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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.05.2023

Gelungen atmosphärisch erzählt

Adas Fest
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„Adas Fest“ war in vielerlei Hinsicht eine erfreuliche Überraschung für mich. Dies lag vor allem an Katrin Bursegs herrlichem Umgang mit Sprache, der mich das ganze Buch hindurch erfreut hat. Der Stil ...

„Adas Fest“ war in vielerlei Hinsicht eine erfreuliche Überraschung für mich. Dies lag vor allem an Katrin Bursegs herrlichem Umgang mit Sprache, der mich das ganze Buch hindurch erfreut hat. Der Stil ist leicht und entspannt lesbar, enthält aber trotzdem – wie die Geschichte auch – viel Tiefe. Immer wieder genoss ich herrlich bildhafte Formulierungen, die das Wesentlich in wenige, gut gewählte Worte packten. Dies ist eine Autorin, von der ich noch weitere Bücher lesen möchte.
Am Anfang des Buches taucht der Leser gleich in eine gekonnt geschaffene Atmosphäre. Wir kommen mit Ada in ihrem Ferienhaus an der französischen Küste an und sehen, fühlen, riechen, schmecken alles durch die gelungenen Beschreibungen. Es war ein Genuss, diese Atmosphäre zu erleben. Über der Sinnlichkeit des Sommers, des Essens – das während des ganzen Romans eine große Rolle spielt – und der Natur liegt eine ebenfalls exzellent vermittelte Wehmut, da Adas geliebtes Refugium aufgrund von Klimaveränderungen bald verlorengehen wird; sie weiß, es ist ihr letzter Sommer dort. In der ersten Hälfte des Buches, die mir mit Abstand am besten gefiel, passiert äußerlich wenig und trotzdem wird es keine Sekunde langweilig, denn man genießt nicht nur die Atmosphäre, sondern lernt auch Ada und ihre Geschichte genauer kennen. Dies geschieht u.a. durch diverse Rückblicke, die elegant in das aktuelle Geschehen eingeflochten werden. Man merkt recht schnell, das hier wird keine seichte Sommergeschichte, hier geht es tief hinein. Es wurde letztlich alles noch tiefer und teilweise dunkler, als ich erwartet hatte und die Autorin weiß ihre Leser mit unerwarteten Wendungen zu überraschen.
Nach und nach lernen wir die anderen Charaktere kennen. Sie sind fast ausnahmslos herrlich gezeichnet, werden lebendig und wirken sehr echt, selbst die nur kurz auftretenden Nebencharaktere und die beiden schon verstorbenen Personen. Einziges Manko war hier für mich Adas Tochter Imme. Während Immes Schwestern und deren Beziehung zueinander und zu ihrer Mutter ausgezeichnet dargestellt sind, blieb Imme blass. Ihre Geschichte wirkte auf mich halbherzig und ihre sehr seltene Interaktion mit ihren Schwestern und ihrer Mutter bestand hauptsächlich in Vorträgen über den Klimawandel, welcher Teil ihres Berufs ist. So hatte ich manchmal den Eindruck, Immes Funktion sei die eines erhobenen Zeigefingers, die Passagen mit ihr fielen für mich immer sehr ab. Ansonsten aber war das Miteinander der Charaktere und auch all das, was sich allmählich über sie offenbart, faszinierend zu erleben. Hier ist sehr viel – eigentlich fast alles – nicht so, wie es scheint.
Nach und nach werden allerlei Geheimnisse enthüllt – in sehr kurzer Zeit folgt eine Offenbarung der nächsten. Das wurde mir zunehmend zu viel und es war mir auch zu viel des Zufalls, wie sich manches genau in diesem Zeitraum erschloss. Irgendwann habe ich gedacht: „Nein, nicht noch ein Geheimnis.“ Es hätte mir mehr zugesagt, wenn hier weniger offenbart und sich dem dafür tiefgehender gewidmet worden wäre. Zwar ist das Buch alles andere als oberflächlich, aber manches wurde mir doch zu rasch und problemlos abgehandelt, weil schon die nächste Enthüllung folgte, auch war es in dieser Häufung nicht ganz nachvollziehbar für mich, mir zu überfrachtet. So war das letzte Drittel des Buches nicht ganz mein Geschmack, auch wenn alles interessant verwebt, überlegt und geschildert wurde. Ganz am Ende wurde es mir dann auch ein wenig zu rührselig. Trotzdem blieb das Buch durchweg ausgesprochen lesenswert, die Atmosphäre habe ich bis zur letzten Seite genossen und vor dem Erzähltalent Katrin Bursegs kann ich nur den Hut ziehen.

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Veröffentlicht am 02.05.2023

Umfassende, vielfältige Informationen

The Big Bang Theory
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Wenn ein Produkt sich selbst als „definitiv“ oder „ultimativ“ bezeichnet, werde ich misstrauisch und mache darum eher einen Bogen. Hier aber war ich neugierig. TBBT ist eine meiner absoluten Lieblingsserien ...

Wenn ein Produkt sich selbst als „definitiv“ oder „ultimativ“ bezeichnet, werde ich misstrauisch und mache darum eher einen Bogen. Hier aber war ich neugierig. TBBT ist eine meiner absoluten Lieblingsserien (zumindest die ersten Staffeln) und ich hoffte, mehr darüber zu erfahren, als ich bereits wußte. Das hat absolut funktioniert. Das Buch besteht aus nahezu 600 recht großformatigen Seiten und ist prallvoll mit Informationen. „Der definitive Insiderbericht“ ist hier also keine leere Versprechung, sondern als Bezeichnung vollauf berechtigt, denn umfassender wird man wohl nirgendwo über TBBT informiert werden.
Wir erfahren die Informationen durch Ausschnitte von Interviews, die die Autorin mit Schauspielern und anderen Mitarbeitern der Serie führte – so gibt es einen gelungenen Querschnitt an Erfahrungen, der u.a. auch über die Hintergrundarbeiten berichtet, die man als Zuschauer kaum oder gar nicht mitbekommt. So fand ich z.B. die Hingabe der Requisite (inkl. umfangreichen Kochens) und die Kostümüberlegungen sehr interessant, aber auch Informationen aus dem Autorenraum zu Überlegungen, warum und wie manche Handlungsstränge umgesetzt wurden, andere dagegen nicht, etc. boten einen neuen Blick auf TBBT.
Die Interviewausschnitte führen durch das gesamte Buch, verbunden durch Passagen mit Hintergrundinformationen oder Einleitungen. So ist der Leser mitten im Geschehen und man hat das Gefühl, mit der Belegschaft in einem Zimmer zu sitzen und alles erzählt zu bekommen. Das schafft eine einmalige Unmittelbarkeit. Manche Informationen wurden für meinen Geschmack zu ausführlich oder wiederholend präsentiert. Wenn z.B. vier oder fünf Personen ihre Versionen eines Ereignisses schildern, dann liest man letztlich immer wieder dasselbe, nur mit leichten Facetten. Auch wurde manches zu ausufernd erzählt, wie z.B. bei der Romanze von Kaley Cuoco und Johnny Galecki – ich muß nicht jede Uhrzeit jeder SMS wissen, nicht den Namen jedes Lokals, in dem sie sich trafen, etc. Oft hätte ich eine etwas straffere Erzählweise vorgezogen, insbesondere wenn es zu wiederholend wurde. Meistens aber sind diese direkten Einblicke und auch die Offenheit der Aussagen erfreulich und interessant.
Das Buch liest sich leicht und locker, der entspannte Plauderstil des Originals kommt in der Übersetzung gut rüber. Allerdings hat die Übersetzung auch für ein erhebliches Manko gesorgt. Sie ist streckenweise arg holprig, denn sie klammert sich immer wieder zu stark am Englischen fest, was zu seltsamen Satzstellungen oder der wörtlichen Übersetzung von Redewendungen führt, die es im Deutschen so nicht gibt. Hinzu kamen einige dicke Schnitzer, die einem Übersetzer einfach nicht passieren dürfen. So bedeutet „resign“ nicht „resignieren“, sondern „zurücktreten“ und somit etwas völlig anderes, womit der gesamte Satz verfälscht wird. „When“ kann eher selten als „wann“ übersetzt werden und „funny as hell“ kann man nicht einfach als „witzig wie die Hölle“ übersetzen, usw. Auch die Zeichensetzung folgt oft den englischen Grammatikregeln, nicht den deutschen, ist im Deutschen falsch und sorgt somit ebenfalls für Irritation. Da das Korrektorat hinsichtlich der Tippfehler und Rechtschreibung sehr sorgfältig war, wundert es mich, daß solche ständigen Zeichensetzungsfehler, sinnnehmenden oder holprigen Übersetzungen und durch die Übersetzung seltsamen Satzstellungen übernommen wurde. Mein Lesevergnügen hat dies leider erheblich beeinträchtigt. Auch die Angewohnheit, reichlich Denglisch zu verwenden, hat mir nicht zugesagt und wirkte etwas albern.
Insgesamt war es aber erfreulich, die einem durch den Bildschirm so vertrauten Schauspieler in ihren eigenen Worten zu hören und auch von den Mitarbeitern hinter den Kulissen so vielseitige und informative Informationen zu bekommen. Zahlreiche Fotos , einige sogar in einem Mittelteil in Farbe, zeigen sowohl Bekanntes wie auch Neues und dienen als willkommene Ergänzung zum Text (wenn es auch in manchen Fällen schön gewesen wäre, wenn sie durch ein wenig Aufhellung oder ähnliche Bearbeitung erkennbarer gemacht worden wären). Insgesamt boten sich durch das Buch neue Einblicke, die teils berührend persönlich waren. Und wenn auch der stetig geäußerte Enthusiasmus über fast alles manchmal überbordend amerikanisch rüberkommt, so merkt man doch: das gute Einvernehmen ist echt und die Leidenschaft, die in die Serie floss, ebenfalls. Das Buch wird dieser gerecht und zeigt den Lesern eindrücklich, was es war, das TBBT so besonders gemacht hat.

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Veröffentlicht am 23.04.2023

Herrlich illustriert & informationsreich - leider ohne deutsche Autoren

Schreibwelten
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In „Schreibwelten“ reisen wir an die Arbeitsplätze zahlreicher Autoren, erfahren etwas über ihr Arbeitsumfeld und ihre Schreibgewohnheiten sowie manch andere unterhaltsame Tatsache. Das Buch überzeugt ...

In „Schreibwelten“ reisen wir an die Arbeitsplätze zahlreicher Autoren, erfahren etwas über ihr Arbeitsumfeld und ihre Schreibgewohnheiten sowie manch andere unterhaltsame Tatsache. Das Buch überzeugt schon auf den ersten Blick durch herausragende Wertigkeit. Der Umschlag ist bemerkenswert stabil, aber durch die freundliche Farbgestaltung und das handliche Format wirkt das Buch trotzdem keineswegs wuchtig. Diese hochwertige, ansprechende Gestaltung setzt sich innen fort. Zahlreiche farbige Illustrationen strahlen dem Leser von den Seiten entgegen, sie sind liebevoll und detailreich ausgeführt, in einem Stil, der mir sehr zusagt. Es machte Freude, diese Illustrationen zu betrachten, sie waren für mich der beste Teil des Buches.
Der Auswahl der Autoren merkt man an, daß es sich hier um die Übersetzung eines ursprünglich auf Englisch und für eine englischsprachige Leserschaft verfasstes Buch handelt. Der Großteil der Autoren kommt aus Großbritannien und den USA. Vertreter anderer Länder finden sich nur vereinzelt. Es war ein Manko für mich, daß kein einziger deutschsprachiger Autor Eingang ins Buch fand – einige sind auch im englischsprachigen Raum bekannt und über ihre Arbeitsplätze gibt es einiges Unterhaltsame zu berichten. Das war eine wirkliche Enttäuschung für mich. Ansonsten ist die Auswahl recht interessant, die meisten Autoren kannte ich, nur zwei oder drei waren mir gänzlich unbekannt. Da es um ihr Arbeitsumfeld geht, ist eine Vertrautheit mit ihrem jeweiligen Werk aber nicht zwingend erforderlich.
Jeder Eintrag verfügt über ein Bild des jeweiligen Autors. Hier leider eine weitere Enttäuschung: die Bilder sind winzig. Man erkennt dort kaum etwas und wenn, wie bei den Brontë-Schwestern, gleich drei Menschen zu sehen sind oder wie bei Christie noch etwas Drumherum im Bild ist, dann haben die Bilder kaum mehr als eine Alibifunktion. Dies hätte man definitiv anders gestalten sollen.
Die Einträge sind zwischen einer und drei Seiten lang. Vom Stil her sind sie in Ordnung, ein wenig mehr Finesse beim Formulieren hätte gerade bei diesem Thema nicht geschadet. Auch enden sie fast immer abrupt, was ich nicht angenehm fand. Allerdings lesen sie sich gut, es sind zahlreiche interessante Informationen erhalten, auch über mir vertraute Autoren habe ich Neues erfahren. Man lernt hier eine Vielfalt von Arbeitsplätzen und –gewohnheiten kennen und diese Reise macht eine Menge Spaß! Zu manchen Themen – z.B. Haustiere, Absagen, Sitzmöbel – gibt es grau unterlegte Kästen mit Informationen, in denen auch Autoren erwähnt werden, die keinen eigenen Eintrag haben. Ebenfalls eine schöne Idee. Zwischendurch finden sich noch Seiten mit Zitaten über das Schreiben. Am Ende gibt ein praktischer Teil Besucherinformationen zu vielen im Buch erwähnten Orten.
Das Buch wurde offensichtlich mit Hingabe gestaltet und das merkt man trotz der kleinen Mankos beim Lesen und Betrachten immer wieder!

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Veröffentlicht am 16.04.2023

Ein raffiniertes, stilistisch grandios gewebtes Geschichtennetz

Hotel Shanghai
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In „Hotel Shanghai“ entwirft Vicki Baum ein beeindruckend vielschichtiges Netz von Schicksalen, die nach und nach ineinandergreifen und auf ihr gemeinsames Verderben in der Schlacht um Shanghai zutaumeln. ...

In „Hotel Shanghai“ entwirft Vicki Baum ein beeindruckend vielschichtiges Netz von Schicksalen, die nach und nach ineinandergreifen und auf ihr gemeinsames Verderben in der Schlacht um Shanghai zutaumeln. In der ersten Hälfte lernen wir die Vorgeschichte der einzelnen Protagonisten kennen, nicht als unmittelbarer Zeuge der Handlung, sondern wie ein Leser eines Berichts. Es ist mutig, mehrere hundert Seiten auf diese Art – die leicht steril und leblos wirken könnte – und mit stetig wechselnden Schicksalen zu füllen, aber es funktioniert. Das liegt vor allem an Vicki Baums herrlichen Umgang mit Sprache und ihrem Talent für psychologisch feine Charakterentwicklung. Mühelos führt sie uns von China ins Deutsche Reich des späten 19. Jahrhunderts, bis zur Nazizeit und dem Exil, wechselt danach elegant ins Leben russischer Flüchtlinge nach der Revolution und zur englischen Aristokratie, bevor wir uns im Mittelklasse-Amerika finden und zurück nach Asien reisen. Wie die Autorin das jeweilige Umfeld, sowohl geographisch wie auch gesellschaftlich, einfangen kann, wie informations- und farbreich sie es jeweils darstellt, ist absolut bewunderungswürdig. Auch füllt sie die Lebensberichte trotz nüchterner Erzählweise mit so viel Gefühl und Bewegendem, daß ich sie größtenteils geradezu verschlungen habe.

Im zweiten Teil begegnen wir diesen sehr unterschiedlichen Protagonisten im Shanghai des Jahres 1937 und die Erzählweise wechselt vom Berichtartigen zum direkten Geschehen. Wir begleiten die Charaktere auf ihren jeweiligen Erlebnissen und finden auch hier wieder eine bemerkenswerte Vielfalt, während sich die einzelnen Wege immer mehr annähern. Nicht alles ist interessant, es gibt durchaus viele langatmige Passagen, in der Mitte des Buches verlor ich die Leselust vorübergehend, weil das Zusammenführen einiger Charaktere ohne wirkliche Substanz geschah und sich zäh hinzog. Auch gibt es viele trockene, geschichtsbuchartige Passagen, die so voller Informationen sind, daß man als Leser zu überwältigt ist, um diese vollends aufzunehmen, und die für einen Roman schlichtweg zu lang und sachlich sind. Zum Ende hin war ich von den Geschehnissen aber wieder gebannt und fand hier auch erneut die psychologische Finesse, die ich so genoss. Man weiß um den tragischen Ausgang der Geschichte, denn er wird schon am Anfang erwähnt, und so liest man atemlos, während das Grollen der Geschütze immer lauter, das Verhalten in Stadt und Hotel immer fiebriger wird. Das Ende wirkt dann gerade in seiner Knappheit fulminant. „Hotel Shanghai“ ist ein so reichhaltiges Panorama, wie man es wohl selten in einem Roman findet, so kunstvoll gewebt und erzählt, daß man voller Berührung und auch Bewunderung für eine solche schriftstellerische Leistung ist.

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Veröffentlicht am 10.04.2023

Eher ein Achtsamkeitsbuch

Das Anti-Angst-Buch
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"Das Anti-Angst Buch" ist als Titelwahl sehr vielversprechend. Wie sich zeigt, ist es leider auch etwas vollmundig, denn als Anti-Angst Buch erfüllt das Buch die gesetzten Erwartungen nicht. Der Klappentext ...

"Das Anti-Angst Buch" ist als Titelwahl sehr vielversprechend. Wie sich zeigt, ist es leider auch etwas vollmundig, denn als Anti-Angst Buch erfüllt das Buch die gesetzten Erwartungen nicht. Der Klappentext mildert den Titel bereits etwas ab: "... an unserer Widerstandskraft arbeiten - mit Entspannung, meditativer Achtsamkeit, Bewegung und psychoaktiver Ernährung." Erst später im Buchtext wird dann erwähnt, daß das Buch bei ernsteren Angststörungen keine alleinige Hilfe sein kann, und es wird ein Arztbesuch angeraten. Insofern sollte man sich also nicht auf den Titel verlassen, denn man bekommt hier kein Anti-Angst-Buch, sondern ein Achtsamkeitsbuch.

Dieses ist hochwertig gestaltet, mit stabilem Einband, wertigem Papier und vielen Farbabbildungen. Das helle Grün des Einbands setzt sich als farbliches Leitmotiv im Buch fort und wirkt angenehm, die Überschriften sind in einem ebenfalls angenehmen Blau gehalten. Der Buchsatz ist durchweg übersichtlich gestaltet. Visuell überzeugt das Buch absolut.

Etwa ein Drittel des Buches ist einem Text mit Hintergrundinformationen gewidmet - wie entsteht Angst, wie äußert sie sich, was macht uns Angst? Dieser ist in vielerlei Hinsicht informativ, scheint aber gelegentlich zu vergessen, daß er sich an Laien auf der Suche nach umsetzbaren Informationen richtet. Er ist häufig theoretisch und wird immer wieder zu naturwissenschaftlich, geht z.B. oft auf Gehirnchemische Vorgänge ein. Das wird den meisten Lesern wenig Mehrwert bringen und der konkrete Praxisbezug fehlt in den wissenschaftlichen Erklärungen zu sehr, wenn man nicht gerade vom Fach ist. Man merkt dem Text viel Wissen und auch Engagement an, man kann sich gute Hintergrundinformationen dort hinausholen, aber er hätte wesentlich benutzer- bzw. leserfreundlicher gestaltet sein können, denn so war vieles zumindest für mich nicht nützlich. Ich bin an fundierten Hintergrundinformationen interessiert, aber sie waren für mich oft nicht adressatenkompatibel dargebracht (und der nonchalante Umgang mit Tierversuchen war unerfreulich). Den allgemeinen Erklärungen folgt dann ein recht langer Abschnitt über Angst in Verbindung mit Klimawandel, Corona und dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Das ist sehr aktuell, aber erstens viel zu ausführlich und zweitens sehr wiederholend. Dann fehlte mir auch hier der nützliche Praxisbezug. Wir lesen über sehr viele Umfragen und Untersuchungen - viele davon auf Jugendliche bezogen -, daß diese Krisen den Menschen Angst verursachen (was nicht unbedingt eine neue Information ist), alles sehr theoretisch. Dieser Abschnitt war für mich überflüssig, die wenigen praxisrelevanten Erkenntnisse hätte man wesentlich zusammenfassen können.
So fühlte sich dieses erste Drittel oft wie eine trockene, etwas zähe Abhandlung an, in der man mit Informationen überschüttet wird, die aber überwiegend zu theoretisch sind. Ein konzentrierterer, praxisbezogenerer Schreibstil oder einige Stichpunkte am Ende jedes Kapitels hätten hier geholfen, das Wesentliche zusammenzufassen und dem Leser deutlich zu machen. Erfreulich anzumerken sind die Fallbeispiele aus der Praxis des Autors. Diese hätten ruhig etwas ausführlicher sein können, um an konkreten Fällen die Behandlung und Erfolge zu verdeutlichen - so lasen sie sich manchmal zu kurz und es fehlten Informationen zum besseren Verständnis. Auch ein Abschnitt über Schlafstörungen ist sehr allgemein und eher oberflächlich gehalten - als jemand mit schweren Schlafproblemen fand ich das zu lapidar abgehandelt. In diesem ersten Drittel stimmte für mich also die Gewichtung zwischen trockener Theorie und praxisrelevanten Informationen nicht.

Das 6-Wochen-Programm beginnt mit einer Einführung, die wesentlich angenehmer zu lesen ist, sich hinsichtlich der Theorie auf das Wesentliche konzentriert und viele interessante Anregungen und Informationen enthält, auch sonst halten die Programmbeschreibungen gelungen die Waage zwischen Theorie und Praxis und liefern zahlreiche nützliche Informationen. So hätte ich mir auch den ersten Teil gewünscht.
Letztlich beruht das 6-Wochen-Programm darauf, seinen Lebensstil achtsamer zu gestalten und so mehr innere Ruhe aufzubauen, was letztlich auch bei - leichten - Ängsten helfen soll. Bei richtigen Angststörungen kann es allerdings höchstens - wenn überhaupt - leicht unterstützend wirken, und es hat mich enttäuscht, daß hier ein eher allgemeines und höchstens mild wirkendes Programm als Anti-Angst-Programm dargestellt wird.
Die sechs Wochen stehen jeweils unter einem anderen Motto und haben einen anderen Schwerpunkt. Letztlich wiederholen sich die Aufgaben aber doch sehr und wirklich unterschiedliche Schwerpunkte merkt man nur ansatzweise. Diese Schwerpunkte findet man am stärksten in den "Lesen und lernen"-Abschnitten, mit denen jede Woche beginnt und die den jeweiligen Schwerpunkt erläutern. Diese Texte sind größtenteils ausgezeichnet - informativ, praxisbezogen, auf das Wesentliche beschränkt. Allerdings ist der Text zum sicherlich für viele Leser entscheidenden Thema "Raus aus dem Angstkreislauf" vergleichsweise kurz und zum ebenfalls wichtigen Thema "Emotionen in Balance" gerade mal eine Seite lang. Im Vergleich zu fast 20 Seiten Untersuchungen zu Angst im Zusammenhang mit globalen Krisen ist das eine seltsame und unerfreuliche Gewichtung. Ich hatte bei dem Buch das Gefühl, daß es immer dann eine Vollbremsung hinlegt, wenn es mit dem eigentlichen Thema losgeht, und das wurde zunehmend frustrierend.

Den Übungen soll jede Woche eine Stunde gewidmet werden, davon eine halbe Stunde Spaziergang in der Natur. Ich halte es bei z.B. berufstätigen Menschen mit Kindern, die nicht in Naturnähe wohnen, etwas unrealistisch, zu erwarten, daß sie sechs Wochen lang jeden Tag eine Stunde + Anfahrt zum Wald o.ä. aufbringen können, sich derlei Übungen zu widmen, aber letztlich ist dieses Programm ein Angebot, das man dem Rahmen der eigenen Möglichkeiten sicher ausreichend anpassen kann. Die Übungen sind eine Mischung aus körperlichen Übungen (z.B. Yoga, Schwimmen, Krafttraining), die gut erklärt und manchmal bildlich dargestellt werden, aus Achtsamkeitsübungen, die sich sehr ähneln, aus naturmedizinischen Anwendungen wie Aromatherapie, Wickeln oder Wechselduschen und ansprechenden, vielseitigen Rezepten mit interessanten Erklärungen zur Wirkung von Lebensmitteln auf Körper und Seele, außerdem gibt es einige therapeutische Übungen und weiterführende Anregungen. Das ist von der Mischung her gut gemacht und sicher findet hier jeder etwas. Bei mir haben einige der Übungen keinerlei Wirkung gezeigt, andere kenne ich von früher als durchaus hilfreich - hier hilft ein wenig Herumprobieren.

Was leider komplett fehlt: eine Art Akutbereich, "Erste Hilfe" während einer Angstattacke, Hinweise zum Umgang mit solchen. Das finde ich bei einem "Anti-Angst Buch" sehr enttäuschend. Letztlich bekommt der Leser hier ein gutes allgemeines Achtsamkeitsbuch, mit milden Übungen, die entsprechend milde Wirkung zeigen. So kratzt das alles eher an der Oberfläche und gab mir den Eindruck, es wurde ein allgemeines Achtsamkeitsprogramm mit ein paar Angstinformationen versehen - das macht es aber keineswegs zu einem Anti-Angst-Programm. Wer zu Anspannung neigt oder einfach etwas besser mit sich umgehen möchte, wird hier sicher einiges Nützliche finden. Für Menschen mit einer Angstproblematik findet sich hier m.E. zu wenig konkret Anwendbares / auf ihre Situation bezogenes. Es ist ein gelungenes Achtsamkeitsbuch. Ein Anti-Angst Buch ist es aber m.M.n. nicht.

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