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Veröffentlicht am 23.01.2019

Facettenreiche Familiengeschichte der Nachkriegszeit

Die Schwestern vom Ku'damm: Jahre des Aufbaus
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Die Schwestern vom Ku’damm ist der erste Teil einer Trilogie, in der die Familie Thalheim durch die Nachkriegsjahre und die 50er begleitet wird. In jedem Buch wird eine andere Schwester der Familie im ...

Die Schwestern vom Ku’damm ist der erste Teil einer Trilogie, in der die Familie Thalheim durch die Nachkriegsjahre und die 50er begleitet wird. In jedem Buch wird eine andere Schwester der Familie im Mittelpunkt stehen, in diesem Buch ist es die Älteste, Rike, die eine entscheidende Rolle bei dem Weg hat, den die Familie direkt nach dem Krieg einschlägt.

Von 1945 bis 1951 sind wir hier bei den Thalheims, die sich Schritt für Schritt aus den Schrecken der letzten Kriegstage auf den zaghaften Beginn des Wirtschaftswunders zu bewegen. Eine Vielzahl von Charakteren tauchen auf, vorwiegend Familienangehörige, aber auch Freunde, ehemalige Weggefährten, neue Bekanntschaften. Manchmal konnte ich einen Namen nicht gleich zuordnen, bei den nicht so häufig vorkommenden Charakteren wird aber auf angenehm unaufdringliche Art meistens noch eine kurze Erinnerung oder Erklärung eingefügt, was hilfreich war. Durch die vielen Personen bekommen wir auch einen guten Überblick über die verschiedenen Lebenswege während und nach dem Krieg. Während manche die Einschränkungen durch die Besatzung als Zumutung empfinden, andere einfach froh sind, wieder ohne Angst leben zu können, sind wieder andere vom vermeintlich besseren System in der SBZ/DDR angezogen. Es gibt hier ein schönes facettenreiches Panorama verschiedener Schicksale, welches die Situation im Nachkriegsdeutschland gut wiederspiegelt.

Überhaupt sind die geschichtlichen Fakten hervorragend recherchiert und meistens sehr gut ins Geschehen eingeflochten. Im letzten Drittel des Buches gibt es mehrere längere Passagen mit Hintergrundinformationen, die zwar interessant sind, die aber die Handlung manchmal etwas überlagerten. Sehr schön untergebracht wurden viele Alltagsdetails dieser Zeit und auch über die besondere Situation Berlins gerade während der Blockade habe ich viel Neues gelernt. Diese Situation wurde gekonnt mit dem Geschehen in der Familie und ihrem Kaufhausaufbau verbunden.

Der Schreibstil liest sich leicht, es gibt keine unnötigen Längen, was ich immer sehr begrüße. An manchen Stellen hätte ich mir sogar etwas mehr Detailfreude gewünscht, so ist der harte Hungerwinter 46/47 für meinen Geschmack etwas knapp behandelt - ich hätte gerne mehr darüber erfahren, wie die Familie zurechtkam.
Einige der Situationen in diesen Jahren wurden mir zu einfach und problemlos aufgelöst - auch wenn man bedenkt, daß die Thalheims sich aufgrund von Status, Vermögen und Beziehungen in einer privilegierteren Situation befinden, als die meisten anderen. Oft (für mich zu oft) kamen glückliche Zufälle zur Hilfe, ob nun im Kleineren (jemand taucht genau im richtigen Moment auf, oder verläßt genau im richtigen Moment ein Gebäude) oder auch bei recht monumentalen Dingen, bei denen mir der jeweilige Zufall einfach zu unwahrscheinlich war. Ich hätte weniger Zufälle und auch manchmal schwierigere Lösungen vorgezogen.

Die Atmosphäre wird gut geschaffen, insbesondere wenn es um das Kaufhaus geht, sieht man alles bildlich vor sich, aber auch die bedrückende Kelleratmosphäre am Anfang, die Tristesse des Trümmerräumens und vieles andere sind richtig gut beschrieben.

Es haben mich nicht alle Charaktere wirklich erreicht, aber einige haben mich neugierig gemacht oder waren mir sehr angenehm. Der Abschluß des Buches ist gut gelungen, das Ende gefiel mir richtig gut. Die Mischung zwischen noch offenen Punkten (wie bei einer Trilogie zu erwarten) und geklärten Fragen ist gut. Man merkt, es gibt in den beiden folgenden Büchern noch viel zu erzählen, bleibt aber nicht ohne inneren Abschluß wichtiger Fragen, die einen durch das erste Buch begleitet haben. Die weiteren Bände werde ich aber wohl eher nicht lesen, dafür haben mich die Charaktere nicht genug gepackt und aufgrund der zu leichten Lösungen fehlte mir der Realismus zu sehr.

Veröffentlicht am 22.01.2019

Oberflächlicher Blick auf die Familie von Hessen

Die Hessens
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Das Buch über die Familie von Hessen, die jahrhundertelang großte Teile des heutigen Bundeslands Hessen regierte, ist ausgesprochen schön gestaltet. Es ist gebunden, das Papier des Buchblocks von guter ...

Das Buch über die Familie von Hessen, die jahrhundertelang großte Teile des heutigen Bundeslands Hessen regierte, ist ausgesprochen schön gestaltet. Es ist gebunden, das Papier des Buchblocks von guter Qualität, und mit zahlreichen farbigen Abbildungen versehen. Gemälde und Fotografien der Familienangehörigen, Bilder von Schlössern, Anlagen und anderen wichtigen Persönlichkeiten illustrieren das Buch hervorragend und sind ebenfalls von hoher Qualität. Eine Stammtafel bietet Orientierung. Für die Ausstattung hat das Buch glatte fünf Sterne verdient.

Leider kann der Inhalt nicht mithalten. Verfasst ist der Text von Rainer von Hessen, der hier nicht unbedingt schriftstellerisches Talent beweist, was aber auch für eine Familienchronik nicht zwingend notwendig ist. Man kann den Text recht leicht weglesen und über manche etwas holprigen Formulierungen hinwegsehen. Im Vorwort wird erwähnt, daß es sich bei dem Buch um ein "konzentriertes Vorhaben" handelt, das "die Geschichte der Hessens auf wenigen Textseiten und mit vielen Bildern" erzählt, was meines Erachtens leider auch die Hauptschwäche des Buches ist. Rund 800 Jahre Familiengeschichte kann man auf 130 reich illustrierten Seiten eben nur mit Einbußen erzählen. Warum es so "konzentriert" sein mußte, wird leider nicht erwähnt.

So reisen wir recht schnell durch die Jahrhunderte. Vieles wird in wenigen Sätzen abgehandelt und dadurch unzureichend erklärt. Wenn es Sophie von Brabant im 13. Jahrhundert "nach zwanzigjährigem Kampf gegen die Übermacht von Main und Thüringen" gelang, " an der Spitze einer ritterlichen Streitmacht ihrem Sohn die Herrschaft in Hessen zu sichern", so bleibt unerwähnt, welcher Art dieser 20jährige Kampf war. 20 Jahre offener Krieg? Eher diplomatische Verwicklungen mit Scharmützeln? Ritt Sophie wirklich an der Spitze der Streitmacht oder ist dies figurativ zu verstehen? - Wir erfahren, daß die aus Darmstadt stammende Großfürstin Elisabeth 1918 im Zuge der russischen Revoution "auf besonders grausame Weise ums Leben" kam - welche grausame Weise dies war, wird aber nicht einmal in einer Fußnote erklärt. Die sind nur zwei Beispiel von vielen, in denen Fakten kurz erwähnt, aber nicht hinreichend erläutert werden.

Meine Hoffnung war, durch das Buch mehr über die Geschichte Hessens zu erfahren. Dies geschah leider auch eher unzureichend. Viele wichtige Themen werden angerissen, aber kaum erklärt, gerade Zusammenhänge und Hintergründe fehlen. Die Regierungspolitik der Hessens als Landesherren wird über Jahrhunderte hinweg kaum angerissen, so lesen wir zwar von neuen Bauten in Kassel und Darmstadt, aber kein Wort darüber, welche Art Herrscher der Erwähnte war. Dafür ist aber der Jagd, ihrem Ablauf und Beiwerk - was nun wirklich nicht spezifisch für die Familie ist - recht ausgiebig Platz inkl. vieler Abbildungen gewidmet. Den Platz hätte man für historische Informationen wesentlich besser nutzen können. Das soll nicht heißen, daß es immer an historischen Informationen fehlt - einige Themen sind gut und ausführlicher behandelt, aber viele ebenso wichtige Themen leider nicht.

Auch die Personen bleiben überwiegend relativ blaß. Die Generationen von Wilhelms und Friedrichs in Kassel und Ludwigs in Darmstadt ziehen relativ einförmig an uns vorbei. Ich konnte sie kaum auseinanderhalten, weil ihnen oft nur jeweils ein paar Sätze gewidmet sind und sie keine Konturen erhalten. Manche Gegebenheiten und Personen werden in einem Satz recht unzusammenhängend in ein Kapitel geworfen und dann nie wieder erwähnt. An vielen Stellen hatte ich das Gefühl, daß aus Platzgründen der Text erheblich gekürzt wurde, so bruckstückhaft wirkt manches.

Als persönliche Familienchronik für die von Hessens oder als ausgesprochen oberflächliche Einführung ist das Buch sicher gut geeignet, aber weitergehende Informationen darf man sich hier nicht erwarten. Dabei hätte es an Material für eine packende Geschichte dieser Familie wirklich nicht gemangelt.

Veröffentlicht am 11.04.2024

Recht unterhaltsam, aber auch sehr konstruiert und handwerklich mittelmäßig

The Hike
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„The Hike“ (warum werden Buchtitel eigentlich vermehrt nicht mehr ins Deutsche übersetzt?) reizte mich als begeisterte Wanderin; der Blick in die traumhaft-einsame Landschaft Norwegens machte mich ebenfalls ...

„The Hike“ (warum werden Buchtitel eigentlich vermehrt nicht mehr ins Deutsche übersetzt?) reizte mich als begeisterte Wanderin; der Blick in die traumhaft-einsame Landschaft Norwegens machte mich ebenfalls neugierig, gerade auch, weil diese Landschaft für eine solche Geschichte wunderbar geeignet ist. Der Klappentext versprach zudem psychologisch Interessantes – vier Freundinnen in der Natur, auf sich gestellt, mit aufbrechenden alten Konflikten. Klingt nach einer guten Mischung.
Ganz wurden meine Erwartungen letztlich nicht erfüllt. Das Buch braucht sehr lange, bis es in Fahrt kommt. Die eigentliche Wanderung fängt erst irgendwann um Seite 100 herum an. Bis dahin trottet die Geschichte recht zäh dahin. Das liegt vor allem daran, daß die Autorin sich mit allerlei irrelevanten Details aufhält und auch vieles wiederholt. Gerade, wenn es darum geht, die Charaktere der vier Frauen darzustellen, greift Clarke immer wieder auf dieselben Sätze zurück. Maggie ergeht sich regelmäßig darin, wie sehr sie ihre Tochter vermisst, von Liz wird etwa sechs- oder siebenmal betont, wie sehr sie Joni immer zur Seite stand, Helena befühlt regelmäßig ihren Bauch und gibt sich einer wiederholenden Gedankenschleife hin und Joni reflektiert vorhersehbar darüber, welche Schatten ein schillerndes Starleben hat (und wem da einiges bekannt vorkommt: ja, was die Frauencharaktere und ihre Gedanken betrifft, hat Lucy Clarke in mancherlei Hinsicht ihr letztes Buch recyclet – die stereotypen vier Freundinnen und ihre Gedanken entsprechen in etwa denselben Schubladen wie in „One of the Girls“). Der Pathos der ständigen Freundschaftsbeschwörung war etwas anstrengend, genau wie das arg zuckrige Ende.
Der Schreibstil ist durchschnittlich. Es gibt einige gelungene Formulierungen, die ich mehrmals gelesen habe, auch die Naturbeschreibungen sind ausgezeichnet und bildhaft. Diese habe ich genossen. Manche Formulierungen sind etwas unbeholfen, sonst liest sich alles gut weg, bleibt nicht weiter in Erinnerung. Für einen Krimi ist das ausreichend.
Die Geschichte wird überwiegend durch die wechselnden Perspektiven der vier Freundinnen erzählt. Das ist eine gute Idee, denn so lernen wir die vier Frauen sowohl durch ihre eigenen Gedanken wie auch durch die Augen der anderen kennen und auch verschiedene Schauplätze und Geschehnisse können durch die Wechsel geschmeidig dargestellt werden.
Sobald die Wanderung losgeht, steigt das Erzähltempo und ist gerade in der Mitte des Buches angenehm. Es passiert genug, daß man weiterlesen möchte und gespannt ist, aber es überschlägt sich nicht unangenehm. Das passiert dann aber leider im letzten Drittel. Hier nutzt die Autorin, die ohne große Innovationen die üblichen kommerziell erfolgreichen Bestandteile des Genres abarbeitet, dann das Stilmittel zahlreicher sehr kurzer Kapitel, die jedes mit einem kleinen Cliffhanger enden – ein Stilmittel, das mir schon bei Fitzek so auf die Nerven fiel, daß ich seine Bücher nicht mehr lese. Hier und da ein Spannungsmoment, das Ganze verbunden mit einem Perspektivwechsel, um die Spannung zu halten, ist an sich eine gute Idee, aber wenn es derart überbenutzt und zum Selbstzweck wird, dann nutzt es sich enorm ab und nach einer Weile wollte ich einfach nur, daß das Buch endlich zu Ende ist. Dies auch, weil zwischen den Cliffhangern dann häufig Passagen folgten, die reines Füllmaterial waren. Auch schon zu Anfang der Wanderung versucht die Autorin, ständig Spannung zu erzeugen, geht da aber ebenfalls keine kreativen Wege und so folgt ein falscher Alarm dem anderen – unheilvolle Schritte, das Gefühl des Beobachtetseins, ein ungewöhnliches Geräusch wechseln sich beständig ab und verlieren schnell an Bedeutung. Wie bei den Charakteren wird hier zu viel in Schubladen gegriffen, zu viel wiederholt – das ist handwerklich leider nur durchschnittlich.
Doch legt Clarke auch durchaus gelungene falsche Fährten und schafft es, die anderen Charaktere undurchschaubar zu gestalten. Auch baut sie einige überraschende Wendungen ein und konnte zumindest mich mehrere Male erfolgreich hinters Licht führen. Die Geschichte selbst ist an sich gut ausgedacht – nur leider auch sehr konstruiert. Das fängt schon damit an, dass es kaum glaubhaft ist, dass diese vier Frauen, von denen nur eine halbwegs wandererfahren ist, all die beschriebenen Strapazen überhaupt bewältigen. Sie tragen neue, nicht eingelaufene Schuhe, sind kaum sportlich, eine betreibt seit Jahren heftigen Alkohol- und Drogenmissbrauch, eine ist übergewichtig – im wirklichen Leben hätten sie nicht mal den ersten Tag durchgestanden. Als diese vier Frauen dann nach einer durchwachten Nacht und einem zermürbenden Tag völlig ausgehungert mal eben tausend Höhen(!)meter an einem gefährlichen Berg hinter sich bringen, konnte ich nur den Kopf schütteln. Das ist komplett unglaubwürdig. Als sie dann noch die Muße fanden, auf diesem Weg zwischendurch stehenzubleiben und sich erst einmal wegen einer Nebensächlichkeit - mal wieder - ausgiebig anzuzicken, obwohl sie auf der Flucht vor einem gefährlichen Menschen waren, mußte ich schon ein wenig schmunzeln. Auch sonst ist vieles unrealistisch und konstruiert.
Insofern bot „The Hike“ leidlich gute Unterhaltung und einige schöne Naturbeschreibungen, hat einige gelungen überraschende Momente, ist aber durch Wiederholungen, inhaltliche Längen und einer Überbenutzung abgenutzter Stilmittel zum Spannungsaufbau sowie der äußerst konstruierten Geschichte nicht wirklich überzeugend.

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Veröffentlicht am 18.02.2024

Sprachlich hervorragend, inhaltlich nicht ganz überzeugend

Krummes Holz
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„Krummes Holz“ hatte es mir schon auf den ersten Seiten wegen der gelungenen Sprache angetan. Julja Linhof erzählt so bildhaft, daß ich das Gefühl hatte, selbst in dieser hitzeflirrenden Landschaft zu ...

„Krummes Holz“ hatte es mir schon auf den ersten Seiten wegen der gelungenen Sprache angetan. Julja Linhof erzählt so bildhaft, daß ich das Gefühl hatte, selbst in dieser hitzeflirrenden Landschaft zu stehen und den heruntergekommenen Hof mit Jirka zu entdecken. Es werden wenige Worte gebraucht, um die jeweilige Szenerie entstehen zu lassen. Auch gibt es von Anfang an viele Andeutungen auf dunkle Ereignisse und Familienkonflikte, was mich auf die Geschichten neugierig gemacht hat.
Lange erfahren wir allerdings sehr wenig. Die Handlungen und Motivationen der Charaktere bleiben größtenteils im Dunkeln. Der Vater Georg ist verschwunden, Jirka taucht nach Jahren unangemeldet auf und nichts davon wird wirklich angesprochen. Wir beobachten Jirka auf seinen einsamen und stummen Gängen durch das Haus und über das Grundstück und ich fand die Spärlichkeit der Informationen zunehmend schwierig, da mir das Geschehen nicht vorstellbar wurde und auch die Charaktere so recht blass blieben.
Das Erzähltempo ist sehr langsam, eigentlich fast nicht vorhanden. Das funktioniert allerdings lange erstaunlich gut, was für mich zum großen Teil an dem ausgezeichneten Umgang mit Sprache lag. Ich las diesen farbigen Stil sehr gerne. Auch das fast fluide Spiel mit den Zeitebenen ist hervorragend gemacht. Jirka entdeckt diesen Hof seiner Kindheit nach mehrjähriger Abwesenheit neu und dadurch werden allerlei Erinnerungen in ihm wach. Der Wechsel von der erzählten Gegenwart zu den Erinnerungen ist unmittelbar, wird kaum angekündigt oder verdeutlicht und die Zeiten wechseln häufig. Das wirkt beim Lesen fast mühelos, wie von selbst geschehend, was zeigt, wie sorgfältig diese Passagen ausgearbeitet und geschrieben wurden. Es sind letztlich auch eher diese Erinnerungen, die für Erzählfluss sorgen, denn in Jirkas Gegenwart passiert lange Zeit so gut wie nichts. Das Gesamtbild füllt sich so ein wenig.
Ab etwa der Hälfte begann das Buch mich allerdings zu verlieren. Die statische Trostlosigkeit ist ausgezeichnet geschildert, wurde aber zunehmend repetitiv. Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten und mein Interesse an der Geschichte nahm ab, das Ewiggleiche begann mich zu langweilen. Auch die zusätzlichen Charaktere, die für kurze Zeit hineingeworfen werden, brachten für mich eher Irritation, da insgesamt einfach viele Details berichtet werden, die letztlich kaum eine Rolle spielten. Dann kam auch noch eine Outinggeschichte mit allerlei entsprechenden Details hinzu, was thematisch überhaupt nicht mein Fall ist, so daß mir das letzte Drittel des Buches insgesamt nicht mehr gefiel. Die Auflösung des Verbleibs des Vaters war dann durchaus interessant, bzw. wäre es gewesen, wenn sie nicht so untergegangen wäre. Zu diesem Zeitpunkt hatte mich das Buch einfach schon verloren.
Sprachlich ist „Krummes Holz“ durchweg erfreulich, die Autorin hat einen ungewöhnlichen und gekonnten Stil und kann meisterhaft Atmosphäre hervorrufen. Die Handlung hatte Potential, das für meinen Geschmack aber nicht komplett genutzt wurde, vieles blieb zudem offen, und das fast Statische des Erzähltempos ist für ein ganzes Buch m.E. nicht geeignet. Insofern überzeugte „Krummes Holz“ mich nur teilweise.

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Veröffentlicht am 31.12.2023

Origineller, aber oft überemotionaler und egozentrischer Blick auf Berlin

Gezeiten der Stadt
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Die Idee, eine Geschichte Berlins zu schreiben, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ein Stück weggeht und sich auf ungewöhnlichen Pfaden durch die Stadt bewegt, ist hervorragend und es gelingt ...

Die Idee, eine Geschichte Berlins zu schreiben, die von der offiziellen Geschichtsschreibung ein Stück weggeht und sich auf ungewöhnlichen Pfaden durch die Stadt bewegt, ist hervorragend und es gelingt Kirsty Bell durchaus, sich der Stadt auf eine eigene und originelle Art zu nähern. Man kann hier manch neuen Blick auf Berlin erlangen.
Eine Geschichte Berlins im zeitlich umfassenden Sinne ist es nicht, Bell behandelt die Zeit etwa zwischen spätem Biedermeier und der Gegenwart. Hier sind der Untertitel und der Klappentext irreführend und das fand ich enttäuschend, denn so wurde vieles nicht thematisiert, was die Stadt ausmacht und was oft zu wenig Beachtung findet. Nur ein Drittel des Buches ist der Zeit vor der Nazidiktatur gewidmet – schade, denn das ist eine sehr einseitige Gewichtung, die inhaltlich wiederkäut, was man schon sehr oft gelesen hat. Insgesamt muß ich sagen, daß ich aus dem Buch wenig Neues erfahren habe.
Die Vorgehensweise hat mir trotzdem in mancherlei Hinsicht gut gefallen. Vor den einzelnen Zeitabschnitten finden wir jeweils einen Stadtplan oder Auszug eines Stadtplans jener Epoche, das ist eine ausgezeichnete Visualisierung und unterstreicht den Inhalt gelungen. Auch die Verwebung mit Gemälden und Büchern fand ich erfreulich. So nutzt Bell z.B. Fontanes Werke, um uns das kaiserliche Berlin näherzubringen, unterlegt Romanauszüge mit Hintergrundfakten und schafft so ein farbiges Bild.
Absolut unangenehm fand ich dagegen ihre Neigung, sich und ihre eigene Geschichte ständig in den Vordergrund zu drängen. Das Buch beginnt schon mit einer ausführlichen Schilderung ihrer Ehekrise und Wohnungsprobleme. Das ist denkbar uninteressant, aber als Einführung für ihre Gründe, sich mit ihrem Haus und von dort aus der Geschichte der Berliner Umgebung zu befassen, noch nachvollziehbar. Allerdings bleibt es nicht dabei. Bell redet über weite Strecken des Buches nicht über Berlin, sondern über sich. Kein Kapitel kommt ohne – meistens anstrengend larmoyante – Bemerkungen über ihre Familiensituation aus und es ging mir zunehmend auf die Nerven, ständig über ihre persönlichen Befindlichkeiten lesen zu müssen, die mit dem Thema nichts zu tun haben. Auf eine seltsam egozentrische Art bezieht sie letztlich alles auf sich – wenn sie über den Umgang mit Scham in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt, fügt sie einen langen Abschnitt über die Scham ein, die sie angesichts ihrer gescheiterten Ehe fühlt. Als sie herausfindet, daß jemand, der vor vielen Jahrzehnten in ihrem jetzigen Haus lebte, 1932 in die Nazipartei eingetreten ist und ein propagandistisches Kartenspiel herstellte, reagiert sie so dramatisch und entsetzt, als ob es sich um einen engen Verwandten handele, der ein Versprechen an sie gebrochen hätte.
Überhaupt ist Bells Besessenheit von der Familie, welche das Haus, in dem sie heute wohnt, baute und lange bewohnte, verstörend. An sich ist der Gedanke, die Geschichte ihres Hauses zu erforschen und die Geschichte der dortigen Bewohner mit der Berlins zu verbinden – durch Einzelschicksale das Geschehen persönlicher zu machen – ausgezeichnet. Auch ist die Geschichte des Hauses durchaus interessant. Aber Bell steigert sich sehr dort hinein, baut eine innerliche Beziehung zu diesen Menschen auf, schreibt Seiten über Seiten mit überdramatisierten Fragen und Vermutungen über diese voll und führt am Ende des Buches sogar das bedenkliche und zweifelhafte Verfahren einer Familienaufstellung mit den Charakteren dieser seit langem verstorbenen früheren Bewohner des Hauses durch, was zu einem der befremdlichsten Abschnitte des Buches führt. Auch sonst tropft reichlich Esoterik von den Seiten. Da wird dann ein banaler Wasserschaden zu den Tränen einer Wohnung, die nicht möchte, daß Bell dort wohnt. Angebliche Heilsteine werden auslegt und die Leser allerlei esoterischen Ansichten ausgesetzt. Was das mit der Geschichte Berlins zu tun hat, bleibt ein Rätsel, aber auch die geschichtlichen Betrachtungen erfolgen leider häufig mit derlei esoterischem Unterton.
Wenn es denn mal um die Geschichte Berlins geht, sind die Ansichten durchaus interessant, auch sprachlich kann das Buch überzeugen. Ich freute mich nicht nur über Fontane, sondern auch, daß weniger bekannte Berliner wie Gabriele Tergit zu Wort kommen. Allgemein floss viel Wissen und hingebungsvolle Recherche ins das Buch. Auf die zahlreichen philosophischen Exkurse und ziellos mäandernden Gedanken hätte ich gut verzichten können, aber es ist durchaus eine Geschichtsbetrachtung, die neue Aspekte eröffnet. Die obskuren esoterischen Ausführungen und die Penetranz, mit der die Autorin ständig um sich kreist, und bei der ich mich immer wieder fragte, warum sie glaubt, das könnte die Leser, die ein Buch über die Geschichte Berlins gekauft haben, interessieren, hat mir das Buch allerdings sehr verleidet.

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