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Veröffentlicht am 23.04.2019

Intensive Familiensaga

Bella Ciao
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Raffaella Romagnolo erwähnt das titelgebende Partisanenlied „Bella Ciao“ nur einmal namentlich in ihrem neuesten Buch, doch Partsianen gibt es dafür reichlich. Die Handlung spielt im Dorf Borgo di Dentro ...

Raffaella Romagnolo erwähnt das titelgebende Partisanenlied „Bella Ciao“ nur einmal namentlich in ihrem neuesten Buch, doch Partsianen gibt es dafür reichlich. Die Handlung spielt im Dorf Borgo di Dentro im ialienischen Piemont, in das die Amerikanerin Giulia Masca 1946 zurückkehrt, nachdem sie es 45 Jahre zuvor in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen hat. Giulia Masca stammt aus einfachsten Verhältnissen und hat schon als Kind in der örtlichen Seidenspinnerei gearbeitet. Wegen des Verrats einer Freundin hat sie die Heimat verlassen und in New York Glück und Wohlstand gefunden, während Europa erst vom Ersten und dann vom Zweiten Weltkrieg erschüttert wurde. Nun ist sie für eine Nacht zurückgekehrt und die Erinnerungen holen sie ein. Doch nicht nur Giulia Mascas Leben wird in Rückblicken berichtet – auch das ihrer Kindheitsfreundin Anita Leone, die Borgo die Dentro nie verlassen hat. Im Gegensatz zu Einzelkind Giulia wurde Anita in eine starke und nicht ganz so arme Großfamilie hineingeboren, die gepachtete Weinberge bewirtschaftet. Ihre Kindheit ist glücklicher als die ihrer Freundin, doch leicht hat sie es später nicht. Die Autorin schildert entbehrungsreiche, harte Arbeiterleben, die von Existenzängsten, Kriegen und Naturkatastrophen erschüttert werden, doch auch von Liebe, Zusammenhalt und Loyalität geprägt sind. Gleich an zwei Stellen hat Raffaella Romagnolo Stammbäume eingefügt, damit ihre Leser von den komplexen Beziehungsgeflechten nicht zu verwirrt sind. Ich musste nur manchmal darauf zurückgreifen: Die meisten Figuren sind gut greifbar und mit klaren Eigenheiten versehen, was es leichter macht, sich in den verschiedenen Familienverbünden einigermaßen zurechtzufinden.

„Bella Ciao“ ist nicht immer ganz einfach zu lesen. Nicht so sehr wegen der Fülle an Protagonisten, auch nicht wegen der immerhin fast ein halbes Jahrhundert umfassenden, umrissenen italienischen Geschichte: Was mir etwas zugesetzt hat, sind Beschreibungen von Elend und Leid. Als Leser zieht man mit den Figuren in Schlachten, die in den meisten Familiensagas nicht so detailliert beschrieben werden. Beim Lesen war ich mehr als einmal froh, 100 Jahre nach den Hauptfiguren geboren worden zu sein. Doch „Bella Ciao“ ist auch einer dieser Romane, die einem eine ganz neue, in meinem Fall unbekannte Welt eröffnen, die man nicht mehr vergisst. Die Autorin schreibt mit viel Einfühlungsvermögen und schafft so komplexe Entwicklungen, in denen Menschen über sich hinauswachsen und auch Gut und Böse nicht immer klar zu trennen sind. Ich empfehle, sich etwas Zeit für „Bella Ciao“ zu nehmen – es ist kein Buch, bei dem es reicht, jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Seiten zu lesen. Doch wem es möglich ist, sich von Raffaella Romagnolo nach Borgo di Dentro mitnehmen zu lassen, der wird mit einem intensiven Leseerlebnis belohnt und weder Giulia Masca noch die Familie Leone schnell vergessen können.

Ich habe dieses Buch als Leseexemplar erhalten.

Veröffentlicht am 16.04.2019

Facettenreicher Fall, raffinierte Geschichte und tolle Sprache

Blutmond
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Das erste Buch der Dänin Katrine Engberg wurde letztes Jahr auf Deutsch veröffentlicht. Ich habe „Krokodilwächter“ nicht gelesen, obwohl der Thriller vielversprechend klang. Umso gespannter war ich nun, ...

Das erste Buch der Dänin Katrine Engberg wurde letztes Jahr auf Deutsch veröffentlicht. Ich habe „Krokodilwächter“ nicht gelesen, obwohl der Thriller vielversprechend klang. Umso gespannter war ich nun, als ich das zweite Buch der Autorin in die Hände bekam, in dem nicht nur das gleiche Polizeiteam ermittelt, sondern auch andere Figuren aus Engbergs Debüt vorkommen. Wenn man eine Serie mit Band zwei beginnt, gestaltet sich der Einstieg in die Geschichte ja manchmal als schwierig – hier gelingt er aber problemlos, was mir schon mal gefallen hat.

Ein „Blutmond“ kündigt sich in dem gleichnamigen Thriller an, der in der Nacht zu einem 28. Januar beginnt, sechs Tage vor dem Naturschauspiel. Die Hauptfiguren scheint das herzlich wenig zu interessieren: Polizeiassistent Jeppe Kørner ist gerade tiefenentspannt und mit neuer Freundin von einer Australienreise zurückgekehrt und seine Kollegin Anette Werner mit gesundheitlichen Problemen beschäftigt. Außerdem steht ganz Kopenhagen im Zeichen der alljährlichen Fashion Week. Doch schon eine Pre-Party endet tödlich: Modekönig Alpha Bartholdy wird leblos in einem Park aufgefunden. Schnell stellt sich raus: Der TV-Promi hatte nicht nur Fans, sondern auch Feinde. Im Zuge der Polizeiermittlungen erhält der Leser einige Einblicke in deren Leben, aus ihren eigenen Perspektiven. Außerdem lernt er ein paar Protagonisten kennen, die er noch gar nicht einordnen kann. Wie alles zusammenhängt, scheint rätselhaft. Polizeiassistent Jeppe Kørner muss sich allerdings bald eingestehen, dass ein Name relativ oft genannt wird – und zwar der Name eines seiner langjährigsten Freunde, der überdies nicht auffindbar ist …

Katrine Engberg führt ihre Ermittler genau wie ihre Leser mehrmals in die Irre. Das gelingt ihr außerordentlich gut, ohne dass der Plot allzu verwirrend wird. Das einzige, was mich leicht gestört hat, war die Starrköpfigkeit der Hauptfigur: Jeppe weiß, dass er befangen ist, lässt sich davon jedoch nicht stören und begehrt auch noch trotzig auf, wenn die Kollegen ihn aus guten Gründen außen vor lassen – das hat manchmal genervt, genau wie die mangelnde Kooperationsbereitschaft von gewissen Verdächtigen. Das Zwischenmenschliche kommt nicht zu kurz, steht aber auch nicht im Mittelpunkt. Obendrauf gibt’s ganz viel Kopenhagen-Atmosphäre, gepaart mit klirrender Januarkälte, deren Beschreibung einen schon beim Lesen frösteln lässt. „Blutmond“ ist facettenreich, raffiniert und toll geschrieben – einzelne Sätze und Passagen wirken richtiggehend poetisch, die Mordmethode dagegen wird so nüchtern-präzise geschildert, dass man sich dem Grauen kaum entziehen kann. Dazu gibt‘s den ein oder anderen netten Cliffhanger und in der zweiten Hälfte entwickelt sich die Geschichte irgendwann zum Pageturner. Trotzdem würde ich sie nicht dem Thriller-, sondern dem Krimigenre zuordnen. Für alle Fans des Ermittlerteams gibt’s noch die gute Nachricht, dass in Dänemark bereits der dritte Teil der Serie erschienen ist. Ich werde nicht zum letzten Mal von Jeppe Kørner gelesen haben.

Veröffentlicht am 08.04.2019

Brillante Komposition: wahnwitzig, spannend, schlüssig

Das Verschwinden der Stephanie Mailer
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„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ spielt in Orphea, einer beschaulichen Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Alljährlicher Höhepunkt des öffentlichen Lebens ist ein Theaterfestival, das in ...

„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ spielt in Orphea, einer beschaulichen Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Alljährlicher Höhepunkt des öffentlichen Lebens ist ein Theaterfestival, das in der Romangegenwart im Jahr 2014 bereits 20-jähriges Jubiläum feiern soll. Mindestens halbvergessen scheinen die Ereignisse vom Premierenabend des ersten Festivals 1994: Damals wurden vier Einwohner Orpheas erschossen, unter ihnen die Familie des damaligen Bürgermeisters. Zwei junge Polizisten der State Police konnten den Fall nach mehrmonatiger Arbeit lösen. Einer von ihnen, Jesse Rosenberg, feiert zu Beginn des Romans gerade sein Ausscheiden aus dem Polizeidienst, als ihn eine Journalistin anspricht, die ihm auf den Kopf zusagt, dass er damals in Orphea den Falschen verhaftet hätte. Rosenberg nimmt die geheimnistuerische Stephanie Mailer zunächst nicht ernst, doch nur ein paar Tage später wird die junge Frau als vermisst gemeldet. Hat sie eventuell wirklich etwas herausgefunden – und wohin ist sie verschwunden?

„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ ist vieles: hochspannend, unterhaltsam, tragisch, begeisternd und voller Leben. Joël Dicker führt seine Leser durch einen dichten Roman voller Perspektivwechsel, Rückblenden und wahnwitziger Wendungen. Doch selbst Entwicklungen, die mir überdreht vorkamen, bekamen irgendwann einen Sinn, wurden nachvollziehbar und fügten sich wie Puzzlestücke in den Gesamtkontext ein. Dieser Autor ist einfach ein Meister seines Fachs: Er hat ein unfassbares Talent, Protagonisten und Schauplätze lebendig werden zu lassen und ein großartiges Gespür für die richtige Dosis. Trotz vieler Details und einer Fülle handelnder Personen bleibt „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ wundervoll lesbar und auf die Haupthandlung fokussiert. Überdies macht der Roman regelrecht süchtig. Es ist wie bei einem Esel, der einer Mohrrübe hinterherläuft: Als Leser fühlt man sich der Lösung der Romanrätsel stets nah und lässt sich von Dicker willig auf jede neue Fährte mitnehmen, was die 672 Seiten im Nu verfliegen lässt. Wenn doch die Wartezeit auf das nächste Buch des Autors nur auch so schnell verginge!

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

Veröffentlicht am 26.03.2019

Erfrischend anders mit viel Alltagsabsurdität und Situationskomik

Irgendwo zwischen Liebe und Musterhaus
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Der Titel dieses Romans lässt auf einen beliebigen Frauenroman schließen, die Farbgebung des Covers ist nicht mein Fall. Aber der Klappentext klang so, dass ich dachte, das Buch könnte trotzdem ganz amüsant ...

Der Titel dieses Romans lässt auf einen beliebigen Frauenroman schließen, die Farbgebung des Covers ist nicht mein Fall. Aber der Klappentext klang so, dass ich dachte, das Buch könnte trotzdem ganz amüsant werden, auch wenn es vermutlich etwas 08/15 sein würde. Großer Irrtum! Also nicht, dass „Irgendwo zwischen Liebe und Musterhaus“ amüsant ist – ich habe mich bestens amüsiert. Aber das Buch ist bei Weitem kein Frauenroman von der Stange, eher das Gegenteil, es las sich sehr erfrischend. Die Autorin Susanne Hasenstab erfasst Menschen und ihre Schwächen und Verhaltensweisen ganz genau und proträtiert gnadenlos Typen, die man aus dem Alltag kennt. Das ist sehr witzig, manchmal auch böse, doch weil Hasenstabs Ich-Erzählerin Katja genügend eigene Probleme hat, bleibt sie trotzdem sympathisch. Katja ist zwar mit einem scharfen, sezierenden Blick auf ihre Umgebung ausgestattet, erhebt sich aber dabei nicht über andere. Die 31-jährige dümpelt als Teilzeitangestellte der Gratis-Zeitung ihres Heimatortes durchs Leben und weiß eigentlich nicht, was sie will. Im Gegensatz zu ihrem Umfeld: Langzeitfreund Jonas will ein Eigenheim und Familie, der Bürokollege Herr Böhmann jeden Mittag woanders essen gehen, Katjas Mutter will Enkel, Freundin Inga sucht nach irgendeiner Art von Erleuchtung und Borke, Lebensgefährte von letzterer, bereist zielstrebig „die Welt des Hochprozentigen“. Katja scheint die einzige zu sein, die keinen wirklichen Plan hat. Zwar ist ihr im Grunde ihres Herzens bewusst, was sie nicht will, aber: „Was bleibt, wenn ich die Optionen Haus, Heirat, Kinder und Karriere allesamt ausschlage?“ Zwischen Besichtigungsterminen, einer aus dem Ruder laufenden Geburtstagsfeier und zwei wirren Kleinkunstabenden bleibt allerdings kaum Zeit, dieser Frage nachzugehen. Doch manchmal schließen sich ja bekanntlich auch Türen, während sich andere dafür öffnen.
Susanne Hasenstab hat ein echtes Händchen für die Ausgestaltung absurder Situationen, in die jeder rutschen könnte. Ich hatte ganz unverhofft großen Spaß beim Lesen und werde mir den Namen dieser Autorin ganz sicher merken.

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

Veröffentlicht am 25.03.2019

Etwas überladene Zeitreise

Rheinblick
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Mir hat „Bühlerhöhe“ gut gefallen und so war ich sehr gespannt auf Brigitte Glasers neuen Roman. Schon der Klappentext macht klar: Die Autorin bleibt sich treu und hat sich erneut eines Stücks bundesrepublikanischer ...

Mir hat „Bühlerhöhe“ gut gefallen und so war ich sehr gespannt auf Brigitte Glasers neuen Roman. Schon der Klappentext macht klar: Die Autorin bleibt sich treu und hat sich erneut eines Stücks bundesrepublikanischer Geschichte angenommen.

„Rheinblick“ spielt 1972, Willy Brandt ist gerade wiedergewählt worden. Doch statt voller Elan in die Koalitionsverhandlungen zu ziehen, muss sich der Kanzler zu einer Stimmbandoperation ins Krankenhaus begeben. Eine junge Krankenschwester namens Sonja, die schon erste Erfahrungen auf dem noch neuen Gebiet der Logopädie sammeln konnte, ist für die Betreuung des prominenten Patienten mitzuständig. Sie ist eine der vier Hauptfiguren des Romans, zwei weitere wohnen in ihrer WG: Student Max, der nebenbei als Taxifahrer arbeitet und ständig knapp bei Kasse ist, und Journalistin Lotti, die nur für eine Woche aus der Bundeshauptstadt berichtet, bevor sie wieder in ihre badische Heimat zurückreist. Die vierte Hauptfigur hat keinen direkten Bezug zu den drei anderen: Hilde führt das titelgebende Lokal „Rheinblick“, das in direkter Nähe zum Bundestag Anlaufpunkt für Politiker aller Parteien ist. Die Wirtin sieht viel, hört viel und erzählt nichts weiter; was im Rheinblick passiert, bleibt auch im Rheinblick. Ein-, zweimal hat sie ihre goldene Regel allerdings gebrochen und fürchtet nun, dass sich das rächen und ihr Geschäft ruinieren könnte. Denn Bonn ist ein heißes Pflaster und jeder verfolgt mehr oder weniger gnadenlos seine eigenen Interessen.

Vermutlich weist schon meine kleine Zusammenfassung auf meinen größten Kritikpunkt an diesem Roman hin: Er ist mit zu vielen Hauptfiguren und zu vielen Nebenschauplätzen einfach etwas überladen. Der Handlungsort von Brigitte Glasers „Bühlerhöhe“ war ein abgeschiedenes Kurhotel, was es vermutlich leichter machte, die Geschichte überschaubar zu halten. In der Bundeshauptstadt ist naturgemäß mehr los und die Autorin zeigt ganz verschiedene Facetten des Bonner Lebens: Wie sich die Politiker im „Rheinblick“ die Klinke in die Hand geben, was sich in Brandts Krankenzimmer abspielt, was Taxifahrer Max so aufschnappt und wie es Lotti in der linken Studenten-WG ergeht. Neben politischen Intrigen hat Glaser auch noch einen Kriminalfall eingebaut. Die Bonner Republik wird so richtig erlebbar: Einerseits wirkt sie piefig, spießig und patriarchalisch, andererseits ist aber auch Aufbruchsstimmung zu spüren und die Hoffnung auf radikale Veränderungen. Hier wurde jede Menge Zeitgeist detailliert eingefangen. All die quirligen Verstrickungen lesen sich allerdings nicht ganz so flüssig, denn es gibt einfach zu viele Themen, die angeschnitten werden. Die Geschichte springt ständig zwischen den vier Hauptpersonen und ihren vielfältigen privaten und beruflichen Problemen hin und her. Eine wirkliche Bindung zu den Figuren kann so kaum aufgebaut werden; am besten charakterisiert wurde meiner Meinung nach dann auch keiner der Protagonisten, sondern die Stadt Bonn an sich. Das hat zugegebenermaßen auch seinen Reiz – zumindest, wenn man Bonn kennt. Mich von „Rheinblick“ ins Jahr 1972 mitnehmen zu lassen, fand ich spannend; Stimmungen und Strömungen werden packend beschrieben und so liest sich der Roman fast wie ein Zeitzeugnis. In diesem Punkt, der vermutlich Glasers Erfolgsrezept ist, ähnelt er dann auch wieder seinem Vorgänger „Bühlerhöhe“.

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.