhobenen Zeigefinger zu sehen und die Charaktere Monologe über Schuld und Vergebung, Anstand und Moral, die schlechte Welt und wie man sie besser machen kann, etc. halten zu lesen. Das hat mir das Lesevergnügen tatsächlich etwas verdorben, weil es so häufige und lange Passagen waren. Die Tendenz zum Monologisieren hatten mehrere Charaktere ohnehin.

Es sind viele gute und wichtige Themen im Buch enthalten und so eine anschauliche Beschreibung der Nachkriegsjahre gibt es nicht in vielen Romanen. Allerdings wurden es mir irgendwann auch etwas zu viele Themen, was ich auch daran merkte, daß Charaktere und Themen aus der ersten Buchhälfte plötzlich in den Hintergrund treten mußten und erst zum Ende hin wieder mehr auftraten. Wie bei den Charakteren wäre die die Konzentration auf weniger mehr gewesen und hätte die teilweise etwas sprunghafte Themenbehandlung verhindern können. Die plötzlich auftauchende englische Verwandtschaft eines Charakters nimmt viel zu viel Raum ein und nimmt zudem den Fokus vom Leben der Deutschen in der Nachkriegszeit ein Stück weit weg. Im Zusammenhing mit diesem "englischen Handlungsstrang" gab es auch zwei Punkte, die mich störten: einmal ein riesiger, unglaubwürdiger Zufall. Eine Engländerin aus London sucht einen Deutschen aus Hamburg. Zufällig ist der einzige Engländer überhaupt, der diesen Deutschen kennt, gerade zu diesem Zeitpunkt in London und zufällig gerät sie bei ihrer Suche fast sofort an ihn, der den Deutschen nicht nur kennt, sondern sogar mit ihm befreundet ist. An der Stelle fühlte ich mich etwas verulkt. Dann gibt es genau im richtigen Moment von der englischen Verwandtschaft noch ein riesiges Geldgeschenk. So sehr ich es den sympathischen Charakteren gönne, daß ihnen das Geld für ihren Neuanfang in den Schoß fällt, so sehr hätte ich es als Leser vorgezogen, diesen Neuanfang und den Weg dahin realistisch und Schritt für Schritt zu erleben.

Das Ende ist, wie erwähnt, etwas übereilt. Bis Anfang 1948 ist das Erzähltempo gut, dann springt es plötzlich recht schnell. Gerade noch sitzen unsere Charaktere hungernd und frierend in der übervollen Wohnung, kurz danach wird im eigenen Haus reichlich geschmaust. So wissen wir zwar, daß es mit der Währungsreforn 1948 aufwärtsging, aber gerade hier wären einige Erklärungen, woher dies kam und wie sich dies entwickelte, willkommen gewesen. Ab 1948 sind es fast nur noch kurze Episoden, die die wichtigsten Ereignisse knapp berichten und es folgt ein Happy End dem anderen. Das war mir zu zuckerwattig.

So hat "Die Stimmlosen" für mich schon mehrere Aspekte, die mein Lesevergnügen geschmälert haben. Die erste Hälfte hätte meiner Meinung nach 5 Sterne verdient, aber die zweite Hälfte hat die Wertung nun zu knappen vier Sternen heruntergezogen. Es ist aber trotz dieser Aspekte ein Buch, dessen Lektüre ich gerade zu Beginn sehr genossen habe. Fritz und Richard sind mir ans Herz gegangen, ebenso - wenn auch weniger stark - Paula und Arthur, und einige der Nebencharaktere. Wer eine sorgfältig recherchierte, angenehm zu lesende Nachkriegsgeschichte lesen möchte, die über wichtige Themen informiert, tut hier einen guten Griff.

Veröffentlicht am 22.07.2019

Unterhaltsam und informativ - so macht das "Lesewandern" Spaß!

Schritt für Schritt – Unterwegs am South West Coast Path
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Daniela Leinweber hat im Jahr 2018 ein bemerkenswertes Projekt durchgeführt - eine zweimonatige Wanderung von 1.014 km. Wir Leser können dank eines herrlich geschriebenen Buches detailliert daran teilhaben. ...

Daniela Leinweber hat im Jahr 2018 ein bemerkenswertes Projekt durchgeführt - eine zweimonatige Wanderung von 1.014 km. Wir Leser können dank eines herrlich geschriebenen Buches detailliert daran teilhaben.

In einem Vorwort berichtet die Autorin uns von der Vorgeschichte und dadurch wird das Wanderprojekt noch beeindruckender, denn sie war vor einigen Jahren noch sehr stark übergewichtig und alles andere als sportlich. Kurzweilig und interessant berichtet sie von dem Moment, der sie dazu brachte, ihr Leben mit gesünderer Ernährung und Sport zu ändern. Der Stil ist von Anfang an gut lesbar und vergnüglich, was vor allem an Daniela Leinwebers herrlichem Humor liegt.

Während der Wanderung wird jedem der 59. Wandertage ein Kapitel gewidmet. Die Überschriften sind meistens Zitate, deren Urheber Johann Wolfgang von Goethe, den Ehemann der Autorin, den Volksmund und eine betrunken bei einer Straßenparty zusammengebrochene Passantin umfassen. Herrliche Vielfalt also und ich habe mich immer auf diese Zitate gefreut, die auch immer entweder vom jeweiligen Tag stammen oder darauf Bezug nehmen. Eine originelle Art der Kapitelbenennung. Jedem Kapitel ist eine kleine Übersicht vorangestellt, die über am Tag und insgesamt gelaufene Kilometer informiert, ebenso über das Wetter und die jeweilige Unterkunft (mit Preis und kurzem Kommentar). Sogar diese Übersichten waren teilweise richtig unterhaltsam, was meistens an den Kurzkommentaren zu den oft furchtbaren Unterkünften lag.

Jedes Kapitel enthält dann ein erfreuliches Konglomerat an Informationen. Die Beschreibung des jeweiligen Streckenabschnitts gehört natürlich dazu, aber es gibt auch herrliche Zufallsbeobachtungen, wie zB einen Mann, der mit einem Hund auf einem Surfbrett sitzt und angelt, oder einen mit allerlei Schuhen dekorierten Baum. Diese Details machen die Berichte sehr lebendig. Auch zu diversen Sehenswürdigkeiten gibt es Eindrücke und oft hat die Autorin noch Hintergrundinformationen recherchiert. Auch darüber, wie gut oder schwierig die Abschnitte bewältigt werden, erfahren wir ab und an etwas (da hätte ich mich manchmal über mehr Informationen gefreut, denn ich war doch überrascht, wie problemlos es am Anfang zu gehen schien). So bringt jedes Kapitel etwas Neues, immer wieder unerwartete Informationen und sehr farbig geschilderte Eindrücke. Der humorvolle farbige Schreibstil erfreut durch das ganze Buch hindurch und man fühlt sich wirklich fast, als ob man dabei ist. Lediglich die manchmal zu ausführlichen Informationen zu Zufallsbegegnungen, anderen Wanderern, Treffen mit Bekannten oder auch diverse politisch-soziologische Betrachtungen waren mir etwas zu viel und nicht immer interessant für mich.

Es gibt zahlreiche Fotografien, in der Mitte des Buches sind auch mehrere Seiten mit Farbfotografien enthalten, was sehr anschaulich ist. Die in jedem Kapitel enthaltenen schwarz-weiß Bilder sind ein gemischtes Vergnügen. Viele der Naturfotografien sind ohne Farbkontrast nicht sehr wirksam, oft ist kaum zu erkennen, was eigentlich abgebildet wurde. Mehrere Fotografien sind auch sehr klein und hier sieht man dann noch schlechter, was abgebildet wurde. Bei Gebäuden, klarer abgegrenzten Küstenlinien, Stadtbildern uä sind die Fotos auch in schwarz-weiß gut erkennbar und tragen anschaulich zum Text bei.

Ich habe die Lektüre genossen, viel Neues erfahren, viele interessante Fakten über Südwestengland gelesen und an mehreren Stellen laut gelacht. An einem durch Sturm richtiggehend gefährlichen Abschnitt habe ich mitgefiebert. Das ist neben dem wundervollen Humor eine weitere Stärke der Autorin: sie schreibt so persönlich, so ehrlich und unmittelbar, daß man beim Lesen Anteil nimmt. Dieses Buch war eine Freude.