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Veröffentlicht am 06.02.2021

Düsterer Roman mit starken Naturbeschreibungen

Tiger
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Raubkatzen faszinieren seit jeher den Menschen. Auch einige Künstler und Schriftsteller konnten sich der Faszination, die die erhabenen Jäger ausstrahlen, nicht entziehen und setzten ihnen mit ihren Bildern ...

Raubkatzen faszinieren seit jeher den Menschen. Auch einige Künstler und Schriftsteller konnten sich der Faszination, die die erhabenen Jäger ausstrahlen, nicht entziehen und setzten ihnen mit ihren Bildern und Worten ein Denkmal. Man denke nur an den eckigen gelben Tiger von Franz Marc, Rainer Maria Rilkes Gedicht "Der Panther" oder an Giuseppe Tomasi di Lampedusas einzigen Roman "Der Leopard", in dem der gepunkteten Raubkatze aber als Wappentier des Fürsten nur eine symbolische Rolle zuteil wird. Nun also Polly Clarks "Tiger", ein wilder Roman über das gespaltene Verhältnis zwischen Mensch und Tier, zwischen Kultur und Natur. Es geht für mich vor allem darum, welchen Preis der Mensch zahlen muss, wenn er sich ganz auf die Natur und die Gefahren, die in ihr lauern, einlassen möchte bzw. muss.
Der Roman besteht aus mehreren Erzählsträngen, in der das Geschehen aus der Perspektive von verschieden Protagonisten wiedergegeben wird. Sie alle haben etwas mit den Amur-Tigern aus der Sibirischen Taiga zu tun, die die eigentlichen “Stars” dieses “Natur-Romans” sind. "Tiger" ist wie das titelgebende Tier: anmutig, roh, archaisch, ernst und "in your face".
Die erste Protagonistin ist die englische Primatenforscherin Dr. Frieda Bloom. Die Biografie der jungen Frau Anfang dreißig ist geprägt von Brüchen und Schicksalsschlägen. Weil sie Drogen zur Bekämpfung ihrer zahlreichen Traumata nimmt, verliert sie ihren Job an einem Londoner Forschungsinstitut. Sie bekommt eine neue Chance an einem Privatzoo in Devon, wo sie ihre Nemesis in Form des Zoogründer-Sohnes Gabriel trifft. Die Begegnung mit dem Tiger Luna ist der Mittelpunkt der Geschichte, die abrupt endet und erst zum Ende des Romans wieder aufgegriffen wird. Ich fand Friedas Verhalten teilweise sehr befremdlich. Ich weiß nicht ob ihre Denkweise der einer drogenabhängigen Person entspricht, aber sie kommt für eine promovierte Biologin stellenweise sehr naiv und fatalistisch rüber. Überhaupt ist die Geschichte, die hier erzählt wird, sehr destruktiv und negativ, aber ohne dass sie mich berührt hätte.
Ganz anders hingegen die zweite Geschichte rund um Tomas, die durchaus Potenzial zur Einfühlung durch de Leser hat. Abgeschieden von der Zivilisation lebt der 41-jährige Jäger ein karges Dasein in den Wäldern der russischen Taiga. Zusammen mit seinem Vater Iwan, anderen Jägern und Holzfällern lebt er in einem Camp bzw. Naturreservat am Rande des Wades. Er und seine Kollegen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Tiger der russischen Taiga vor Wilderern zu schützen und erhoffen sich durch ihr Engagement das Prädikat “Tigerreservat” und dadurch Unterstützung vom russischen Staat zu bekommen. Tomas hat eine schwierige Beziehung zu seinem narzisstischen Vater Iwan. Tomas' Mutter starb, als er 10 war, von seinem Vater Iwan wurde er verprügelt und mit Verachtung gestraft, wenn ihm etwas missfiel. Nichtsdestotrotz verschaffte Tomas seinem damals arbeitslosen Vater eine Position in seinem Waldarbeiter-Lager, wo dieser schnell zum Chef aufsteigt. Immer wieder reflektiert Iwan, ganz allein in der Natur, seine eigene Vergangenheit, die ihn belastende Familienlosigkeit, das toxische Verhältnis zu seinem Vater und die gescheiterte Beziehung zu seiner großen Liebe Marta. Auch ihn wird eine Begegnung mit einem Tiger - und einem Menschen - aus der Bahn werfen.
Der dritte Teil kommt sehr märchenhaft daher. Es war einmal eine sibirische Indigene aus dem Volk der Udehe namens Edit, die verließ das Dorf, in das sie zugezogen war und ihren Alkoholkranken Mann Wasili und zog mit ihrer kleinen Tochter Sina in eine Hütte in den Wäldern. Dort sahen die beiden jahrelang keine Menschenseele, sie lebten von den Früchten und Tieren des Waldes. Bis sie eines Tages beschlossen, ihr Eremitendasein zu beenden und dabei auf einen Tiger und seine Jungen trafen, deren Sicht im vierten Teil des Romans aufgenommen wird.
Alle drei Handlungsstränge mit den menschlichen Protagonisten sind ziemlich starker Tobak und für meinen Geschmack viel zu dramatisch. Man könnte meinen die Autorin hat alles, was es an Leid und Elend in einem Menschenleben geben kann, in ihren Roman gepackt und an ihre Protagonisten ausgeteilt: Drogensucht, toxische Beziehungen, Narzissmus, rohe Gewalt, unberechenbare Natur, Depression, Abtreibung, Alkoholismus, Vergewaltigung, Hunger, Krankheit und Tod. Nicht mal ein bisschen, ein kleines bisschen Leichtigkeit oder Positivität ist in all dem zu finden. Erst am Ende, dort, wo alle Erzählstränge zusammenlaufen, darf der Leser/die Leserin aufatmen: Ein Licht am Ende des langen dunklen Tunnels.
In Clarks Prosa blitzen zuweilen sehr poetische Momente auf. Wie sie die Erhabenheit der Natur beschreibt ist ihre große Stärke. Man merkt, dass die Autorin eigentlich Lyrikerin ist und im dichterischen Schreiben mehr zu Hause als in der Roman-Schriftstellerei. Sie kann Momentaufnahmen sprachlich einfangen und sie wie in einem Gemälde oder Foto festhalten. Weil die lyrischen Momente mit ihren starken Naturbeschreibungen über die Schwächen im Plot, die erzählerische Überdramatisierung und das gelegentlich angewandte Pathos hinwegtrösten und man wirklich viel über die Amur-Tiger und ihren bedrohten Lebensraum in der sibirischen Taiga erfährt, bekommt der Roman als Gesamtpaket von mir noch knappe 4 Sterne.

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Veröffentlicht am 30.01.2021

Ratgeber für "unsichere" Eltern

Der Elternkompass
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Nachdem ich neulich bereits “Mein Familienkompass” von Nora Imlau gelesen und für sehr gut befunden habe, musste ich natürlich den vom Titel recht ähnlichen “Elternkompass” von Nicola Schmidt ...

Nachdem ich neulich bereits “Mein Familienkompass” von Nora Imlau gelesen und für sehr gut befunden habe, musste ich natürlich den vom Titel recht ähnlichen “Elternkompass” von Nicola Schmidt ins Auge fassen. Die beiden Autorinnen kennen und schätzen sich und haben sich bereits in einem Gespräch in den sozialen Medien zu ihren jeweiligen “Kompassen” geäußert. Ob man beide braucht bzw. gelesen haben muss? Diese Frage habe ich mir gestellt und ich kann sagen: Ja, sicherlich haben beide Bücher ihre Berechtigung - allerdings mit Einschränkungen.
In “Der Elternkompass” geht es Nicola Schmidt vor allem darum, Eltern ihre Unsicherheit zu nehmen angesichts der Fülle von Informationen, die auf sie einprasseln. Bei der “Erziehung” eines Kindes wollen alle mitreden: Kita/Kindergarten/Schule, Großeltern, die Eltern der anderen Kinder, die Medien, die Wissenschaft. Wie soll man sich als Eltern selbst eine Meinung bilden? Die Autorin ist der Meinung, man solle mit mehr Gelassenheit an das Projekt Elternsein herangehen und gerne - wenn schon - wissenschaftliche Daten und Fakten zur Absicherung bei Unsicherheiten heranziehen. Ansonsten hilft der Bauch und der gesunde Menschenverstand.
Zunächst geht Schmidt auf die Basis der Elternschaft ein, nämlich die "Achtsamkeit". Wir sollen unseren Kindern eine von Respekt und gegenseitigen Verständnis geprägte Kindheit ermöglichen. Darauf fußt ein funktionierendes Eltern-Kind-Miteinander.
Schmidt nimmt dann den/die Leserin an die Hand und geht die Eltern-Werdung von Anfang an durch: Von Schwangerschaft/Stillzeit über Kleinkindalter bis zur Grundschule. Weiter in der Entwicklung des Kindes geht sie nicht, was etwas schade ist.
Schmidt nimmt die Fragen, die sich vermutlich alle Eltern stellen und versucht sie möglichst wissenschaftlich unterfüttert zu beantworten. Wirkt sich Stillen wirklich auf den IQ meines Kindes und seine spätere Berufswahl aus? Ist Loben zurecht in Verruf geraten oder kommt es einfach auf das "Wie" an? Schmidt schaut sich die Studien an und kommt zu einem Ergebnis, das in den meisten Fällen eine Tendenz darstellt: eher ja oder eher nein. Dem Buch ist dementsprechend auch ein langes Literatur- und Quellenverzeichnis angefügt. Wer möchte kann sich also eingehender mit dem Thema beschäftigen, das ihn gerade interessiert.
Dies ist ein Ratgeber, den die Zielgruppe wahrscheinlich nur punktuell konsumieren wird, anstatt ihn von vorne bis hinten durchzuarbeiten. Die frischgebackenen Eltern eines Neugeborenen werden nicht die Zeit und Muße dazu haben nachzulesen, wie ich Grundschulkindern friedliche Konfliktlösung nahebringe. Umgekehrt werden sich die Eltern, die bereits mit dem letzten Kind durch die Autonomiephase durch sind, nicht noch mal mit Baby's Schlaf beschäftigen wollen.
Trotz aller postulierten Wissenschaftlichkeit ist mir der Ratgeber in manchen Dingen dennoch zu subjektiv gefärbt. Man kann zu vielen Themen ganz klar die persönliche Meinung der Autorin durchhören. In dieser Beziehung hat mir "Mein Familienkompass" von Nora Imlau ein klein wenig besser gefallen, denn der hat schon im Titel die subjektive Komponente und dennoch wird die Wissenschaft auch immer wieder herangezogen.
Dennoch ist dies ein guter Ratgeber für alle Eltern, die sich bei vielem unsicher sind und wollen, dass ihnen die Angst genommen wird. Ich empfehle bei Interesse die Anschaffung direkt in der Schwangerschaft bzw. Babyzeit.


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Veröffentlicht am 27.01.2021

Die Leiden des jungen Timurs

Die Erfindung des Dosenöffners
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Eine westfälische Kleinstadt unserer Gegenwart: Der frische “Twen” Timur Aslan hat es nicht leicht. Der zwanzigjährige Deutschtürke möchte Journalist im großen Stil werden, sitzt aber in der ...

Eine westfälische Kleinstadt unserer Gegenwart: Der frische “Twen” Timur Aslan hat es nicht leicht. Der zwanzigjährige Deutschtürke möchte Journalist im großen Stil werden, sitzt aber in der Lokalredaktion des "Westfälischen Anzeigers" fest, das Volontariat in der Hauptredaktion in der benachbarten größeren Stadt scheint unerreichbar. Eine große Story muss her, um seinem langweiligen Heimatort Steinfeld und dem Elternhaus, das nach dem Tod der Mutter nur noch aus ihm und seinem nach Autos verrückten Vater besteht, den Rücken zu kehren. Die Geschichte der Seniorin Annette, die von sich behauptet den Dosenöffner erfunden zu haben, soll sein Sprungbrett werden. Doch ihre Begegnung mit der älteren Dame löst etwas in Timur aus und er wird nachdenklich: Ist beruflicher Erfolg wirklich alles im Leben?

Die Probleme, die ein junger Mensch Anfang zwanzig in unserer modernen Welt der unendlichen Möglichkeiten hat, werden anhand des Protagonisten Timur exemplarisch dargestellt. Er stellt sich die Frage, die sich wahrscheinlich fast alle seiner Altersgenossen stellen: Wohin mit mir und meinen Fähigkeiten und was sind diese überhaupt? Der selbstverständliche Umgang mit den sozialen Medien und die das Selbstbewusstsein - vor allem junger Menschen - gefährdende Eigenschaft derselben werden im Roman thematisiert. Das vermeintlich perfekte Leben der anderen wird zum Richtschwert des eigenen kümmerlichen Daseins. Timur wird im Laufe der Handlung feststellen, dass nicht alles echtes Gold ist, was in den sozialen Medien so vor sich hin glänzt.

Humortechnisch hat mir der Einstieg in das Buch sehr gut gefallen. Wie der Alltag in der kleinen Redaktion beschrieben wurde und die Daseinsberechtigung des Lokaljournalismus, die auf tönernen Füßen steht, das hat bei mir für einige Schmunzler gesorgt. Auf die Dauer der Handlung hin gesehen konnte das Buch aber meines Erachtens den Humor-Standard des Anfangs nicht halten. Überhaupt plätscherte die Handlung vor sich hin und blieb an einigen Punkten sehr vage. Ich mag es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn in einem Roman nicht erwähnt wird welchen Monat oder zumindest welche Jahreszeit wir haben. Aber das ist vielleicht ein persönlicher Spleen von mir. Der groß angekündigte Roadtrip mit Annette war eher ein “Tripchen”. Wobei wenn ich gewusst hätte, dass es in diesem Buch wieder einen “generationenübergreifenen Roadtrip” gibt, hätte ich es nicht gelesen. Das Thema ist nämlich für mein Empfinden ausgelutscht bis zum Gehtnichtmehr.

Man sollte dieses Buch also lesen, wenn…

...man Anfang 20 ist und auf Sinnsuche
...man beim Plot-Element "generationenübergreifende Freundschaft mit Roadtrip" leuchtende Augen bekommt und das Buch "Marianengraben" mochte
...man schon immer mal mehr über Lokaljournalismus wissen wollte
…man sich für die Entstehungsgeschichte des Dosenöffners und seine Unterarten interessiert
...man ein(e) Bekannte(r)/Freund(in)/Verwandte(r) des Autors ist (ich beziehe mich hier auf eine Szene im Buch, in der Timur behauptet dass nur obige Bezugspersonen einer Person, die in einem lokaljournalistischen Zeitungsartikel vorkommt, diesen lesen würden)
...man auf den Humor des Autors steht

Aus allen anderen Gründen würde ich die Lektüre von "Die Erfindung des Dosenöffners" getrost anderen überlassen.

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Veröffentlicht am 25.01.2021

Bezaubernde historische Wien-Novelle

Ein Winter in Wien
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Manchmal verliebt man sich Hals über Kopf - in ein Buch. In "Winter in Wien" habe ich mich quasi auf den ersten Blick bzw. von der ersten Seite an verliebt, so wie der Buchhändler Oskar in das Kindermädchen ...

Manchmal verliebt man sich Hals über Kopf - in ein Buch. In "Winter in Wien" habe ich mich quasi auf den ersten Blick bzw. von der ersten Seite an verliebt, so wie der Buchhändler Oskar in das Kindermädchen Marie. Arthur Schnitzler habe ich schon immer gerne und viel gelesen: "Fräulein Else", "Der Weg ins Freie", etc. Ich liebe generell Bücher, deren Handlung um die Jahrhundertwende 1900 bis in die 1920er Jahre in Wien angesiedelt ist: Kaffeehaus, Fiaker, Ringstraße, Klimt, Theater, Oper, Operette, das hat auch heute noch so einen ganz eigenen Charme - und erst recht zu dieser besonderen Zeit des Wiener Jugendstils. Nun also eine Buchreihe, in der wir Schnitzler als literarische Figur haben: ein Traum. Obwohl der Herr Dr. Schnitzler, der ja ursprünglich als Arzt tätig war, bevor er vom Schreiben sehr gut leben konnte, nicht der Protagonist des Buches ist, so spielt er doch eine wichtige Rolle. Es ist sein vornehmer Haushalt in der Sternwartestraße im Wiener "Cottage Viertel", in den die junge Marie Haidinger im Jahr 1911 als Kindermädchen eintritt. Sie soll dort die Kinder Heinrich (9) und Lili (2) betreuen. Bei einem Ausflug in den nahegelegenen Buchladen, bei dem Schnitzler seine Bücher bezieht, lernt sie den jungen Buchhändler Oskar Novak kennen. Die beiden schüchternen jungen, aber vom Schicksal früh gebeutelten Leute lernen einander näher kennen, aber da die Geschichte auf vier Bände - passend zu den im Titel genannten Jahreszeiten - angelegt ist, ist am Ende des schmalen ersten Bandes noch längst nicht klar, wie es mit ihnen weitergeht.

Was mich bei diesem kleinen historischen Roman sofort bezaubert hat, ist die einzigartige Wien-um-1900-Atmosphäre, die Petra Hartlieb heraufbeschwört hat. Dazu kommt natürlich der Zauber einer frisch verschneiten Stadt um die Weihnachtszeit, dem sich keiner wirklich entziehen kann. Diese klassische Erzählung wirkt auf die positivste Weise wie aus der Zeit gefallen. Zudem hat mich Maries Geschichte emotional sehr berührt und es fiel mir zeitweise schwer, mich gedanklich wieder aus dem Schnitzlerschen Haushalt herauszubewegen. Die Sicht der “Bediensteten” ist ein zusätzliches Plus und passt zu Schnitzler, der ja in seinen Werken auch Figuren aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten eine Stimme verliehen hat.

Ich bin wahnsinnig froh, dass ich diese Reihe erst jetzt für mich entdeckt habe. Es gibt bereits drei Bände ("Ein Winter in Wien", "Wenn es Frühling wird in Wien" und "Sommer in Wien"), erschienen 2016-2019. Der Abschlussband "Herbst in Wien" ist laut Petra Hartlieb auch schon Planung. Obwohl ich am liebsten sofort weiterlesen würde, werde ich tatsächlich auf die passende Jahreszeit für den jeweiligen Band warten, denn wer weiß, vielleicht erscheint "Herbst in Wien" ja bereits im Spätsommer 2021? Ich würde mich jedenfalls sehr freuen!

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Veröffentlicht am 19.01.2021

Schwer zugängliches Meisterwerk

Schwitters
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Der Begriff "Innere Emigration" bezeichnet Künstler und Intellektuelle, die im Widerstand zum NS-Regime standen, aber nicht ins Exil gingen, also aus Deutschland auswanderten. Der Hannoveraner Künstler ...

Der Begriff "Innere Emigration" bezeichnet Künstler und Intellektuelle, die im Widerstand zum NS-Regime standen, aber nicht ins Exil gingen, also aus Deutschland auswanderten. Der Hannoveraner Künstler (Maler, Dichter, Grafiker, etc.) Kurt Schwitters gehörte laut Geschichtsschreibung in den ersten Jahren der NS-Zeit auch der "Inneren Emigration" an. Der fiktive Schwitters im Buch lehnt diesen Begriff nach dem Krieg, immer noch im Exil, ab. Eine "geschützte Innerlichkeit des Künstlers" (S. 290) könne es innerhalb der menschenverachtenden Diktatur nicht gegeben haben. Es ist also eine Frage der Definition. Der reale Schwitters floh jedenfalls am ersten Tag des Jahres 1937, nachdem seine dadaistischen Werke von den Nazis als "entartet" diffamiert wurden, ins Exil nach Norwegen. Dorthin war sein Sohn Ernst bereits 1936 ausgewandert. Als die Deutschen in Norwegen einmarschierten, emigrierte Schwitters mit Sohn und Schwiegertochter nach Großbritannien. Nach verschiedenen Stationen in Internierungslagern fand Kurt Schwitters seine letzte Heimat in England, wo er 1948 starb.

Ulrike Draesner schenkt uns in ihrem opulenten “Künstlerroman”, der keiner ist, wie sie im Nachwort sagt, Einblicke in Schwitters Leben. Die Kapitel bestehen aus fiktiven Momentaufnahmen, die sich aus der Biografie des Dada-Künstlers speisen. Da "Schwitters" aber vor allem ein Roman der Entwurzelung ist, beginnt die erzählte Handlung mit der Zeit kurz vor Schwitters’ Entscheidung zum Gang ins Exil, beschreibt vor allem die Zeit in Großbritannien, in der er sich in der neuen Lebenssituation zurechtfinden muss und endet mit seinem Nachleben, reflektiert aus der Sicht des Sohnes.

Kurt Schwitters ist als Protagonist genau wie seine Poesie, wie seine Kunst: schwer greifbar, sperrig bis unzugänglich. Kein einfacher Mensch, den die Autorin zur Hauptfigur ihres Romans gemacht hat. Noch dazu im "schwierigen" mittleren Mannesalter, voller Todes- und Existenzängste, sich wie ein Ertrinkender ans Leben klammernd. Eine sehr vielschichtige Künstlerpersönlichkeit, dieser Schwitters, mit einer nicht minder komplexen Gedankenwelt. Dada und Merzbau eben, schwer vorstellbar für den Leser, was das eigentlich ist.

Im Roman gibt es auch Kapitel, die aus der Sicht von Schwitters’ Familienmitgliedern geschrieben wurden. Zum einen aus der Perspektive seiner Ehefrau Helma. Als ihr Mann ins norwegische Exil ging, musste sie in Deutschland bleiben, um sich in Hannover um die alten Mütter der Eheleute sowie um den Immobilienbesitz (u.a. Mietshäuser) zu kümmern. Mir gefällt sehr dass auch sie, die körperlich ewig betrogene Ehefrau, zu Wort kommt und wir als Leser ihren Gedanken und Reflexionen folgen dürfen. Helma Schwitters war Muse und Modell ihres exzentrischen Künstler-Ehemanns, musste aber auch seine zahlreichen Affären und seine Launen verkraften. 1944, kurz vor Ende des Krieges, starb sie an Krebs, ihren Mann und Sohn hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ernst, das einzige überlebende Kind von Kurt und Helma, kommt wie bereits gesagt ebenfalls im fiktiven Rahmen zu Wort. Der 1918 geborene Fotograf arbeitete sich als "Sohn von" an seinem Künstler-Vater ab, verwaltete sein Erbe, profitierte davon und machte in Norwegen, wo er nach 1945 zurückkehrte, eine ganz eigene Karriere. Auch über Schwitters’ letzte Lebensgefährtin, Edith Thomas, genannt Wantee, lernen wir viel im Roman. Sie gibt ihm die menschliche Nähe, die er fernab der Heimat braucht und die Sprache, die ihm anfangs fehlt: Englisch.

Draesners Roman ist ein Sprachkunstwerk, voller rhetorischer Stilmittel und Erzählweise, "zusammentapeziert" wie eine Collage. Sie hat eine kraftvolle, bildhafte, poetische Sprache, die Stimmung erzeugt, eine ganz eigene Atmosphäre. Draesner versucht uns verschiedene Facetten dieses vielschichtigen Künstlermenschen Schwitters nahezubringen. Um die Komplexität seiner Persönlichkeit und der Welt, in der er lebte, zu erfassen, greift sie häufig auf das Stilmittel der Accumulatio zurück. Aber auch sonst entlehnt sie Sprachbilder aus Schwitters’ Kunstrichtung, dem Dadaismus, für ihre Romanbiografie. Sie weist in einem Nachwort darauf hin, dass alles, was sie schreibt, Fiktion ist (bis auf die belegbaren Daten und Fakten natürlich).

"Schwitters" ist mit Sicherheit das anspruchsvollstes Buch, welches kein Klassiker ist, das ich seit langem gelesen habe. Ich habe mit dem Buch gehadert, mich teilweise durchgequält und Passagen überblättert. Dennoch käme es mir schändlich vor, es nicht mit fünf Sternen zu bewerten. Was will ich einfache Leserin schon eine so versierte Schriftstellerin wie Ulrike Draesner kritisieren? Mir fehlte jegliche Legitimation. Überdies ist DADA ebenso unzugänglich wie Draesners Roman es stellenweise ist. Ich denke es ist die Intention der Autorin dass ihr Roman enigmatisch, sperrig und unzugänglich wie ein dadaistisches Kunstwerk und gleichzeitig wunderbar poetisch und paradiesisch schön wie eine Landschaftsmalerei von William Turner ist.

Man sollte sich dessen bewusst sein, wenn man es zur Hand nimmt. Ein intellektueller Roman über einen Intellektuellen und eine Geschichte der Entwurzelung eines Künstlers, die sehr berührt. In diesem Roman steckt wahnsinnig viel Kreativität, Kunstfertigkeit und Arbeit, insofern steht er dem Werk von Kurt Schwitters in nichts nach. Der Roman ist opulent und collagenhaft, manchmal nur schwer greifbar. Ein großartiges Werk, aber ich darf und kann eben nicht verhehlen, dass es nicht einfach zu lesen war.

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