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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 14.04.2019

Zeit-Genössisch

Was uns erinnern lässt
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Milla ist alleinerziehende Mutter und hat seit ihrer Trennung ein Faible für „Lost Places“, vergessene, verborgene Orte.
So findet sie eines Tages in der Sperrzone der früheren DDR den Zugang zum Keller ...

Milla ist alleinerziehende Mutter und hat seit ihrer Trennung ein Faible für „Lost Places“, vergessene, verborgene Orte.
So findet sie eines Tages in der Sperrzone der früheren DDR den Zugang zum Keller eines Hotels. Neugierig geworden, versucht sie die ehemaligen Bewohner ausfindig zu machen und lernt so die Familiengeschichte der Familie Dressel, die einst das Hotel „Waldeshöh“ bewohnt hat, kennen.
In der Sperrzone gelegen, war das Haus nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend in Vergessenheit geraten. Irgendwann wurden auch Strom und Telefon abgedreht, jeder Schulbesuch der Kinder oder jeder Arbeitsweg führte über Kontrollstationen und wurde zunehmend erschwert. Ende der siebziger Jahre wurde die Familie zwangsumgesiedelt, das Haus geschliffen.
Mit Millas Entdeckung kommen Erinnerungen zutage, die manches Familienmitglied lieber dem ewigen Vergessen überlassen hätten. Wer trug die Schuld daran, dass die Familie enteignet wurde?
Ich fand die Geschichte persönlich sehr spannend, da ich – ungefähr im gleichen Alter wie Christine, die Hauptansprechpartnerin von Milla in der Familie - auch immer wieder meine Erfahrungen und meine Kindheit mit der von Christine verglichen habe – und dabei erschüttert war, wie wenig ich von dem Leben in der DDR wusste, obwohl wir nicht so weit davon entfernt sind.

Veröffentlicht am 14.04.2019

Pflichtlektüre

Die große Heuchelei
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Jürgen Todenhöfer hat die schlimmsten Krisenregionen bereist und schildert in dem Buch seine Erfahrungen – und seine Überzeugung, wieso der Westen nicht zur Befreiung ausrückt, sondern um seine Interessen ...

Jürgen Todenhöfer hat die schlimmsten Krisenregionen bereist und schildert in dem Buch seine Erfahrungen – und seine Überzeugung, wieso der Westen nicht zur Befreiung ausrückt, sondern um seine Interessen in den ärmsten Regionen der Welt durchzusetzen.
Die Kapitelüberschriften lesen sich wie Zeitungsschlagzeilen des letzten Jahrzehnts: Mossul, Aleppo, Afghanistan, Syrien, Myanmar (die Vertreibung der Rohingya). Todenhöfer entblößt schonungslos die Machtansprüche, die die Politik mit als Befreiungsaktionen getarnten Militärinterventionen durchsetzt. Auf den Rücken der Zivilbevölkerung, die noch jahrzehntelang die Trauma dieser Befreiungsaktionen durchleben wird. Und die keine Chance mehr auf ein selbstbestimmtes Leben haben wird, viele Bewohner sind geflüchtet, die Familien, die überlebt haben, sind über den Globus verstreut, auf der Suche nach einem Leben im Frieden. Todenhöfer will mit seinem Buch aufrütteln und zum Umdenken anregen – nur wenn es gelingt, die Menschenrechte wirklich weltweit nicht nur zu propagieren, sondern auch zu leben, als Maxime für alle zu betrachten, haben die Menschen in diesen Regionen eine Chance.
Irak, Afghanistan, Syrien, Jemen, Libyen. Nur Namen, die symbolisch für Millionen Betroffener stehen.
Todenhöfer unterlegt seine Reportage mit Bildern von sich und seinem Sohn Frederic – vor den Ruinen in Mossul, eine Stadt, deren Zerstörung man sich nicht vorstellen kann, vor dem Grenzzaun in Myanmar, von den Leichen in den Ruinen, die einfach liegenbleiben. Trockene, erschütternde Fakten werden mit Schilderungen von Einzelschicksalen lebendig dargestellt.
Ich kenne inzwischen einige ehemalige Asylwerber aus diesen Krisenregionen: Der KFZ-Lehrling, aus dem Irak vertrieben, der hier jeden Cent zweimal umdreht, um sich die halsabschneiderische Miete für sein Kellerzimmer leisten zu können, trotzdem voller Hoffnung, es hier „zu schaffen“. Ohne die Militärinterventionen wäre er immer noch im Irak, wahrscheinlich inzwischen schon Vater und Besitzer einer eigenen Werkstatt. Der Hausmeister, aus dem Sudan geflohen und jetzt, nach dem Sturz von al Bashir voller Hoffnung, seine Familie vielleicht doch wiedersehen zu können – eines Tages. Der Universitätslehrer aus Afghanistan, der als Dolmetscher für die US-Soldaten gearbeitet hat und nun froh ist, einen Hilfsarbeiterjob zu bekommen und eine Wohngelegenheit in einem Heim.
Für alle gilt: ich bewundere sie zutiefst für ihren Mut, ihren Frohsinn, ihren Lebenswillen – nach all dem, was sie erfahren haben, keine Selbstverständlichkeit. Und wir sollten ihnen helfen, die unfassbaren Traumata, die sie erlebt haben, zu verarbeiten – und sie nicht erneut schikanieren.
Todenhöfers Buch sollte eine Pflichtlektüre werden. Ich kann dieses Buch nur allen, die nicht weiter wegsehen wollen, empfehlen.

Veröffentlicht am 02.03.2019

Über Glück, Liebe und das Schicksal

Liebende
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Blauperlenauge, ein Tempelfisch, der an einer Ecke eines Buddha-Tempels aufgehängt für schönen Klang sorgt, freut sich erst sehr, als er mitbekommt, dass zeitgleich mit ihm Schwarzperlenauge, ein Gegenstück ...

Blauperlenauge, ein Tempelfisch, der an einer Ecke eines Buddha-Tempels aufgehängt für schönen Klang sorgt, freut sich erst sehr, als er mitbekommt, dass zeitgleich mit ihm Schwarzperlenauge, ein Gegenstück zu ihm selbst, an der gegenüberliegenden Ecke des Tempels eingesetzt wird.
Doch als die Jahre ins Land ziehen, wird Blauperlenauge ungeduldig und stellt seine Liebe zum Tempel und zu Schwarzperlenauge in Frage, weil dieser seiner Sehnsucht nach Freiheit nicht verstehen will. Eines Tages befreit sich Blauperlenauge und kehrt dem Tempel den Rücken. Er erfährt, dass Freiheit ihren Preis hat, wird gefischt, gefangen und beinahe gekocht, bevor er sich in einer Großstadt niederlässt, wo er sich tagsüber in einen Käfig sperren lässt, um wahrzusagen, und später mit einem grauen Täuberich zusammenlebt, der ihn aber nur ausnutzt. Eines Tages kehrt er zum Tempel zurück und erfährt in einem Zwiegespräch mit dem ruhenden Buddha, dass er nur glücklich sein kann, wenn er seiner Bestimmung folgt.
Eine koreanische Erzählung über den Mut, seine eigenen Wege zu gehen, und den noch größeren Mut, zurückzukehren und einen Fehler einzugestehen, wenn das Herz es will. Mit wunderschönen Illustrationen und nachdenklichen, aber auch ermutigenden Zeilen.

Veröffentlicht am 24.02.2019

Gelungene Kompression der Vorhersehungsgeschichte

Zukunft - Eine Biografie
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Um die Zukunft zu verstehen, muss man die Vergangenheit kennen. Doch wie richtig oder falsch lagen all die Orakel, Seher, Wahrsager in der Vergangenheit? Und was lässt sich daraus für die Zukunftsprognosen ...

Um die Zukunft zu verstehen, muss man die Vergangenheit kennen. Doch wie richtig oder falsch lagen all die Orakel, Seher, Wahrsager in der Vergangenheit? Und was lässt sich daraus für die Zukunftsprognosen von heute ableiten?

Im vorliegenden Buch beschäftigt sich Jan Martin Ogiermann ausführlich mit der Zukunftsforschung, den Vorhersehungen und Orakeln der Vergangenheit.

Es ist kein leicht zu lesendes Buch, die Sätze oft verschachtelt, komplex ausgeführt, die kleine Schrift ermüdet. Und es gibt zahlreiche Quellen und umfangreiche Recherchen nachzuvollziehen.

Dennoch ist der Unterhaltungswert dieser Kompression der Vorhersehungsgeschichte groß, Aha-Erlebnisse vorprogrammiert. Welche der Vorhersehungen trat tatsächlich ein? Und was erwartet uns noch? Und wann? Vielleicht finden wir die Fragen darauf in den Schriften längst verstorbener Philosophen.

Veröffentlicht am 05.02.2019

Über Verluste und Liebe

Fünf Tage im Mai
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Leise, und wunderschön, werden fünf prägende Tage im Mai im Leben von Illy Hofer, aufgewachsen in Kitzbühel, erzählt.
Zum ersten Mal begegnen wir der Protagonistin Illy im Mai 1986, bei ihrer Erstkommunion, ...

Leise, und wunderschön, werden fünf prägende Tage im Mai im Leben von Illy Hofer, aufgewachsen in Kitzbühel, erzählt.
Zum ersten Mal begegnen wir der Protagonistin Illy im Mai 1986, bei ihrer Erstkommunion, im Schatten der Tschernobyl-Katastrophe. Und Illy vermisst in der Kirche ihren Tat’ka, ihren Uropa, der sie dann auch, als ihr schlecht wird und sie die Kirche noch vor der Kommunion verlässt, liebevoll betreut. Wir erfahren, dass Tat’ka als letzter Fassbinder arbeitet in der Werkstatt, die er sich bei Illys Elternhaus eingerichtet hat, ein Anhänger der KuK-Monarchie ist und sein Haus bei einem Kartenspiel vom Nachbarn gewonnen hat. Als Illy am Abend der Erstkommunion, dem Tag, als Tat’ka ihr auch zum ersten Mal ein Pocket Coffee zum Kosten gab (ein besonderes Erlebnis, da Illy bis dato den Geschmack des Erwachsenen-Getränks nicht kannte) mit ihrem Atlas Tat’ka in seiner Werkstatt besucht, finden sie im abgelegensten Winkel der Welt, bei der Inselgruppe Tristan da Cunha, den Namen des Schülers, der den Atlas offenbar vor Illy besessen hat, Tristan Unger. Illy fühlt sich diesem Tristan auf unerklärliche Weise verbunden, obwohl sie noch nie zuvor etwas von ihm gehört hat.
10 Jahre später, Illy ist inzwischen 17 Jahre alt, begegnen wir der Schülerin wieder, einen Tag vor Tat’kas 92. Geburtstag. Ausgehen mit Freundin Kicki ist angesagt, wobei die eigentlich nur ihren neuen Freund (Edi oder Axel? Er begegnet uns im weiteren Verlauf des Buches als Ediaxel) im Kopf hat. Als Ediaxel auftaucht, fährt er mit den Mädchen etwas außerhalb zu einer Disko, wo Freunde von ihm an diesem Abend aufgetreten sind. Doch als sie dort angekommen, ist niemand mehr da außer einem sehr verärgerten Türsteher, der gerade den Sänger der Band, der sich das Geld für ihren Auftritt gerade etwas unsanft selbst besorgt hat, verfolgt. Es kommt zu einer Schlägerei, der Sänger (und die Handkassa) landen bei Illy am Rücksitz. Sie ist unglaublich berührt, als sie feststellt, dass der charismatische, gar nicht ins Dorfgeschehen passende junge Mann neben ihr Tristan ist, DER Tristan Unger.
Als Illys Tat’ka bei den Feierlichkeiten zu seinem 92. Geburtstag am nächsten Tag eine kurze Unpässlichkeit erlebt, fährt Illys Vater am Heimweg mit ihm beim Krankenhaus vorbei. Illy ist erstaunt, Tristan dort als Zivildiener anzutreffen, und kommt mit ihm ins Gespräch.
Ende Mai 1998 treffen wir Illy wieder. Zwei Jahre lang trifft sie sich nun heimlich mit Tristan, die anfängliche Verliebtheit ist inzwischen abgeflaut, Illy will sich endlich mit Tristan aussprechen, einmal mit ihm alleine sein, reden. Doch wieder sind Ediaxel, Kicki und ein Bandmitglied namens Anton dabei, als sie an diesem Frühsommertag ein Lagerfeuer zu Ehren des ehemaligen Fußballtrainers der Jungs veranstalten. Illy hat alles so satt – die Sauferei, die Musik, und nützt die Gelegenheit einer Pause, als das Bier ausgeht und Anton, der als einziger noch halbwegs nüchtern scheint, mit Illy Nachschub holen sollte. Da Anton noch seiner Mutter Zigaretten bringen möchte, dauert das länger als geplant, und Illy und Anton werden bei ihrer Rückkehr von den anderen bezichtigt, sie hätten miteinander geschlafen in der Zeit. Tristan, der inzwischen schon vollkommen betrunken ist, Kicki und Ediaxel misshandeln Illy und Anton. Illy flieht und beschließt, dass sie jeden Kontakt zu Tristan abbrechen muss.
Drei Tage vor Tat’kas 100stem Geburtstag kehrt Illy vom Auslandsstudium in Marseille verfrüht zurück – eigentlich wäre sie erst am 18. Mai (2004) erwartet worden, doch eine unangenehme Begegnung in Marseille ließ sie früher zurückkehren. Illy besucht erst Tat’ka, und macht mit ihm einen Ausflug auf seiner alten Puch Maxi. In einem langen Gespräch das in just jenem Gasthof, vor dessen Tür Illy Tristan das erste Mal sah, geführt wird, erfahren wir aus Nebengedanken, was mit Tristan geschehen ist, als Illy den Kontakt abgebrochen hat, und hören, wie Tat’ka seine erste große Liebe, seine Ursel, auf tragische Weise verloren hat. Tat’ka bittet Illy noch zum Abschied, ihren Vater am nächsten Morgen zu ihm zu schicken.
An seinem 100sten Geburtstag wird Korbinian Hofer, wie Tat’ka im bürgerlichen Namen heißt, beerdigt. Er hat sich am Tag nach Illys letztem Besuch auf der Treppe in seinem Haus tödlich verletzt – ob mit Absicht oder nicht, das wird man nie erfahren. Beim Besuch am Friedhof findet Illy auch die Grabstätte von Tristan – und die lange gesuchte innere Ruhe.
Es sind nur fünf Tage, die wir die Protagonistin begleiten, doch aufgrund der unglaublich mitreißenden, lebendigen, warmherzigen Sprache, in der Elisabeth R. Hager von Abschied, Trauer, Wut und Liebe erzählt, hat man den Eindruck, die Protagonisten persönlich zu kennen. Wundervoll geschriebener Roman über das Leben und darüber, dass das Leben auch nach großen Verlusten weitergeht.