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Veröffentlicht am 09.03.2020

Ein Buch über Rassismus in den USA

Eine Farbe zwischen Liebe und Hass
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Alexi Zentner – Eine Farbe zwischen Liebe und Hass

Wiedermal ein Roman zum Thema Rassismus, hier aus der Perspektive eines weißen Jungen, dessen Familie und Kirche davon überzeugt sind, dass es für sie ...

Alexi Zentner – Eine Farbe zwischen Liebe und Hass

Wiedermal ein Roman zum Thema Rassismus, hier aus der Perspektive eines weißen Jungen, dessen Familie und Kirche davon überzeugt sind, dass es für sie und ihresgleichen bald keinen Platz mehr in Amerika geben wird, da sie weder zu den Reichen, noch zu einer geförderten Minderheit gehören.
Jessup und seine Familie rechnen sich zu den Leuten, die gemeinhin als White Trash bezeichnet werden. Zumindest denkt Jessup, dass die anderen ihn genau so sehen. Das Leben und Überleben ist für sie nicht einfach, der Wohnwagen will schließlich leidlich beheizt, die Rechnungen bezahlt und die Kühltruhe befüllt werden. Sie sind stolz auf das, was sie mit harter Arbeit erreichen können, auch wenn es nicht viel ist. Die Mutter der Patchworkfamilie schiebt Doppelschichten und auch Jessup jobbt für den Familienunterhalt, vor allem, damit es seiner kleinen Halbschwester gut geht. Sein älterer Halbbruder sitzt für längere Zeit im Gefängnis, sein Stiefvater kommt gerade wieder raus. Wird jetzt alles besser? Wenn nur die Leute nicht so viel gucken, nicht so viel tuscheln würden. Kleinstadt eben.
Die Geschichte spielt in der fiktiven Stadt Cortaca (wohl eine Mischung aus Cortland und Ithaca), im ländlichen Upstate New York, dort, wo die Bevölkerung Überwiegend weiß und relativ arm ist. Der Stadt sieht man den ehemaligen Wohlstand noch an - geschlossene Fabriken und solche, die kurz davor stehen. Rust-Belt. Einer der besseren Arbeitgeber ist die Universität, mit ihren Professoren und Verwaltungsangestellten. Es gibt jene, die auf großen Anwesen in modernen Häusern leben, oben auf den Hügeln, mit Blick über die Stadt. Und jene, die außerhalb leben, in einem Wohnwagen, so wie Jessup und seine Familie. Hier werden Werte wie Familie, Glaube und Disziplin groß geschrieben, sowie das weiß sein, wenn auch weniger explizit.
Dabei kümmert sich Jessup eigentlich nicht sehr um Fragen wie Rassismus und Hautfarbe - und weiß doch ganz genau, wie er auf andere wirkt und wie sein Handeln wahrgenommen wird. Er respektiert seinen afroamerikanischen Coach und verliebt sich in dessen Tochter. Liebt sein multikulturelles Football-Team, mit dem er es endlich zu etwas bringt und darf davon träumen, Dank eines Sportstipendiums bald aus der Stadt herauszukommen. Doch jugendlicher Übermut, ein tragischer Unfall, eine dumme Entscheidung, drohen alles zunichte zu machen, wofür er so lange so hart gearbeitet hat. Und dann stellen sich all die Fragen über Schuld, Zugehörigkeit, Loyalität, Hautfarbe usw. eben doch.


Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Es gibt einen glaubwürdigen Einblick in Jessups Leben, seine Familie, Schule, Freunde, Gemeinde. Informationen über die sozioökonomischen Verhältnisse werden nur so weit wie nötig eingestreut, während der ersten rund 30 Seiten immer wieder in kurzen Absätzen, während Jessup sich für sein erstes Play-Off-Spiel vorbereitet.
Das Buch beginnt spannend und bleibt es, mit mehreren Höhepunkten: Warum sitzen Halbbruder und Stiefvater im Knast? Wie und wann kommt es zu dem Unfall? Welche Folgen wird er haben? Und was für Folgen das sind! Dabei arbeitet der Autor mit verschiedenen spannungsaufbauenden Mitteln wie z.B. retardierendes Moment, countdownzählende Überschriften, der Unfall als Vorschau im Prolog (natürlich ohne zu viel zu verraten), eine Erzählung im Präsens (dritte Person) und eine Handlung, die sich mit Ausnahme weniger Rückblenden über gerade mal ein Wochenende erstreckt. Man kann das Buch also fast in „Echtzeit“ lesen, einen Tag heute, einen Tag morgen, und schon ist man durch! Das Buch beginnt mit einem meisterhaft geschilderten Football-Spiel, das immer wieder für Rückblenden oder einführende Informationen unterbrochen wird. Das Spiel drängt dabei zum Weiterlesen, was ich als einen klugen Schachzug empfand. Und obwohl ich keinen blassen Schimmer von American Football habe, ließ mich das beschriebene Spiel quasi außer Atem durch die Seiten fliegen. Als der Höhepunkt der Erzählung, den ich mir gedacht hatte, erreicht wurde, fing die Handlung eigentlich erst an. Oder begann aufs Neue. War das halbe Buch noch zu lesen! Der Roman ließ sich einfach nur schwer aus der Hand legen und ich musste mein Lesetempo erhöhen, um meine Neugierde zu befriedigen.
Alexi Zentner schafft es, Empathie für jene zu wecken, die diese in Erzählungen für gewöhnlich nicht verdienen: Rassisten. Die Opfer sind schwarz, aber ohne Sympathiepunkte. Jessup und seine Familie sehen sich einer voreingenommenen Öffentlichkeit gegenüber. Sie stehen auf dem Prüfstand, die Polizei wartet scheinbar nur auf einen Fehltritt. Ich dachte mir oft: die Geschichte kennst du, nur andersherum. Fragte mich, wie es wäre, wenn die Hautfarben vertauscht wären. Wenn es nicht Upstate New York, sondern tiefstes Alabama wäre. Dabei ist dem nicht ganz so. Es ist nicht einfach ein Umdrehen der gängigen Antirassismuserzählung. Es geht um das menschliche Bedürfnis, einer Strafe zu entkommen, um Reue, Wiedergutmachung, Erkenntnis, Freundschaft, Sinneswandel. Wer oder was ist wirklich wichtig im Leben? Auf wen kann man zählen, wem kann man vertrauen? Steht man ein Leben lang zu seinen Überzeugungen, oder kann man die Meinung ändern? Viele Fragen und gesellschaftspolitische Themen werden in diesem Buch verarbeitet und ich fand die Umsetzung sehr gelungen. Das für uns typisch amerikanische Medienspektakel rund um einen polarisierenden Kriminalfall wird gut dargestellt und dezent kritisiert.
Dem Roman wird ein Vorwort des Autors vorangestellt, in dem er davon erzählt, wie seine Familie aufgrund ihres Engagements gegen Rassismus Opfer von rechter Gewalt wird. Ich denke, dass das eine gute Idee war, denn sonst entstünde v.a. zu Beginn vielleicht der Eindruck, der Autor wolle rechte Gesinnungen erklären, verklären oder gar verteidigen. Ich war zu Beginn des Buches auch ein wenig irritiert, ob der Sympathie für die Mitglieder der rechten Szene. Dabei darf man nicht vergessen, dass hier ein Jugendlicher von seiner Familie erzählt, die er trotz allem liebt.

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