Profilbild von Wacaha

Wacaha

Lesejury Star
offline

Wacaha ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Wacaha über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.05.2021

Vom traurigen Leben und Sterben dementer Menschen auf der Straße

Tödliches Vergessen
0

Ein Spaziergänger in der Berliner Hasenheide macht eine grausige Entdeckung: Unter einem blauen Regenschirm verborgen liegt eine tote Obdachlose, in ihrer Hand steht ein Psalm geschrieben. Hauptkommissar ...

Ein Spaziergänger in der Berliner Hasenheide macht eine grausige Entdeckung: Unter einem blauen Regenschirm verborgen liegt eine tote Obdachlose, in ihrer Hand steht ein Psalm geschrieben. Hauptkommissar Breschnow, frisch aus dem Alkoholentzug entlassen und noch auf dem Weg mit der neuen Situation klarzukommen, nimmt sich des Falles an. Doch bevor die Ermittlungen in Gang kommen wird ein weiterer toter Obdachloser gefunden, ebenfalls mit einem blauen Regenschirm. In welchem Zusammenhang stehen die beiden Toten? Und handelt es sich um einen Serienmörder? Breschnow taucht tief ein in die Welt der Berliner Obdachlosen und muss mit Erschrecken feststellen, dass eine sowieso schon grausame Krankheit wie Demenz auch vor den Ärmsten der Gesellschaft nicht Halt macht – mit dramatischen Folgen.
Bereits das Cover des Buches sticht direkt ins Auge: Der passend zum Titel blau-türkisene Schirm fällt auf dem schwarz-weiß gehaltenen Hintergrund sehr auf und stellt einen Eyecatcher dar. Insgesamt ist das Cover eher minimalistisch, aber durch die Hervorhebung des Schirmes wird sofort klar, dass er eine wichtige Bedeutung im Buch haben wird. Dass er defekt ist lässt ebenfalls darauf schließen, dass etwas Schlimmes geschehen ist – ein passendes Cover also für ein spannungsgeladenes Buch.
„Tödliches Vergessen“ ist der 4. Fall für Hauptkommissar Stefan Breschnow, wurde aber nicht als Teil einer Reihe angekündigt. Ich war somit zunächst einmal etwas verwirrt und hatte das Gefühl, wichtige Hintergrundinformationen zu Breschnows Vergangenheit überlesen zu haben. An manchen Stellen hätte ich mir etwas mehr Aufklärung gewünscht, aber insgesamt war der Fall dann doch abgeschlossen und auch ohne Kenntnis der ersten drei Teile gut verständlich.
Der Einstieg ins Buch beginnt spannend aus Sicht des ersten Mordopfers. Sofort wird der blaue Regenschirm als Symbol für das Unglück eingeführt. Gleich danach geht es gemächlicher weiter, der Leser lernt Hauptkommissar Breschnow in seinem aktuellen Zustand nach dem Alkoholentzug kennen. Sein erster Arbeitstag steht bevor und er weiß noch nicht wirklich mit der neuen Situation umzugehen. Dieser persönliche Kampf ums Trockenbleiben wird an vielen Stellen des Buches auf authentische Art und Weise eingebaut und zeigt die innere Zerrissenheit, denen sich ehemalige Süchtige stellen müssen. Auch weitere Beteiligte werden in den ersten Kapiteln langsam eingeführt und das Setting in der Berliner Obdachlosenszene beschrieben. Die Geschichte nimmt mit dem zweiten Todesfall an Dynamik zu und zieht mich immer tiefer in ihren Bann, das Motiv hinter den Morden und der tatsächliche Täter bleiben bis zum Schluss rätselhaft und überraschen mich in ihrer Auflösung. Des Weiteren rückt immer deutlicher das Krankheitsbild der Demenz in den Mittelpunkt des Geschehens und berührt mich emotional sehr. Es werden zahlreiche tragische Einzelschicksale beschrieben, die es tatsächlich so geben könnte und mich nachdenken lassen. Das Buch ist so authentisch beschrieben, dass man sich vorstellen kann, dass jeder in unserer Gesellschaft in eine derartige traurige Situation kommen kann – es zeigt somit die bittere Realität auf ungeschönte Art und Weise.
Auch wenn ich die im Buch geschilderten Themen als sehr wichtig empfunden habe kam bei mir nicht die große Spannung eines Thrillers oder Krimis auf, es wirkte eher wie ein gut recherchierter Tatsachen- oder Hintergrundbericht über die Berliner Obdachlosenszene. Diese empfand ich als sehr informativ und bedanke mich für diese schockierenden, aber wichtigen Einblicke. Inhaltlich gab es für meinen Geschmack etwas zu viele Zufälle, besonders hinsichtlich der früheren Verbindungen der Beteiligten und deren Zusammentreffen in ein und derselben Einrichtung. Auch ist für mich am Ende ein Tod unerklärt geblieben.
Insgesamt hat mir das Buch aber dennoch sehr gut gefallen, die Einblicke sowohl in die Welt der Obdachlosigkeit, als auch die der Demenz waren authentisch und nachvollziehbar geschildert. Und die Kombination aus beidem hat mich ehrlich betroffen gemacht und zum Nachdenken angeregt. Diese Menschen tun mir unendlich leid. Insofern ist es umso wichtiger, dass auch ihnen mal ein Buch gewidmet wird - ein ungewöhnliches, wie wichtiges Thema, das in "Tödliches Vergessen" eindrücklich geschildert wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.05.2021

Die ersten Minuten entscheiden zwischen Leben und Tod

Zwischen zwei Herzschlägen
0

Was für ein wichtiges Buch über ein viel zu häufig vernachlässigtes, aber extrem relevantes Thema: Der Notwendigkeit der Ersten-Hilfe! Die Aussage des Buches, dass wirklich jeder Leben retten kann und ...

Was für ein wichtiges Buch über ein viel zu häufig vernachlässigtes, aber extrem relevantes Thema: Der Notwendigkeit der Ersten-Hilfe! Die Aussage des Buches, dass wirklich jeder Leben retten kann und das Verhalten eines jeden in den ersten Minuten eines Herzstillstands über Leben und Tod entscheiden können, wurde wunderbar vermittelt und auch im Nachwort des Buches noch einmal betont. Und so zieht sich das Thema Medizin und Erste-Hilfe auch durch das komplette Buch, verpackt in die Lebensgeschichte dreier Beteiligter:

Am Abend der Millennium-Nacht trifft sich die gesamte Jugend Brightons am Strand, um gemeinsam zu feiern. Etwas abseits davon stehen auch Kerry und Tim, zwei langjährige Freunde, die nicht wirklich Anschluss zu den „coolen“ Jugendlichen haben, da sie eher als Nerds mit seltsamen Hobbies wie dem Engagement in der Sanitäterjugend gelten. Doch in dieser Nacht kommen Kerry genau diese Kenntnisse zu Gute als Joel, der Held des ansässigen Fußballteams, plötzlich auf dem Strand zusammenbricht. Kerry reagiert als einzige und bringt Joel durch eine Herzmassage zurück ins Leben, während Tim paralysiert danebensteht und nichts tun kann. Durch dieses Ereignis sind die drei jungen Menschen auf ewig miteinander verbunden – auf positive wie negative Art und Weise, wie die nächsten zwei Jahrzehnte voller Irrungen und Wirrungen, aber ständiger Wiederbegegnungen zeigen werden.

„Zwischen zwei Herzschlägen“ ist ein sehr einfühlsames Buch, das neben der Relevanz der medizinischen Erstversorgung auch noch einige andere wichtige Themen beinhaltet: Drogensucht, Krebs, Verlust, elterliche Liebe, Adoption, Depression und vieles mehr. An manchen Stellen wurde meines Geschmacks nach versucht, zu viel ernstes Thema in einer Geschichte unterzubringen und so haben sich die Ereignisse manchmal etwas zu sehr überschlagen. Insgesamt hat mir aber sowohl die Story, als auch die Sprache des Buches sehr gut gefallen. An der Hörbuchversion fand ich besonders herausragend, dass die drei Hauptfiguren, aus deren Perspektiven das Buch abwechselnd spielt, von drei unterschiedlichen Sprechern gelesen wurden: Madiha Kelling Bergner, Jacob Weigert und Marian Funk. Die Stimmen waren gut voneinander zu unterscheiden, die von Kerry fand ich sehr passend, die von Joel so eindringlich, dass sie Gänsehaut bei mir verursacht hat. Die drei Stimmen haben sich perfekt ergänzt und das Buch noch lebendiger wirken lassen.

Es war ebenfalls interessant, Kerry, Tim und Joel über so viele Jahre hinweg auf ihren Lebenswegen begleiten zu können, die alle auf ihre Art und Weise Höhen und Tiefen zu bewältigen hatten. So konnte ich jede Person mit all ihren Facetten, Stärken und Schwächen gut kennenlernen, habe mit ihnen mitgefiebert und sie sind mir sehr ans Herz gewachsen. Zunächst fand ich die Personen etwas klischeehaft: Tim der Nerd, Kerry die Heilige, Joel der Badboy. Aber diese Stereotypen verschwimmen mit der Zeit und wir lernen, dass hinter jeder Person mehr steckt als das anfänglich vermutete. Die Entwicklungen der drei waren interessant mit zu verfolgen. Immer präsent und als verbindendes Glied stand das Thema Medizin/ Herzstillstand/ Erste-Hilfe-Maßnahmen zwischen den dreien und hat sich wie ein roter Faden durchs Buch gezogen.

Insofern ist der Titel des Buches meiner Meinung nach sehr passend, da er sowohl auf die Emotionen zwischen den drei Protagonisten, als auch das medizinische Ereignis in der Silvesternacht anspielt. Auch das Cover ist sehr ansprechend, ich mag den Kontrast zwischen dem dunkelblauen Hintergrund und den zarten goldenen Grafiken und Figuren in One-Line-Technik.

Insgesamt hat mir „Zwischen zwei Herzschlägen“ vor allem aufgrund der großen Relevanz des Themas Erste-Hilfe, eingebaut in die unterschiedlich verlaufenden Lebensgeschichten dreier Protagonisten sehr gut gefallen. Ich kann das Buch jedem empfehlen, genau wie ich jedem empfehlen kann, sich mit Erste-Hilfe-Notfallmaßnahmen vertraut zu machen und in regelmäßigen Abständen einen entsprechenden Kurs zu besuchen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.05.2021

Eine mutige alte Frau geht ihren Weg

Als wir uns die Welt versprachen
0

Edna ist eine fast 90jährige rüstige alte Dame, die mit Papagei Emil zurückgezogen in einem kleinen Dorf in Südtirol lebt. Keiner der Dorfbewohner ahnt, dass Edna in ihrer Kindheit schreckliches erleben ...

Edna ist eine fast 90jährige rüstige alte Dame, die mit Papagei Emil zurückgezogen in einem kleinen Dorf in Südtirol lebt. Keiner der Dorfbewohner ahnt, dass Edna in ihrer Kindheit schreckliches erleben musste, da sie von ihrer Familie als sogenanntes „Schwabenkind“ über die Alpen nach Deutschland verkauft wurde, um bereits als 10jährige Schwerstarbeit auf einem schwäbischen Bauernhof zu leisten. In diesen harten Monaten hat sich eine enge Freundschaft mit Jacob aufgebaut, einem Jungen, der sich um sie gekümmert und sie so gut es geht beschützt hat. Damals haben sich die geschworen, zusammen fliehen – gelungen ist es nur Edna. Als die alte Dame Edna nun Jacobs Foto in einer Zeitung sieht, fühlt sie sich an das alte Versprechen gebunden und rüstet sich zum Aufbruch: Sie möchte Emil Jacob zurückbringen und dafür ist ihr kein Weg zu weit oder zu steinig – selbst der der Schwabenkinder über die Berge nicht.

„Als wir uns die Welt versprachen“ von Romina Casagrande ist ein berührender Roman, der zwei Geschichten in einer vereint: Die der jungen Edna aus der Zeit als Schwabenkind und die der alten Edna auf ihrer Reise zurück nach Ravensburg. Der Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart liest sich angenehm, auch wenn zu Beginn eines neuen Kapitels zunächst nicht eindeutig klar ist, in welcher Zeit wir uns gerade befinden. Das in Sepia gehaltene Bild des kleinen Mädchens passt sehr gut dazu, man kann sich gut vorstellen, dass es sich dabei um das Foto aus dem Buch handelt. Auch gut gefällt mir die abgedruckte Karte, die ebenfalls eine große Rolle in der Geschichte spielt. Ich hatte viel Freude dabei, anhand dieser Ednas Weg nachzuvollziehen.

Der Schreibstil der Autorin ist zugegebenermaßen etwas gewöhnungsbedürftig und ich habe dadurch etwas gebraucht, bis ich wirklich in die Geschichte eintauchen konnte. Vieles wird nur angedeutet und die vielen zusätzlichen Einschübe in Klammern waren so zahlreich, dass sie den Lesefluss etwas beeinträchtigt haben. Auch wirkt das Erzähltempo aufgrund des Schreibstils mit vielen Detailbeschreibungen irgendwie sehr langsam. Dies passt zwar zur Sichtweise der alten Dame, für meinen Geschmack hätte die Story aber an einigen Stellen schneller voranschreiten dürfen. Mit der Zeit habe ich mich aber an den etwas anderen Schreibstil gewohnt und mich nicht mehr daran gestört.

Der Erzählstrang aus der Vergangenheit ist der Autorin sehr gut gelungen. Das Mädchen Edna berichtet in ihrer naiven Art von den schlimmen Geschehnissen auf dem Hof, durch ihre kindliche Erzählweise wirken trotz ihres Schreckens beinahe alltäglich. Die Szenen auf dem Hof haben mich tief erschüttert, vor allem weil sie auf der wahren Geschichte der „Schwabenkinder“ beruhen, über die es meiner Meinung nach viel zu wenig Aufklärung gibt. Ihr Schicksal hat mich unheimlich erschüttert und traurig gemacht.

Wo der Vergangenheitsstrang durch seine grausame Authentizität überzeugt, desto unglaubwürdiger wirkt der aus der Gegenwart. Auch wenn es amüsant zu lesen war, so halte ich es doch für überzogen, dass eine fast 90jährige alleine mit einem Papagei den Weg über die Alpen geht, ohne dabei aufzufallen oder zusammenzubrechen. Natürlich erhält sie Hilfe von verschiedensten Leuten, überwindet eigene Vorurteile und lernt dabei viele Lebensweisheiten, aber an vielen Stellen wirkte die Wanderung dann doch zu konstruiert, um noch realistisch zu sein. Trotzdem sind der Trip und ihre Begegnungen sehr unterhaltsam. Das Ende hingegen hat mich traurig hinterlassen. Es ist emotional, irgendwie aber auch stimmig. Vieles bleibt ungesagt, aber Edna schließt ihren Frieden mit ihrem Schicksal. Dieses Ende hat mich sehr berührt, auch aufgrund seiner gnadenlosen Ehrlichkeit – der Kreis hat sich geschlossen.

Der alten Dame Edna stand ich bis zum Ende hin etwas zwiespältig gegenüber. Einerseits hatte ich das Gefühl, dass sie nicht mehr vollkommen klar denken kann, stark in der Vergangenheit lebt und darüber hinaus ihre körperlichen wie geistigen Fähigkeiten überschätzt. Andererseits bewundere ich sie für ihren Mut, ihre Hartnäckigkeit und Entschlossenheit, das Versprechen Jacob gegenüber einzuhalten. Auch ist sie sehr tolerant, wundert sich zwar über die seltsamen Menschen, die ihr auf ihrer Reise begegnen, gibt aber jedem eine Chance und sieht das Gute in ihnen. Dadurch werden beiderseits Vorurteile abgebaut und generationsübergreifende Lebensweisheiten ausgetauscht.

Insgesamt hat mir das Buch trotz einiger unrealistischer Begebenheiten gut gefallen, gerade die Botschaften hinter den Worten waren so wahr und wichtig. Die alte Edna macht Mut, seinen Weg zu gehen und anderen Menschen offen zu begegnen und ihnen zuzuhören. Insbesondere hat mich aber die Thematik der Schwabenkinder nachhaltig beschäftigt. Meiner Meinung nach ist die Zeit der Schwabenkinder ein sehr dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, von deren Schicksal jeder gehört haben sollte. Super, dass in „Als wir uns die Welt versprachen“ mithilfe eines fiktiven Romans gleichzeitig geschichtliche Aufklärung stattfindet.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.05.2021

Eine Adoption, ihr Hintergrund und ihre Folgen

Eines Tages für immer
0

Luke und Hannah sind gerade erst Eltern des kleinen Samuel geworden und sehr glücklich mit ihrer kleinen Familie. Doch gerade dies reißt bei Luke eine alte Wunde auf, denn er selbst wurde als Baby zur ...

Luke und Hannah sind gerade erst Eltern des kleinen Samuel geworden und sehr glücklich mit ihrer kleinen Familie. Doch gerade dies reißt bei Luke eine alte Wunde auf, denn er selbst wurde als Baby zur Adoption freigegeben und möchte gerne mehr über seine Wurzeln erfahren. Er sucht den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter Alice, eine Beziehung bahnt sich an und Alice bietet sich sogar als Tagesmutter für Samuel an, damit Hannah wieder arbeiten gehen kann. Alles scheint perfekt zu laufen, doch Luke fühl sich zunehmend unwohler: Alice verhält sich seltsam, meidet den Kontakt zu ihm und wird immer einnehmender Samuel gegenüber. Nichtsahnend sind auch bei Alice alte Wunden aufgerissen, die sowohl sie, als auch ihren Sohn drohen in die Tiefe zu reißen.

Bereits das Cover zu „Eines Tages für immer“ gefällt mir unheimlich gut: Die satten, dunklen Farben mit dem hervorstechenden gelben Titel sind ansprechend, das Blumenmuster ist hübsch, verrät aber noch nichts über den Inhalt der Geschichte. Die im Buchdeckel abgedruckten Zitate aus dem Buch sind absolut passend gewählt und fassen gut die Kernaussagen des Buches zusammen. Außerdem passt die Optik sehr gut zu Clare Empsons vorangegangenem Buch, der Wiedererkennungswert ist groß.

Der Schreibstil der Autorin hat mich verzaubert und gefesselt, er ist teilweise locker-leicht, dann wieder philosophisch-tiefgründig. Clare Empson schreibt sehr gefühlvoll, dabei aber häufig zwischen den Zeilen versteckt, so dass sich der Leser Emotionen selbst erschließen muss. Durch diese Feinfühligkeit entsteht an vielen Stellen Tiefe und der Leser wird zur Reflexion über die eigene Einstellung zum Thema Adoption angeregt. Ich mag außerdem die kurzen Kapitellängen und die beiden unterschiedlichen Handlungsstränge: Lukes Sicht in der Gegenwart und Alice Erlebnisse in der Vergangenheit. Dieser Wechsel zwischen Perspektive und Zeitebene erhöht die Spannung enorm, der Leser hat bereits einen Wissensvorsprung und kann sich anhand der Vergangenheit einiges erklären, was in der Gegenwart noch unbekannt ist, aber sehr relevant werden wird. Dies führt zu einer Grundstimmung, die – trotz äußerlich scheinbarer heiler Welt – immer angespannter wird und man fiebert als Leser darauf hin, dass die Bombe platzen wird. Dadurch wird Showdown zwar etwas vorhersehbar, aber das hat mir in diesem Fall nichts ausgemacht.

Beide Einzelstränge haben mich sehr gefesselt und ich war überrascht davon, dass die Geschichte gleich an einem entscheidenden Punkt los, dem Treffen mit Luke und seiner leiblichen Mutter, beginnt. Auch die Hintergründe der jungen Alice werden erläutert und ich mag ihre Geschichte rund um die Kunsthochschule, ihren guten Freund Rick und die Zeit mit Jake sehr gerne. Der Leser kann sehr gut die Entwicklung der Beziehung zwischen Luke und Alice mitverfolgen, aber auch die Zuspitzung der Situation aufgrund der fehlenden Annäherung. Der Showdown fand demensprechend nicht unvorhergesehen, aber dann doch überraschend und anders als gedacht statt. Die Ereignisse haben sich überschlagen, ich konnte nicht mehr aufhören zu Lesen und wurde von den Emotionen schier überrollt. Wirklich harter Tobak dieses tragische Ende! Schön, dass dieses von dem noch folgenden Epilog wieder etwas abgemildert wurde, der dann einfach nur schön war und die Geschichte rund beenden konnte.

Die Figuren waren mir zunächst sympathisch, je weiter sich die Geschichte entwickelt, umso seltsamer wird aber ihr Verhalten. Alice ist einerseits sehr distanziert, dann aber wieder aufdringlich. Immer deutlicher wird ihr Versuch, die verlorene Zeit wieder aufzuholen und die Adoption wieder gut zu machen. Auch Luke wird zunehmend drängender, als sein Wunsch nach Nähe nicht erfüllt wird. Er wirkte auf mich zunehmend zerrissen und tut mir leid, da er viel Hoffnung in die Begegnung mit seinen leiblichen Eltern gesetzt hat. Beide haben große Hemmungen, miteinander zu sprechen, was letztendlich das Konfliktpotenzial ihrer Beziehung immer größer werden lässt.

„Eines Tages für Immer“ behandelt ein ernstes Thema, dem oftmals viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteilwird: Was macht eine Adoption mit Mutter und Kind? Dazu hat die Autorin jeweils passende Auszüge aus dem Buch "Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder" von Joel Harris ihren Kapiteln vorangestellt. Diese psychologischen Einblicke waren für mich lehrreich, erhellend und erschütternd gleichzeitig, insgesamt aber sehr bereichernd. Clare Empson hat dieses Thema gefühlvoll und sensibel umgesetzt, ohne den Anflug von Kitsch oder Verharmlosung. Ebenfalls wurde das Thema Depression und psychische Krankheiten mit all seinen Folgen für Betroffene und Angehörige angemessen thematisiert.

Insgesamt habe ich die Lektüre von „Eines Tages für immer“ sehr genossen. Der Autorin ist es sehr gut gelungen, das psychisch-emotionale Dilemma eines adoptierten Kindes in Romanform darzustellen und eine stimmige Geschichte herum zu erzählen, die den Leser berührt und mitnimmt. Ich würde das Buch auf jeden Fall weiterempfehlen, warne aber vor triggernden Inhalten für Personen, die selbst Beteiligte an einer Adoption sind, da es durchaus Wunden aufreißen könnte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.04.2021

Von Dora bleibt ist die Distanz

Was von Dora blieb
0

Isa geht es gerade gar nicht gut: Sie hat herausgefunden, dass ihr Mann sie betrügt, die Kinder sind aus dem Haus und werden schmerzlich vermisst und sie weiß nicht wirklich viel mit sich anzufangen. Da ...

Isa geht es gerade gar nicht gut: Sie hat herausgefunden, dass ihr Mann sie betrügt, die Kinder sind aus dem Haus und werden schmerzlich vermisst und sie weiß nicht wirklich viel mit sich anzufangen. Da kommt ihr der Auftrag ihrer Mutter recht, sich nach Familientradition mit einer ihrer Vorfahren zu beschäftigen – mit ihrer rätselhaften Großmutter Dora. In einem Haus am Bodensee taucht Isa in Doras Vergangenheit ein und lernt ihre unbekannte Verwandte mithilfe von alten Briefen und Tagebüchern ganz neu kennen. Diese nimmt Isa auf eine Reise durch ihr Leben: Von der Kunsthochschule über ein verworrenes Liebesdreieck bis hin zur erfolgreichen Unternehmergattin, die im Nationalsozialistischem Staat um die Zukunft ihrer Söhne bangt. Isa dringt immer tiefer, auch in die dunklen Jahre, ihrer Familiengeschichte ein und lernt somit viel über Dora und über sich selbst.
„Was von Dora blieb“ ist der Debütroman der freien Journalistin Anja Hirsch. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Schwierigkeit der Kriegsenkelgeneration auf der Suche nach und im Umgang mit ihren Wurzeln zu thematisieren. Das Cover ist recht minimalistisch gehalten, die türkisene Grundfarbe gefällt mir sehr gut. Eher auf den zweiten Blick bemerkt man eine junge Frau mit Zylinder, die vor dem pyramidenartigen, sehr groß geschriebenen Titel hervortritt. Definitiv ein interessantes und eher ungewöhnliches Titelbild.
Anja Hirschs Schreibstil ist an sich angenehm, allerdings empfinde ich ihn für meinen Geschmack als etwas zu sachlich und nüchtern. Dadurch bleibt mir die Geschichte seltsam fern, ich fühle mich, als würde ich permanent auf Distanz gehalten, als wäre ich lediglich als außenstehender Beobachter akzeptiert. Deshalb ist es mir nach starken Startschwierigkeiten bis zum Schluss leider nicht gelungen, einen echten Bezug zu Isa oder zu Dora aufzubauen. Das Lesen war anstrengend und hat nicht unbedingt Freude gemacht.
Auch inhaltlich hatte ich mir mehr versprochen. Die Story springt zwischen Isas Sicht in der Gegenwart und Doras Sicht der Vergangenheit hin und her, unverhofft kommt dann auch noch Isas Vater Gottfried zu Wort. Zu Beginn des Buches geht es nach kurzer Einführung von Dora als Großmutter primär um ihre Kindheit, Jugend und die Zeit als junge Erwachsene. Es geht um viel alltägliches, politische Ereignisse stehen eher zurück, da sich Dora nicht wirklich für sie interessiert. Später verschiebt sich der Schwerpunkt Richtung Gottfried und dessen verwirrende Jugend zwischen Napola und lyrischer Selbstvergessenheit. Am Ende verschiebt sich der Fokus auf Isa, die zwischen Erinnerung, Perspektive und Gedanken zu ihrem Leben hin- und herspringt. Dora geht immer mehr in Vergessenheit, bis sie ganz am Ende noch einmal in einem Kapitel kurz vor ihrem Tod auftaucht, dass alles bisher von ihr erfahrende irgendwie wieder durcheinanderwirbelt. Selten habe ich mir so schwer getan, am Ball zu bleiben. Insgesamt ein sehr verwirrender Handlungsaufbau, etwas mehr Struktur hätte dem Buch gut getan.
Sowieso hätte ich mir mehr konkrete Informationen zu den spannenden Zeiten gewünscht, die Dora durchlebt. Der auf dem Klappentext groß angekündigte Inhalt bezüglich der Napola-Schule war genauso schnell abgehandelt wie Doras künstlerische Berufsaussichten. Die Fragen und Ankündigungen dort, die mich neugierig auf das Buch machten, wurden nicht beantwortet – ich blieb enttäuscht zurück. Dafür wurde vieles detailliert beschrieben, was ich als eher nebensächlich wahrgenommen hatte. Diese Nebenstränge waren für mich nicht nur langweilig und zäh zu lesen, sondern wurden teilweise auch nicht mal mehr aufgelöst. Des Weiteren nimmt die Autorin bereits vieles vorweg, was mich als Leser zusätzlich frustriert hat.
Auch konnte ich keinerlei Bindung zu den Figuren aufbauen. Gerade Dora und Isa blieben mir leider fern, ich habe sie als unsympathisch und flach empfunden und gerade Isa hat mich irgendwann nur noch genervt. Ihre Geschichte hat mich nicht besonders interessiert und ich konnte auch ihre Gedanken und Handlungen nicht nachvollziehen. Ja, sie ist der Aufhänger dafür, dass Doras Leben nochmals Revue passiert wird, aber so richtig nahe gekommen bin ich ihr noch nicht.
Insgesamt hat mich das Buch leider überhaupt nicht gepackt. Ich hatte mir fundiertere Informationen zu den angekündigten Themen des Klappentextes, insbesondere der Napola-Schulen gewünscht. Auch hat mir der distanzierte Schreibstil nicht gefallen, viele Zeitsprünge und Nebenhandlungen haben mich verwirrt und den roten Faden verlieren lassen. Ich bleibe nach der Lektüre ratlos und unbefriedigt zurück und kann das Buch deshalb leider nicht weiterempfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere