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Veröffentlicht am 11.07.2020

Dramatische Liebesgeschichte mit kulturellem Flair

Die sardische Hochzeit
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Sardinien, Anfang der 20iger Jahre, eine Zeit im Umbruch. Italien steht kurz vor der Machtergreifung Mussolinis und die Wunden des Ersten Weltkrieges haben viele junge Männer und deren Familien gezeichnet. ...

Sardinien, Anfang der 20iger Jahre, eine Zeit im Umbruch. Italien steht kurz vor der Machtergreifung Mussolinis und die Wunden des Ersten Weltkrieges haben viele junge Männer und deren Familien gezeichnet. In der Vorgeschichte von Grit Landau’s Roman „Marina, Marina“ wird der Leser nach Sardinien entführt. Eine Insel, die stolze Bewohner hat, die sich nicht wie Italiener fühlen. Aber auch eine Kultur, die in einigen Regionen der Insel immer noch alte teils geheimnisvolle Traditionen pflegt und die an diesen Traditionen festhält: „Unsere Insel.“ – Es ist die Geschichte des jungen Leo Lanteri, der seine ligurische Heimat fluchtartig verlassen muss, um gleichzeitig für seinen Vater ein lukratives Geschäft an Land zu ziehen. Leo hat die traumatischen Erlebnisse des Ersten Weltkrieges noch nicht überstanden, Alpträume plagen ihn. Sardinien ist anders, ihm fremd und anziehend zugleich. Dann begegnet er Gioia, der jungen Tochter seines neuen Geschäftspartners. Gioia steht kurz vor der Hochzeit mit ihrem Jugendfreund. Sie ist eine junge progressive Frau, die sich den familiären und kulturellen Zwängen unterwerfen wird. Beide verlieben sich ineinander. Doch wird ihre Liebe die aktuellen sich anbahnenden politischen Umwälzungen überstehen?
Auch mit diesem Roman hat Grid Landau wieder einen wunderbaren historischen Roman auf hohem erzählerischem Niveau geschaffen. Ich durfte schon „Marina, Marina“ lesen und erfahre hier noch mehr über einige spannende Ereignisse aus der Familiengeschichte der Lanteris. Ich konnte mich wunderbar in die Geschichte einfinden, da ich historische Romane sehr gerne lese. Für mich sind dabei die Atmosphäre wichtig und die handelnden Personen in ihrem zeitlichen Kontext. Man spürt, wie akkurat die Autorin über die damaligen Ereignisse auf Sardinien zur Zeit der Machtergreifung Mussolinis recherchiert hat und ihr gelingt es meiner Meinung nach gut diese geschickt in die Geschichte von Leo und Gioia einzuweben. Ich konnte zeitweise richtig die Bedrohung vor den politischen und sozialen Umwälzungen spüren und hatte mich gefragt, was das für die beiden bedeuten könnte, denn Gioias Vater Antonio ist ein Sympathisant der Faschisten, während Leo auf Sardinien Freunde unter den sozialistischen Gegnern findet.
Ich finde, Grit Landau gelingt es hervorragend die damalige Atmosphäre sprachlich und bildlich einzufangen. Dabei kommt sicherlich zugute, dass sie selbst vor Ort auf Sardinien recherchiert hat und mir als Leser die Handlungsorte authentisch und atmosphärisch näherbringt. Spürbar wird Leos traumatischer Schmerz, der ihn immer wieder durch die Erlebnisse des Ersten Weltkrieges heimsucht. Ich fand diese Passagen sehr aufwühlend und finde, dass man dieses Kapitel der europäischen Geschichte literarisch noch sehr wenig aufgearbeitet hat. Darüber hätte ich gern mehr erfahren, zumal es für mich darin noch einen Aspekt gegeben hat, der mir etwas zu kurz gekommen ist. Aber zu viele Handlungsstränge hätten mitunter den Roman zu komplex gemacht. - Insgesamt sind die Charaktere des Buches sehr gut konzipiert, jeder hat eine begründete Motivation für sein Handeln. Gioia ist mir durch ihre selbstbewusste und moderne Art sympathisch. Anfangs hatte ich mich noch gefragt, ob sie es schaffen kann, aus ihrer durch ihr soziales Umfeld geprägten Rolle auszubrechen. Doch sie hat mich positiv überrascht. Leo ist vor allem ein stolzer junger Mann, der einen starken Familiensinn hat und tief traumatisiert ist – sich aber dennoch durch einen starken Gerechtigkeitssinn auszeichnet.
Wer – allein schon durch den suggerierten Titel und die beiden Hauptcharaktere – eine reine Liebesgeschichte erwartet, wird enttäuscht. „Die Sardische Hochzeit“ ist ein hervorragend eingefangenes kulturelles Bild einer Gesellschaft am Rande des Umbruchs. Man spürt, wie stark Sardinien durch seine alten Traditionen, Sagen und Riten geprägt wird. Für mich ein echter Pluspunkt dieser Geschichte. Das wird unterstützt durch die vielen kleinen Sagen und traditionellen Geschichten, die die Autorin zu Beginn jedes Kapitels einwebt und mich als Leser in diese „fremde“ Welt eintauchen und mich gleichzeitig ein Stück weit an den Denkweisen der Sarden teilhaben lässt. Man versteht gleich viel besser, warum dieses Volk sich im Roman bewusst anders verhält. Es ist aber auch eine dramatische Familiengeschichte, deren unerwartete, ja ich möchte fast sagen, sogar für mich überraschende Wendung sich erst am Ende offenbart. Einen kleinen Punkt Abzug muss ich aber genau an der Stelle machen, wegen einer für mich kleinen Unglaubwürdigkeit in der Handlung – aber insgesamt ist der Gesamteindruck dieses sehr gelungenen Romans sehr positiv.
Mein Fazit: Eine wunderbar dramatisch erzählte Geschichte - eingebettet zwischen Liebesgeschichte, Weltkriegs-Trauma, politisch-sozialen Umwälzungen und der teils fremd wirkenden sardischen Kultur. Man spürt, mit wieviel Herzblut hier die Autorin an der Geschichte gearbeitet hat.

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Veröffentlicht am 05.07.2020

Als Hysterie noch eine Krankheit war

Die Tanzenden
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Paris, 1885: Die Geisteskranken des berühmt-berüchtigten Pariser Krankenhauses „Saint-Salpetrière“ bereiten sich auf das Highlight des Jahres vor – den Bal des Folles. Ein Ereignis, bei dem die gehobene ...

Paris, 1885: Die Geisteskranken des berühmt-berüchtigten Pariser Krankenhauses „Saint-Salpetrière“ bereiten sich auf das Highlight des Jahres vor – den Bal des Folles. Ein Ereignis, bei dem die gehobene Pariser Gesellschaft sich einem unwürdigen Spektakel aussetzt, nämlich im Rahmen eines Balls den nervenkranken Frauen zu begegnen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt und dennoch mit Faszination betrachtet werden. Die junge Eugénie Cléry, die wegen ihrer spiritistischen Begabung von der eigenen Familie eingeliefert wird, will sich dieser menschenverachtenden Behandlung nicht beugen und plant die Flucht. Hilfe erhält sie allerdings von einer unerwarteten Stelle…
„Die Tanzenden“ ist mir in erster Linie durch das wunderbare pastellig gestaltete Cover, das so viel Leichtigkeit und Weiblichkeit ausdrückt, aufgefallen. Der Klappentext hat mich zusätzlich neugierig gemacht. Ich musste den Roman lesen. Victoria Mas ist ein für mich herausragender Roman gelungen. Sie entführt uns in das 19. Jahrhundert, in dem auch durch Persönlichkeiten wie Sigmund Freud, die Menschen anfangen sich die Erforschung der Psyche zu interessieren und die Betroffenen wie Versuchstiere erniedrigenden Torturen aussetzen, um die Grenzen des Wissens zu überwinden. Schauplatz ist dabei eines der berüchtigsten Heilanstalten Europas. Victoria Mas nimmt uns mit in jene Zeit und lässt uns hinter die Kulissen blicken. Es ist eine spannende Reise, die zum einen authentische Bilder zeichnet, aber auch erschütternde Einzelschicksale präsentiert. Denn die Opfer sind überwiegend Frauen: die Hysterie galt damals als Nervenkrankheit, wer sich anpassen wollte oder gar ein eigenes Denken entwickelte, konnte schnell ausgegrenzt oder als nervenkrank gelten.
Im Mittelpunkt des Romans stehen drei Frauen, die unterschiedlich sind, aber alle drei Opfer einer patriarchalischen Gesellschaft werden, in der eigenes Denken, selbstbewusstes Auftreten oder Auflehnung gegen die männliche Dominanz unerwünscht waren.
Eugénie ist eine fortschrittlich denkende, gebildete junge Frau, die aus den Grenzen des damaligen weiblichen Rollenverständnisses ausbrechen möchte. Sie wird von der eigenen Familie in die Heilanstalt eingewiesen, als sie ihre Neigung und Begabung zur Spritualität entdeckt.
Louise hingegen ist schon länger in der Heilanstalt. Ihr Verhalten ist die Folge eines psychischen erlittenen Traumas, das ihr durch männliche Gewalt angetan wurde. Sie träumt davon, berühmt zu werden und durch Heirat aus der Heilanstalt entlassen zu werden.
Geneviève ist Aufseherin in der Heilanstalt. Sie ist selbst durch den Tod der jüngeren Schwester traumatisiert und ein wichtiger Bezugspunkt vieler Frauen. Allerdings betrachtet sie die Frauen und die Geschehnisse eher aus der Distanz und wird dadurch Teil der männlich geprägten Unterdrückungsmechanismen. Aber auch sie wird Opfer, als sie erkennen muss, dass ihre Meinung im Grunde nichts zählt.
Alle drei Frauen haben mich auf ihre Art und Weise berührt. Victoria Mas‘ Erzählstil ist sehr feinfühlig, aber gleichzeitig authentisch. Die Geschichte ist überwiegend im Präsens geschrieben. Dadurch hatte ich das Gefühl mich mitten in der Erzählung zu befinden und die Handlung direkt mitzuverfolgen. Die erzählten Geschichten sind erschreckend, aber auch mutig erzählt. Für mich war es beklemmend zu lesen, wie Frauen in dieser Zeit behandelt und Repressalien ausgesetzt wurden, um die Forschung voranzutreiben. Allerdings ist keine der handelnden Personen völlig hilflos, jede ist mutig und entschlossen sich den Gegebenheiten entgegenzustellen. Ein Punkt Abzug allerdings muss ich geben, da ich mich mit dem von Eugénie betriebenen Spiritismus nicht so recht anfreunden konnte. Der Fakt ist zwar sehr gut in die Handlung eingewoben, aber wirkt auf mich fehlplatziert, um nicht zu sagen unglaubwürdig. Eugénies mutiger Charakter und selbstbewusstes Auftreten hätten womöglich damals schon ausgereicht, um sie in der damaligen Gesellschaft für nervenkrank zu halten.
Mein Fazit: Ein empathischer, aufwühlender Roman, über eine Zeit, in der selbstbewusste Frauen unterdrückt wurden. Und eine Geschichte über drei Frauen, die versuchen aus einem menschenverachtenden System auszubrechen - mutig, authentisch und feinfühlig erzählt.

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Veröffentlicht am 14.06.2020

Kauzig, schräge Mödersuche

Walter muss weg
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Hannelore Huber hat diesen Tag herbeigesehnt: endlich Witwe. Nach mehr als 50 Jahren Ehe mit einem Gatten, der ihr mehr oder wenig aufgezwungen wurde und eine Ehe, die am Ende mehr schlecht als recht geführt ...

Hannelore Huber hat diesen Tag herbeigesehnt: endlich Witwe. Nach mehr als 50 Jahren Ehe mit einem Gatten, der ihr mehr oder wenig aufgezwungen wurde und eine Ehe, die am Ende mehr schlecht als recht geführt wurde. Umso fröhlicher blickt sie ihrer Zukunft entgegen. Doch weit gefehlt: Am Tag der Beerdigung öffnet sich der Sarg ungewollt und darin liegt ein anderer Toter als ihr Ehemann. Schnell wird klar, hier ist etwas ganz und gar Seltsames passiert im beschaulichen Ort Glaubenthal. Und wo ist ihr Gatte? Als dann noch eine Prostituierte spurlos verschwindet, die etwas mit dem Tod ihres Verflossenen zu tun haben soll, macht sich Hannelore auf die Suche nach der Wahrheit…
Zugegeben der Titel „Walter muss weg“ ist schon etwas merkwürdig. Aber er macht auch neugierig. Denn als ich ihn las, dachte ich sofort, hier bringt eine frustrierte Ehefrau ihren Ehemann um und kommt auch noch damit durch. Ich habe mich geirrt. Aber den schwarzen Humor hat die Geschichte trotzdem reichlich. Als Leserin werde ich ein beschauliches, idyllisches Ort mitten in die Alpen versetzt. Da wo sich buchstäblich Fuchs und Hase gute Nacht wünschen und jeder jeden kennt, zumal man sich auch mit den berühmten Feldstechern auf Schritt und Tritt gegenseitig verfolgen kann. Die Dorfbewohner sind kauzige Zeitgenossen, bei denen man von Anfang an glaubt, dass jeder so seine Leichen im Keller hat. So ist es auch in diesem Roman, der nur so trieft vor schwarzem Humor. Hannelore Huber, gut 70 Jahre alt, begibt sich in ihrem Alter auf Mördersuche… und das an einem einzigen Tag. Eine beachtliche Leistung und wer hier sofort an Agatha Christie’s Miss Marple denkt … ich musste es auch. Das ist aber nicht schlimm. Die Figur ist bekannt und jeder mag die alte verkauzte Möchtegern-Detektivin, die im Ganzen eine bessere Figur macht, als die seltsam vertrottelt wirkenden Polizisten Swoboda und Unterberger-Sattler. Der Autor bedient sich hier bekannten literarischen Klischees und Charakteren und packt sie in eine idyllische Alpendorf-Optik. Das Ganze wird dann noch gewürzt mit triefendem schwarzem Humor, denn die vermeintliche Witwe freut sich über das Ableben des Gatten und rächt sich quasi damit, in dem sie ihn in verhasste Kleidungsstücke beerdigen lässt. Überhaupt hat die gute Hannelore Huber so manche scharfe Kante. Sie wirkt verbittert, grantig, aber wortwitzig und auf den zweiten Blick alles andere als dement oder vergreist. Wer nachts noch mit Gehstock durch die Gegend auf Mörderjagd gehen kann, ist alles andere als „alt“. Besonders ans Herz gewachsen ist mir „Hanni“, da sie nur auf den ersten Blick verbittert erscheint. Ja, sie beweist sogar noch Herz, wenn es um die kleine Amelie Glück geht. So ist dem Autor meiner Meinung eine interessante, vielschichtige Hauptfigur gelungen, wenn er sich auch nicht komplett vom Klischee einer Miss Marple lösen kann.
Wer das gut verkraften kann, darf sich darüber hinaus an der anspruchsvollen, wortgewandten Sprache erfreuen, die wahrscheinlich so manchen Leser zur Verzweiflung bringt. Auch ich hatte meinen holprigen Start. Oh ja, der Autor kann uns hier geradezu beim Lesen schwindelig schreiben. Die Sätze sind ungewohnt verschachtelt, temporeich und zackig geschrieben. Angereichert mit vielen Bewertungen. Glossen-Leser dürften sich freuen. Das liest man nicht so häufig in der Literatur. Da wird vom ersten Satz bis zum letzten eine humorvoll-beschreibende, akzentuierte und auch schwarz-humorige Sprache an den Tag gelegt, die in der stark überzeichneten Darstellung der Charaktere gipfelt. Hier wird das Urteil dem Leser schon „vorgekaut“, anstatt es nüchtern und objektiv zu präsentieren. Ungewohnt – das stimmt. Ich habe sowas schon lange nicht mehr gelesen.
Punkt Abzug gibt es dennoch wegen der leicht konstruiert wirkenden Handlung, warum hier wer wen aus welchen Gründen umgebracht und Leichen vertauscht hat. Das klang dann doch etwas abstrus. Aber wenn man das gesamte Konstrukt des schwarz-humorigen Krimis anschaut, darf man sicherlich auch das mit einem Augenzwinkern abtun.
Insgesamt ein temporeiches – und das liegt nicht nur an der Handlung, die an einem ganzen Tag spielt – und humorvolles, unterhaltsames Kriminalstück, das hinter die Fassade der ach so schönen Alpendorfromantik schaut. Wer Gefallen an bissigen Humor, an überzeichneten Charakteren und einer beherzten 70-jährigen beherzten Möchtegern-Detektivin findet, wird hier genau die richtige Lektüre finden.

Mein Fazit: Alpendorfidylle von einer überspitzt schwarz-humorigen Seite. Kauzige, schräge Charaktere, wortgewandte Dialoge und eine bissige Erzählweise. Genau richtig für Freunde des schwarzen, glossenhaften Humors.

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Veröffentlicht am 01.06.2020

Neu aufgelegter Grusel-Thriller

Offline - Du wolltest nicht erreichbar sein. Jetzt sitzt du in der Falle.
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Als sich eine Reisegruppe auf einen Digital-Detox-Trip in ein abgelegenes Bergsteigerhotel begibt, ahnt noch niemand, zu welchem Horrortrip sich diese Auszeit entwickeln wird. Denn schon nach kurzer Zeit ...

Als sich eine Reisegruppe auf einen Digital-Detox-Trip in ein abgelegenes Bergsteigerhotel begibt, ahnt noch niemand, zu welchem Horrortrip sich diese Auszeit entwickeln wird. Denn schon nach kurzer Zeit verschwindet ein Reiseteilnehmer und taucht wenig später schwer verstümmelt wieder auf. Bald wird klar, er wird nicht das einzige Opfer bleiben. Unter den Reiseteilnehmern beginnt ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel. Denn eines ist klar, in dieser Einsamkeit ist der Mörder einer von ihnen.
Ein abgeschiedener Ort. Eine begrenzte Gruppe von unterschiedlichen stereotypen Persönlichkeiten. Ein Mörder mitten unter ihnen. Gegenseitige Verdächtigungen bis zur ausgewachsenen Psychose. Die Auflösung nach dem Muster – „Gruppe ermittelt bis sie den Täter findet oder sich dieser offenbart.“

Zugegeben ein altbekanntes Strickmuster, das den meisten Krimi-/Thriller-Lesern schon aus der Lektüre von Agatha Christie Krimis hinlänglich bekannt sein sollte. Und so verlässt sich auch Arno Strobel in seinem neuesten Thriller auf das bewährte Rezept. Garniert wird das ganze mit einem aktuellen Thema dem digitalen Detox und der Frage, was wäre, wenn wir völlig abgeschnitten von der Außenwelt und ohne die Möglichkeiten der heutigen technischen Errungenschaften (Smartphone, Internet, Telefon) an einem von der Außenwelt abgeschnittenen Ort dem begegnen, was wir uns in so einer Situation so rein gar nicht vorstellen wollen: einem Mörder und dem fast schon panischen Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Idee ist beinahe schon genial und lässt den Leser beinahe erschauern, denn jeder von uns möchte sich diesem Horrortrip aussetzen und erleben, wie sich eine Gruppe von Fremden in so einer Situation verhalten und wie die Situation - kurz gesagt - eskaliert.

Wem das schon zu einer mega spannenden Lektüre reicht, der ist bei diesem Thriller bestens aufgehoben. Auch ich habe aus diesem Grund gerne zur Lektüre gegriffen, kannte ich doch schon einige Thriller des Autors und habe mir ein schaurig-schönes, psychologisch tiefsinniges Leseabenteuer erwartet. Doch obwohl mich der Autor durchaus auf diesen Trip mitnehmen konnte und sich über lange Strecken eine unterhaltsame, spannende, nervenaufreibende Geschichte spinnt. Muss ich leider auch feststellen, dass die Geschichte hier doch an der einen oder anderen Stelle für mich deutliche Mängel aufweist. Zugegeben ich gehöre zu den Lesern, die eine gepflegte Thriller Unterhaltung nach dem Agatha-Christie „10 kleine Negerlein“-Muster zu schätzen wissen und dann echt mitfiebern, wer der Täter ist und wer als nächstes sterben wird. Dennoch haben sich hier beim Lesen manchmal schon ein Fragezeichen im Kopf gebildet.
Zunächst aber mal zum Positiven: Das Coverdesign, aufmerksamkeitsstark als Smartphone gestaltet, ist wirklich ein Blickfang und passt hervorragend zu Thema. Das Thema Digital Detox ist aktueller denn je und so ziemlich jeder kann sich augenscheinlich in die Situation der Betroffenen in diesem Buch hineinversetzen, wenn das Smartphone halt mal nicht mehr greifbar ist. Super fand ich auch, wie der Autor hier die sich entwickelnde Extremsituation und die Gruppendynamik gekonnt auf die Spitze treibt und die Charakterentwicklungen psychologisch ausschlachtet: vom völlig aufgelösten Hysteriker bis zum ruhig-kalkulierenden Analytiker ist, glaub ich, alles dabei. Aber das erwartet man, sonst wäre die Geschichte nicht so spannend, denn den Schauplatz wechseln wir während des Lesens nicht. Hinzu kommen noch ein paar gruselige Situationen, als sich die handelnden Personen auf die Suche durchs Hotel begeben – na klar, nach dem Prinzip „wir trennen uns, dann sind wir effektiver“. Der Klassiker. Als Leser kann ich mich voll und ganz auf die Charaktere und den Ort konzentrieren – und da fängt für mich schon das erste Problem an.
Zu Beginn hatte ich den Eindruck, dass die Geschichte nicht so richtig in Gang kommt. Die ersten Seiten, das Kennenlernen der Teilnehmer und das Eintreffen im Hotel ziehen sich schon etwas in die Länge, sind aber auch notwendig, um die verschiedenen Personen kennen zu lernen und schon erste Spannungspunkte zu erkennen. Die Personen wirken auf mich manchmal schon sehr stereotypisch, aber wenn es der Geschichte hilft… Zweiter Punkt ist das Hotel, was für mich allein von der Beschreibung her ein riesiges Gebäude sein muss, gerade in dem nicht renovierten Teil kann man sich förmlich „verirren“. Vielleicht ist es Kalkül vom Autor, den Leser dabei zu verwirren. Wenn ich als Leser die Orientierung an einem Ort verliere, dann trägt das bei mir zu einem Unwohlsein bei. Vielleicht gekonnter Erzählstil? –

[ +++ Achtung Spoiler im Absatz +++] Zum anderen fand ich, dass mir beim Lesen teilweise die Spannung zerstört wurde. Das geschah zum Beispiel durch Kommentare des Erzählers wie „Er sollte sich täuschen“ oder „Er ahnte nicht, wie sehr er sich damit irrte“. Das ist aus meiner Sicht kontraproduktiv, gibt der Erzähler mir hier doch schon Hinweise, von denen ich mich gerne selbst überraschen lassen möchte. Auch die Täter-Enthüllung hätte ich fast selbst erraten. Ich möchte hier nicht soviel verraten, aber wer genau mitliest, ahnt irgendwann, wer es sein kann. Daher ist zwar der Schlussakt spannend konstruiert, aber auf der anderen Seite wurde hier auf einen überraschenden Abschluss verzichtet. Die letzten Seiten werden geradezu im Schnellakkord abgearbeitet. Auch kommen immer inhaltliche Wiederholungen vor, z.B. die ständige neue Suche durch das Hotel, die Dialoge zwischen den Personen, die zwar zunehmend eskalieren, doch sich meist inhaltlich um ähnliche Themen drehen. Auch eines der verstümmelten Opfer zum Erzähler zu machen – quasi erzählerisch die Erzählperspektive zu wechseln – ist zwar gekonnt eingesetzt und erhöht die Spannung für den Leser, aber auf der anderen Seite fand ich es doch irgendwie unglaubwürdig, wie das „Opfer“ dann noch zur Lösung des Falls beiträgt. [+++ Spoiler Ende +++]

Die Hauptfigur Jenny trug für meinen Geschmack auch nicht dazu bei, sie als Charakter zu mögen. Sie blieb für mich irgendwie unnahbar, zwar hilfsbereit und optimistisch, aber auch mit wenig Fallhöhen in der Charakterentwicklung.

Was bleibt? Arno Strobel ist hier durchaus ein aktualitätsbezogener, spannend konstruierter Thriller gelungen, bei dem man über weite Strecken beim Lesen bleibt und mitfiebert bzw. miträtselt. Dennoch konnte mich das Gesamtwerk nicht komplett bei Charakterentwicklung und Auflösung überzeugen.

Mein Fazit: Ein solides, mitreißendes Thriller-Menü, das eine bewährte „Whosdoneit“-Idee neu verpackt, mit einem aktuellen Thema angereichert gekonnt serviert und psychologisch auf die Spitze treibt, aber in punkto Charakterentwicklung dann doch nicht bis zur Vollkommenheit verkostet hat.

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Veröffentlicht am 31.05.2020

Kraftvolle Geschichte über das Anderssein

Der Gesang der Flusskrebse
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1969, Barkley Cove: Chase Andrews, stadtbekannter Frauenschwarm, wird tot aufgefunden. Die ersten Spuren deuten auf ein Gewaltverbrechen hin. Doch wer hat ihn ermordet? Die Bewohner des kleinen Küstenstädtchens ...

1969, Barkley Cove: Chase Andrews, stadtbekannter Frauenschwarm, wird tot aufgefunden. Die ersten Spuren deuten auf ein Gewaltverbrechen hin. Doch wer hat ihn ermordet? Die Bewohner des kleinen Küstenstädtchens haben schnell eine Verdächtige gefunden: das Marschmädchen Kya. Die junge Einsiedlerin, die Fremde, die draußen im Marschland einsam lebt und auch sonst den Bewohnern suspekt und andersartig vorkommt. Und so kommt Kya vor Gericht … und muss ihre Unschuld beweisen.

1952: Die sechsjährige Kya lebt mit ihrem Vater allein im Marschland, als ihre Mutter eines Tages ohne ein Wort die Tochter zurücklässt. Als wenig später auch der Vater nicht mehr nach Hause kommt, ist Kya allein auf sich gestellt. Und muss in dieser Extremsituation zu einer eigenständigen Person heranreifen …

Was macht Isolation aus einem Menschen? Und wie geht die Gesellschaft mit einem Menschen um, der sich bewusst ausgrenzt und die Einsamkeit sucht? – Das sind für mich zwei zentrale Fragen dieser außergewöhnlichen Geschichte von Delia Owens, mit der die Autorin auch gleichzeitig ihr Romandebüt vorlegt. Dabei verbindet sie verschiedene Genres zu einem dichten Roman, denn die Geschichte um Kya Clark ist Liebesgeschichte, aber auch ein Krimi und ein Gerichtsdrama zugleich. Zwei Erzählebenen – die Kindheitsjahre, in denen Kya zu einer jungen Frau und Künstlerin heranreift und die Ereignisse nach dem Mord an Chase Andrews - werden fesselnd miteinander verbunden, so dass am Ende eine Geschichte entsteht, die mich am Ende sogar mit überraschenden Wendungen überzeugen konnte.

Das Marschmädchen Kya ist die zentrale Figur dieser Geschichte. Und ich muss sagen, dass der Autorin eine außergewöhnliche Figur gelungen ist. Denn Kya ist wie das Marschland selbst: geheimnisvoll und unverstanden. Sie ist aber auch unglaublich verletzlich, naiv und jemand, der zu starken Gefühlen fähig ist, die man fast schon als „extrem“ bezeichnen kann. Aber auf der anderen Seite fand ich sie auch bewundernswert mutig, intelligent, instinktiv und abenteuerlustig. Sie durchstreift die Marschlande, die bald zu ihrer Heimat werden, ja mit denen sie förmlich symbiotisch verschmilzt. Und genau diese unwirtliche Umgebung macht aus ihr eine eigenständige, selbstbewusste Frau und Künstlerin, die sich besser in den Marschlanden zurechtfindet, als sie die Menschen aus dem benachbarten Barkley Cover versteht. Insgesamt hat sie nur zu wenigen Menschen von dort eine Beziehung und Vertrauen. Kya hat mich echt gefesselt. Besonders herzergreifend sind ihre zarten Bande zu Tate, einem Jugendfreund ihres Bruders, der ihr Lesen und Schreiben beibringt und ihr dadurch eine neue Welt eröffnet, in der sie sich auch als Künstlerin verwirklichen kann. Im Gegensatz dazu kann man ihr Verhältnis zu Chase Andrews als verstörend und überbordend emotional bezeichnen. Für mich ist Kya die perfekte Kombination eines Menschens, den die ungewöhnlichen Umstände in eine Extremsituation getrieben haben, aus der sie sich aber selbst kraftvoll entwickelt. Die Gesellschaft hingegen reagiert, wie zu erwarten war, verstört und mit Unverständnis, ja sogar abwertend. Aber damit spiegelt die Autorin im Grunde nur das wider, was in Wirklichkeit Menschen passiert, die anders sind, als man es von ihnen erwartet.

Ein anderes besonderes Highlight des Romans ist zweifellos die sehr realitätsnahe und detailreiche Naturschilderung der Marschlande. Die Autorin hat selbst die Gegenden in North Carolina häufig besucht und als Zoologin beweist sie in ihren Beschreibungen der heimischen Fauna und Flora einen bemerkenswerten Detailgrad und eine sehr gute Beobachtungsgabe, den sie auf Kya überträgt. Ich fand es wunderbar, erzählerisch mit der Autorin durch die Marschlande zu streifen, mit Kya’s Augen die Tiere zu beobachten und die Pflanzenwelt kennen zu lernen. Selbst wenn man mit der Handlung vielleicht nicht ins Reine kommt, die Schilderungen der Natur sind beeindruckend und sehr authentisch. Die Einsamkeit und Schönheit dieser Gegend wird mit Kya erst so richtig erlebbar.

Was bleibt am Ende? Ein bewegender, kraftvoller Roman, der mich gefesselt und allein schon durch seinen starken Hauptcharakter Kya und die poetischen Naturbilder überzeugen konnte. Aber auch eine einfühlsame, ruhige Geschichte des Erwachsenwerdens einer jungen, mutigen Frau und ihrer Suche nach Geborgenheit und Freiheit mitten in einer unwirtlichen Wildnis. Am Ende empfindet man für Kya mehr Verständnis als für die sie verurteilende Gesellschaft. Es ist eine starke Botschaft, die übrig bleibt: Dass auch isolierte, anderslebende Menschen, zu beeindruckenden und starken Persönlichkeiten werden können.

Mein Fazit: Ein bewegendes Romandebüt über das Anderssein und Erwachsenwerden mit einer kraftvollen Botschaft, einer schmerzlichen Geschichte und poetisch-eindrucksvollen Naturbildern. Eine klare Leseempfehlung von meiner Seite.

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