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Veröffentlicht am 22.02.2021

Hier wurde zu viel gewollt und dadurch zu wenig erreicht

Die vier Gezeiten
5

Das Buch hat mich durch das hinreißende Titelbild und einen originellen Anfang sofort angezogen. Es beginnt mit einem Tagebucheintrag, in der eine geplante Selbsttötung durch Ertrinken mit fast wissenschaftlicher ...

Das Buch hat mich durch das hinreißende Titelbild und einen originellen Anfang sofort angezogen. Es beginnt mit einem Tagebucheintrag, in der eine geplante Selbsttötung durch Ertrinken mit fast wissenschaftlicher Distanz betrachtet wird. Im nächsten Kapitel finden wir uns mitten in einer offensichtlich nicht harmonischen Familie, in die eine junge Frau namens Helen platzt, die offensichtlich mit ihnen verwandt ist – nur wie? Dies ist der Auslöser für die Geschichte der Juister Familie Kießling, die bis ins Jahr 1934 zurückgeht. Diese Geschichte wird, wie in momentan fast jedem Roman dieser Art, durch zahlreiche Rückblenden erzählt. Ich fand das erste Drittel des Buches teilweise etwas verwirrend, denn es taucht eine Vielzahl an Charakteren auf, die oft nicht wirklich vorgestellt werden. Die Rückblenden werden aus der Sicht Johannes und ihrer Tochter Adda erzählt, so dass es teilweise mit Epochen, Perspektiven und Charakteren etwas zu viel wurde. Nach und nach wurde ich aber mit den Charakteren vertraut – allerdings sind es einfach zu viele von ihnen und manche kommen so am Rande vor, dass ich auch am Ende des Buches bei manchen Namen erst mal überlegen mußte, wer denn das nun wieder ist.

Die Geschichte weiß, Spannung zu erzeugen. Aufhänger ist die Frage, wie Helen mit der Familie verwandt ist. Allerdings tritt dies ziemlich in den Hintergrund, Helen kommt über weite Strecken des Buches kaum vor, führt dann ähnliche Unterhaltungen mit diversen Familienmitgliedern. Am Ende wird das Geheimnis um ihre Herkunft ziemlich abrupt und unbefriedigend aufgelöst. Die Umstände ihres Erscheinens und ihrer Suche sind leider sehr konstruiert. Dies ist auch bei anderen Handlungssträngen öfter der Fall, Logik und Plausibilität mußten zu oft in den Hintergrund treten. Viele Entscheidungen und Entwicklungen der Charaktere sind ebenfalls nicht nachvollziehbar – gerade bei Johanne wurde der Zeitabschnitt, in dem sich wohl wichtige charakterliche Entwicklungen abspielten, gar nicht behandelt. Auch fand ich nicht plausibel, dass Helens Erscheinen plötzlich das jahrzehntelange Schweigen in der Familie beendet. Ein Großteil des Buches hat mit Helens Herkunft letztlich auch gar nichts zu tun, wir gehen hier zurück in Johannes Jugend in den 1930ern, später Addas Jugend in den 1950ern. Dieser Teil hat mir am besten gefallen. Zwar sind die Geschehnisse ziemlich konventionell – dies alles hat man schon in zahlreichen Büchern über diese Epochen so gelesen – und dadurch vorhersehbar, aber sie sind gut erzählt und dazu noch wundervoll in die Juister Atmosphäre eingebettet. Dieser Juister Hintergrund war für mich der stärkste Teil des Buches. Die Autorin schafft es, die Insel vor meinen Augen erscheinen zu lassen. Hier wird mit soviel Liebe, Können und Wissen geschildert, dass das Lesen ein Genuß ist. Auf gelungene Weise wird die Geschichte Juists in die Geschichte verwebt, ich habe viel gelernt, auch finden sich hier Charaktere, die liebevoll und sorgfältig konzipiert wurden (anders als z.B. die Töchter Addas, die größtenteils völlig blass bleiben). Auch die Atmosphäre der 1930er und 1950er ist ausgezeichnet geschildert und eingefangen. Wenn sich das Buch auf diese Dinge konzentriert hätte, wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch geworden.

Leider aber will die Autorin für meinen Geschmack zu viel. Neben der Vielzahl an Charakteren kommen dann auch zahlreiche Familiengeheimnisse ans Licht. Gerade im letzten Drittel folgt ein neues Thema dem anderen und es wurde zunehmend unglaubwürdig, was alles vorgefallen und verschwiegen wurde und nun auf einmal aufgedeckt wird. Dann werden auch manche Klischees überbenutzt, gerade beim Thema unerwünschter Schwangerschaften kam ich mir als Leser am Ende geradezu verulkt vor. Auch die Zeitgeschichte bis in die 1980er findet Eingang in die Geschichte, dies aber im Schnelldurchlauf, ohne die erzählerische Dichte der vorherigen im Buch behandelten Epochen. Weniger ist mehr, das habe ich beim Lesen oft gedacht.

So war „Die vier Gezeiten“ für mich ein Buch, das einerseits durch wundervolle Atmosphäre, eine gelungene Verwebung von Zeit- und Familiengeschichte und herrlich erzählte Szenen eine wahre Freude war, aber durch zu viele Charaktere, zu viele Handlungsstränge, zu viele Klischees und zu viele dadurch rasch abgehandelte Aspekte enttäuschte.

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Veröffentlicht am 03.12.2020

Interessantes Thema, dessen Präsentation mich nicht überzeugte

Das Handelshaus
0

Bei „Das Handelshaus“ hat mich das ausgesprochen gelungene Titelbild (welch erfreuliche Abwechslung vom öden Einheitsbrei der ewig gleichen 08/15 „Frau vor Gebäude“-Titelbilder!) sofort angesprochen. Auch ...

Bei „Das Handelshaus“ hat mich das ausgesprochen gelungene Titelbild (welch erfreuliche Abwechslung vom öden Einheitsbrei der ewig gleichen 08/15 „Frau vor Gebäude“-Titelbilder!) sofort angesprochen. Auch der Klappentext klang vielversprechend – ein bedeutendes Handelshaus wird vom Untergang bedroht, dazu familieninterne Konflikte und das Ganze vor dem Hintergrund des 16. Jahrhunderts. Leider konnte das Buch meine Erwartungen nicht erfüllen.

Es beginnt mit einem spannenden und eindringlichen Rückblick in die Kindheit der Loytz-Brüder. Hier schon haben mir die historischen Details gefallen und auch der Einblick in die Familiendynamik war gelungen. Nach dem Rückblick geht die Geschichte dann erst mal recht geruhsam los, hier begegnen uns die Loytz-Brüder als erwachsene Männer. So richtig lernen wir sie leider im Laufe des Buches nicht kennen, die Charakterentwicklung ging mir allgemein nicht tief genug. Während uns der mittlere Bruder Stephan allmählich vertrauter wird, bleibt der jüngste Bruder eine Randerscheinung, kommt über weite Strecken gar nicht vor, so daß es etwas seltsam anmutet, als er im letzten Teil des Buches plötzlich eine größere Rolle einnimmt. Der älteste Bruder bietet in seiner verstörenden Art viel Potential, welches aber nicht ausgeschöpft wird, so daß spätere Entwicklungen befremdlich wirken. Die Großmutter wird zwar ständig erwähnt, bleibt aber nahezu eigenschaftslos. Vielleicht ist diese nicht so sorgfältige Charakterzeichnung mit ein Grund, daß Handlungen und Entscheidungen der Charaktere häufig nicht ganz nachvollziehbar sind, auch wenn sie uns gerne weitschweifig erklärt werden.

Das erste Drittel des Buches ist fast episodisch, gerade am Anfang wechseln Schauplätze und Perspektiven so oft, daß ich keinen richtigen Bezug zu der Geschichte aufbauen konnte. Der Mittelteil ist dann fokussierter und widmet sich auch dem Kernthema mehr. Hier habe ich gebannt und mit Freude gelesen. Dann dreht der Autor plötzlich auf und das so plötzlich und extrem, daß es mir zu viel war. Die Geschichte wurde mit einem Mal viel zu übertrieben und ab da verlor ich die Leselust, so daß mir der Ausgang schließlich egal war. Insofern konnte die Geschichte mich ebenfalls nicht überzeugen. Am besten war sie, wenn sie sich auf die alltäglichen Gegebenheiten des Handelslebens und die Familiendynamik konzentrierte.

Der Schreibstil ist leicht zu lesen. Ein wenig amüsiert hat mich die Tendenz, viele neue Abschnitte erst mal mit einem Wetterbericht zu beginnen. Absolut lobenswert ist die historische Recherche – hier habe ich eine ganze Menge gelernt und meistens war das Wissen gut eingearbeitet. Leider erstreckte sich das nicht auf die Dialoge. Nun müssen diese nicht künstlich auf altertümlich getrimmt sein, das wirkt oft eher lächerlich. Aber ein wenig Gefühl für die Zeit sollten sie schon vermitteln und moderne Ausdrücke wie „das kann er vergessen“ o.ä. sind in einem im 16. Jahrhundert spielenden Buch fehl am Platz. Die Dialoge haben mich meistens ziemlich aus der Epoche rausgerissen, was gerade angesichts der sorgfältigen historischen Hintergrundinformationen schade ist. Ebenfalls gestört haben mich die häufigen Wiederholungen und Erklärungen des Offensichtlichen.

So widmet sich „Das Handelshaus“ einem interessanten Thema, welches uns sorgfältig recherchiert geschildert wird und zu dem der Autor sich viel hat einfallen lassen – vielleicht etwas zu viel. Leider wurde es für meinen Geschmack aber nicht überzeugend präsentiert.

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Veröffentlicht am 07.10.2020

Fehlende Charaktertiefe, von der Erzählweise nicht außergewöhnlich

Black Rabbit Hall - Eine Familie. Ein Geheimnis. Ein Sommer, der alles verändert.
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Mit Black Rabbit Hall geht Eve Chase größtenteils keine sonderlich neuen Wege. Ein altes Haus, ein dunkles Geheimnis, das Frauen zweier Zeitepochen verbindet. Wie die Thematik ist auch die Erzählweise ...

Mit Black Rabbit Hall geht Eve Chase größtenteils keine sonderlich neuen Wege. Ein altes Haus, ein dunkles Geheimnis, das Frauen zweier Zeitepochen verbindet. Wie die Thematik ist auch die Erzählweise nicht innovativ: erzählt wird auf zwei Zeitebenen, wir begleiten Amber in den Jahren 1968/69 und Lorna etwa 30 Jahre später.

Ambers Geschichte nimmt weitaus mehr Raum ein, was gut ist, weil sie wesentlich besser ist als Lornas. Die Teenagerin Amber berichtet als Ich-Erzählerin und wir erfahren von den Ereignissen, die sich in jenen Jahren auf dem Landsitz der Familie abspielen. Das wird sehr farbig, aber auch sehr ausführlich erzählt. Die Autorin verliert sich häufig in alltäglichen Details, baut die Atmosphäre etwas zu detailfreudig auf. Das wurde oft langweilig und seltsamerweise bleiben trotz dieser Detailfreude die Charaktere und ihre Motivationen etwas auf der Strecke. Ambers Bruder Toby ist von Anfang an ein durchaus verstörter junger Mann und das nimmt rapide extreme Ausmaße an. Das wird durch eine Familientragödie ansatzweise, aber nicht ausreichend erklärt. Auch sonst kratzen wir abgesehen von Amber immer nur an der Oberfläche der Charaktere. Ambers Vater ist völlig vage und auch der Charakter der Stiefmutter hätte sich viel besser darstellen lassen können. Wesentliche Dinge werden nur angeschnitten, während Alltagsplaudereien und Nichtigkeiten sehr ausgewalzt werden. Die Gewichtung hat mir also nicht wirklich zugesagt.

Auch bei Lorna bleiben die Charaktere größtenteils blass und waren teilweise unnötig (zB Lornas kleiner Neffe, der am Ende ständig mit putzigen kleinen Bemerkungen erwähnt wird und überhaupt nichts zur Geschichte beiträgt). Lornas Motivationen bleiben noch mehr im Dunkeln. Sie möchte in dem alten Landhaus unbedingt heiraten – warum es so ein dringliches Anliegen ist, wird nicht wirklich glaubhaft. Auch später gibt es viel „sie wußte nicht warum, aber sie wußte einfach, daß …“ und „Es war, als ob sie den Weg einfach finden sollte“, was alles arg konstruiert wirkt. Auch der Grund, warum sie einige Tage in dem Haus verbringt, ist nicht überzeugend. Lorna erwähnt nachher, es wäre, als ob das Haus selbst ihr das Geheimnis eröffnen wollte – da es sich hier um keinen übersinnlichen Roman handelt, wirkt das eher wie eine Ausrede, Lornas Motivationen nicht hinreichend erklären zu können.

Der Schreibstil liest sich leicht, ist an manchen Stellen wirklich gut. Gerade wenn es um Beschreibung von Trauer und Verlust geht, findet die Autorin berührende und wahre Worte. Auch die Beschreibung des Hauses und der Umgebung ist farbig und gelungen. Wenn es um das Atmosphärische geht, wird es für meinen Geschmack öfter zu detailverliebt, aber das ist Geschmackssache. Gerade bei Lornas Abschnitten wird der Stil dann aber auch häufig weniger gut, ist an manchen Stellen regelrecht unbeholfen. Mir hätte das Buch ohne Lornas Abschnitte ohnehin wesentlich besser gefallen. Insofern war es ein gemischtes Vergnügen – überwiegend war der Stil aber durchaus in Ordnung.

Was Amber und Lorna verbindet, ist etwa ab der Hälfte des Buches klar, allerdings gibt es durchaus noch einige Überraschungen und gelungene Wendungen. Nachdem der Großteil der Geschichte geruhsam vor sich hinplätschert, überschlagen sich am Ende die Ereignisse. Das war mir gleich in mehrerer Hinsicht zu übertrieben und verschenkte zudem die Möglichkeit, einige relevante Punkte genauer zu betrachten. Dann folgt noch ein arg zuckerwattiges Ende.

So kann das Buch durchaus unterhalten, auch sind einige Aspekte des Familiengeheimnisses originell und ungewöhnlich. Hätte die Autorin auf die konstruierte zweite Zeitebene mit Lorna verzichtet und sich dafür mehr der Charakterzeichnung gewidmet, hätte es m.E. zu einem kraftvolleren und mehr im Gedächtnis bleibenden Buch geführt. So ist es eines von vielen „Frau entdeckt Geheimnis in altem Haus“-Büchern, die man zwischendurch gut weglesen kann.

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Veröffentlicht am 19.09.2020

Interessantes Thema, zu schlicht und oberflächlich erzählt

Kranichland
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„Kranichland“ behandelt einen traurigen und gut ausgewählten Aspekt des Lebens in der DDR. Es wird gezeigt, wie grausam das System war und welche Entscheidungen jene treffen mussten, die in ihm lebten. ...

„Kranichland“ behandelt einen traurigen und gut ausgewählten Aspekt des Lebens in der DDR. Es wird gezeigt, wie grausam das System war und welche Entscheidungen jene treffen mussten, die in ihm lebten. Die Geschichte wird, wie in momentan fast jedem historischen Roman, auf mehreren Zeitebenen berichtet. Im „Heute“ erfährt Theresa von einem dunklen Geheimnis in ihrer Familie, in den Vergangenheitskapiteln wird uns dieses Geheimnis nach und nach aufgedeckt. Dieser in der Gegenwart spielende Teil wirkt ein wenig konstruiert. Zwei Menschen in der Familie möchten nicht, daß die Lüge länger aufrechterhalten wird, beide schreiben zu diesem Zweck Briefe, die auf eine solche Lüge hinweisen, sonst aber völlig kryptisch sind. Wenn solch unrealistischen Kniffe angewandt werden, fühle ich mich als Leser immer nicht ernst genommen. Trotzdem ist das erste Drittel des Buches interessant.

Die Rückblicke beginnen im Jahr 1936, führen uns durch die Kriegsjahre und die Anfänge der DDR. Wir lernen Johannes und Elisabeth kennen und es liest sich unterhaltsam, wie sie zueinander finden und sich nach den Kriegsjahren allmählich etwas aufbauen, wie Johannes zum Stasimitarbeiter wird. Der Schreibstil ist leider sehr schlicht und das hat mich beim Lesen zunehmend gestört, auch wenn es zu Beginn noch durch den Inhalt der Geschichte wettgemacht wird. Umso mehr aber auch die Geschichte abnimmt, desto mehr wurde mein Lesevergnügen von dem zu einfachen Schreibstil beeinträchtigt.

Das Familiengeheimnis wird etwa nach der Hälfte des Buches aufgedeckt. Es ist, wie bereits erwähnt, mit einem dunklen Teil der DDR-Geschichte verbunden und war teilweise anrührend beschrieben, im Großteil aber blieb alles zu sehr an der Oberfläche, um mich richtig hineinzuziehen. Das ist ein Aspekt, der mir auch beim zweiten Buch der Autorin nicht zugesagt hat: wichtige Themen bleiben oberflächlich, unwichtige Themen werden detailliert behandelt. Mir blieben zudem einige der Charaktere fremd. Charlotte, die systemtreue Tochter von Johannes und Elisabeth, bleibt eine Randerscheinung, ihre und ihres Vaters Motive, deren Gedanken nach der Wende, werden rasch und nebenbei abgehandelt.

Sobald das Geheimnis ans Licht kommt, wird das Buch leider langweilig. Im letzten Drittel wird hauptsächlich berichtet,wie die diversen Charaktere einander über das Familiengeheimnis informieren, immer und immer wieder erfahren wir, was passiert ist. Es wird ständig wiederholt, in Gesprächen, in Gedanken, so daß dieses letzte Drittel wie eine Art Endlosschleife wirkt. Auch die Rückblicke werden irrelevanter, verlieren sich im Belanglosen. Das Buch fing gut an, steigerte sich bis zur Hälfte, um ab dann immer weiter abzufallen.

Gut gefallen hat mir das Titelbild (keine Frau in historischer Kleidung vor einem Gebäude, welche Erholung vom Titelbildeinerlei historischer Romane!) und die gelungene Innengestaltung. Unten steht auf jeder zweiten Seite die Jahreszahl des jeweiligen Kapitels, die einzelnen Abschnitte sind durch kleine Kraniche unterteilt, die wichtigsten Figuren stehen mit Kurzbiographien innen im Einband. Das ist sehr ansprechend gemacht.

So erzählt „Kranichland“ eine wichtige und interessante Geschichte, aus der so viel mehr hätte gemacht werden können. Der schlichte Schreibstil und der sich dahinschleppende letzte Teil mit seinen zahlreichen Wiederholungen, der mangelnde Tiefgang relevanter Aspekte haben mir das Lesevergnügen leider doch getrübt.

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Veröffentlicht am 16.06.2020

Viele Details, wenig Handlung, kein überzeugendes Konstrukt

City of Girls
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Es gab wenige Bücher, bei denen mich die Leseprobe so begeistert hat. Die 19jährige Vivian berichtet, warum sie 1940 von ihren Eltern nach New York geschickt wird und dieser Überblick ist so spritzig, ...

Es gab wenige Bücher, bei denen mich die Leseprobe so begeistert hat. Die 19jährige Vivian berichtet, warum sie 1940 von ihren Eltern nach New York geschickt wird und dieser Überblick ist so spritzig, mit so viel Wortwitz geschildert, daß das Lesen richtig Spaß macht. Mit scharfem Blick beobachtet Vivian ihre Mitmenschen, skizziert treffend Vassar-Mitstudentinnen mit "wichtigtuerischem Haar" (ein herrlicher Ausdruck!), entwirft das Bild ihrer Oberschichteltern, des perfekten Bruders und der exzentrischen Großmutter. Es gibt hier so viel Originelles, daß ich es kaum erwarten konnte, mit Vivian die ersten Schritte in New York zu erleben und auch ihr Umfeld besser kennenzulernen. Vivian versprach, eine unterhaltsame und scharfsinnige Protagonistin zu werden. Ich beschreibe das so genau, weil dieser Anfang so hohe Erwartungen weckte, die leider dann sehr enttäuscht wurden. Der spritzige Schreibstil blitzt nach diesem Anfang nur noch vereinzelt durch und Vivian erweist sich als blasse Protagonistin. Irgendwann sagt ihr jemand, daß sie nicht interessant ist und es nie werden wird, und das stimmt leider.

Nach dem flotten, vielversprechenden Anfang sinkt das Erzähltempo stark. Vivian zieht in das heruntergekommene Theater ihrer Tante Peg und zunächst lesen wir noch recht unterhaltsame Beschreibungen der dort lebenden und arbeitenden skurrilen Leute - talentierte Musiker, aufregende Revuegirls, ein verzweifelnder Stückeschreiber. Es ist eine recht gute Spiegelung der Kunst- und Theaterwelt New Yorks in jenen Jahren, auch einige von Vivians Erlebnissen zeigen dieses New York unterhaltsam. Leider verliert die Autorin sich dann aber sehr in diesen Beschreibungen. Wir erfahren en detail, welche Shows das Theater zeigt - inklusive genauer Informationen über Musik, Geschichten, Kulissen, Kostüme. Das ist anfangs noch interessant, hört aber gar nicht mehr auf, wiederholt sich und wird langweilig. Seitenlange Beschreibungen der einzelnen Kleidungsstücke einer Schauspielerin und langatmige Unterhaltungen über die Kleider tragen nichts zur Geschichte bei und sind regelrecht zäh.
Auch Vivans eigenes Leben befindet sich bald in einem recht einseitigen Kreislauf. Vivian verbringt ihre Zeit hauptsächlich damit, auszugehen und mit Männern ins Bett zu gehen. Viele gleichlautende Passagen des immergleichen Geschehens. Das machte leider wenig Lesespaß. Es wird generell gerne wiederholt - Dinge werden nicht einmal erklärt, sondern gleich mehrfach hintereinander. Wo ein Satz alle notwendigen Informationen vermittelt, folgen noch vier weitere. Manche Fakten erfahren wir alle paar Seiten erneut. Ich mußte mich hier oft zwingen, weiterzulesen.

Als das Theater die Show "City of Girls" vorbereitet und aufführt, geht es um die 80 Seiten fast nur um diese Show - Handlung bis hin zur detaillierten Beschreibung einzelner Szenen, Charaktere, Liedtexte, unzählige ähnlich lautende Zeitungskritiken. Auch hier sind die Details für den Fortgang der Geschichte nicht relevant und lesen sich zäh. Das war der schwächste Teil des ganzen Buches. Der im Klappentext erwähnte Skandal bringt dann kurzfristig ein wenig Tempo in die Geschichte und es folgt ein Teil, den ich hervorragend fand: die direkten Auswirkungen des Krieges auf die Familie. Das ist mit so wenigen Worten so eindrücklich beschrieben, daß ich manche Sätze mehrfach las und tief berührt war. Leider verliert sich dieser prägnante Stil schnell wieder in der detailverliebten Geschwätzigkeit ohne wirkliche Handlung.

Im letzten Teil tauchen plötzlich lauter neue Charaktere auf, die teilweise ausführlich beschrieben werden, um dann nie wieder vorzukommen. Mehrere neue Entwicklungen werden halbherzig und rasch in die Geschichte geworfen, während die eigentliche Handlung behäbig voranschreitet. Auch hier habe ich mich leider sehr gelangweilt.

Die Prämisse des Buches ist, daß Vivian als 90jährige Frau einer uns unbekannten Angela erklärt, was Angelas Vater ihr bedeutet hat. Das Buch richtet sich wie ein Brief an diese Angela, was sich eigentlich nur dadurch bemerkbar macht, daß Angela manchmal direkt angesprochen wird. Wer sie ist, wer ihr Vater ist - das erfahren wir erst am Ende des Buches und deshalb funktioniert das Konstrukt für mich nicht. Vivian behauptet, Angela von ihrem Vater erzählen zu wollen. Zu 90 % erzählt sie ihr aber Dinge, die in dieser Hinsicht völlig irrelevant sind. Was sollte Angela mit den Details über Schauspielerkleidungsstücke, einem 1940 aufgeführten Stück und insbesondere mit den vielen, vielen (völlig unnötigen) Details über Vivians Liebesleben anfangen können? Warum sollte Vivian das alles einer ihr fast Unbekannten erzählen? Die Geschichte von Angelas Vater wirkt dann am Ende wie draufgepfropft. Dafür, das sie das Thema des Buches sein sollte, erhält sie zu wenig Beachtung und spielt zu spät eine Rolle.

Äußerlich ist das Buch sehr ansprechend gestaltet. Das Titelbild fängt die Stimmung gut ein, fällt auf angenehme Weise auf. Die Schrift findet sich in den Kapitelüberschriften wieder - ebenfalls sehr gelungen. Weniger erfreut war ich über einige verunglückte Übersetzungsformulierungen. So wurde sich oft zu sehr an den englischen Originaltext angelehnt, was bei einer guten Übersetzung nicht passieren sollte. Zum Beispiel findet sich der Satz "Peg war entsetzt von den Kosten" - da blitzt das "shocked by the costs" durch, im Deutschen würde man das aber nie sagen, da wäre man "entsetzt über die Kosten". Dann wechseln zwei Leute mitten in einer Unterhaltung vom "Sie" zum "Du", ohne daß es nachvollziehbar ist, warum plötzlich von einem Satz zum anderen die Form der Anrede gewechselt wird. Solche Fehler haben mich bei einem Verlag vom Format des Fischer Verlags doch überrascht. Es sind nur einzelne Punkte in einer Übersetzung, die sich sonst gut lesen läßt, aber es kam doch öfter vor, als es wünschenswert gewesen wäre.

So haben wir hier eine sehr handlungsarme detailverliebte Schilderung, deren Prämisse nicht zum Inhalt paßt. Es gibt witzige und auch berührende Passagen. Es gibt auch originelle, gut getroffene Charaktere und interessante Informationen über New York im zweiten Weltkrieg. Leider ersticken die guten Aspekte in unnötigen Details und Wiederholungen, kranken außerdem an einer wenig mitreißenden Protagonistin.

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