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Veröffentlicht am 10.03.2020

Flüssiger Erzählstil - oberflächliche Handlung

Café Engel
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Im Roman "Café Engel" steht das gleichnamige Café Engel in Wiesbaden und dessen Besitzerfamilie im Vordergrund. Zeitlich spielt der Roman zu Beginn noch während des zweiten Weltkriegs, hauptsächlich jedoch ...

Im Roman "Café Engel" steht das gleichnamige Café Engel in Wiesbaden und dessen Besitzerfamilie im Vordergrund. Zeitlich spielt der Roman zu Beginn noch während des zweiten Weltkriegs, hauptsächlich jedoch in den Anfangszügen der Nachkriegszeit. Er schildert insbesondere die amerikanische Besatzung in Wiesbaden aus der Perspektive von Hilde Koch, der Tochter der Besitzer des Café Engels, ihres Vaters Heinz Koch, einem Heimkehrer aus französischer Kriegsgefangenschaft und aus der Perspektive von Julia Wemhörner, einer Frau mit jüdischen Wurzeln die während des Krieges von Familie Koch versteckt wurde. Zeitgleich wird Luisa Kochs Flucht aus Ostpreußen geschildert, bis sie bei ihrer unbekannten Familie in Wiesbaden ankommt. Ein Nebenstrang erzählt die Geschichte von Jean Jacques, dem französischen Fremdarbeiter und Liebhaber Hildes, der aus Deutschland entkommt und sein Leben in Südfrankreich wieder aufnimmt.

Insgesamt hat der Roman zahlreiche Handlungsstränge, die zwar unterhaltsam zu lesen sind, aber insgesamt recht oberflächlich behandelt werden. Den Zwist zwsichen Jean Jacques und seinem Bruder Pierrot, der überhaupt nicht zur Haupthandlung beiträgt, hätte man sich vielleicht sparen können. Dafür hätte man besser mehr über Luisas Flucht erfahren. Hier stört mich am meisten, wie die Autorin mit Luisas Vergewaltigung umgeht. Nachdem es passiert, wird es nie wieder angesprochen. Luisa denkt nicht einmal daran - es ist, als hätte sie es mir nichts dir nichts vergessen. Das erweckt den Eindruck, als wäre die Vergewaltigung nur ein Stilmittel, um ein Kapitel interessanter zu machen - persönlich finde ich das, besonders aus moralischen Gründen, nicht in Ordnung. Gleichermaßen oberflächlich bleibt Hildes Beziehung zum Amerikaner Josh Peters. Der ist mal da - und dann einfach wieder weg. Auch Hildes Beziehung zu Luisa, die sich ganz plötzlich um 180 Grad dreht, ohne dies genauer zu erläutern, ist recht oberflächlich. So wurden an einigen Stellen in meinen Augen zahlreiche Potentiale für eine wirklich tiefgründige Geschichte vergeudet.

Was mich mit Abstand am meisten stört, ist jedoch das Versprechen, das auf dem Buchdeckel gemacht wird: "...Bis Hilde und Luisa begreifen, dass sie etwas gemeinsam haben: ein Geheimnis aus Kriegszeiten, das sie bis heute fürchten ..." An dieser Stelle muss ich leider sagen, dass ich bis zum Ende auf das gemeinsame Geheimnis gewartet habe - aber es nicht finden konnte. Hier wird eine große Gemeinsamkeit aufgebaut, die es überhaupt nicht gibt. Wenn sie jemand findet, wäre ich dankbar darüber, mich aufzuklären. Grundsätzlich würde ich dem Verlag jedoch empfehlen, den Beschreibungstext abzuändern - denn der führte insbesondere zu enttäuschten Erwartungen meinerseits.

Dennoch hat das Buch auch gute Seiten: Es ist sehr perspektivenreich geschrieben, sodass der Leser zahlreiche Eindrücke erhält. Es lässt sich leicht und flüssig lesen, und ist durchweg auch unterhaltsam geschrieben. Die Charaktere sind recht vielfältig. Luisa ist das liebe Mädchen von nebenan, Hilde das Gegenteil: eine durchsetzungsstarke junge Frau, die sagt, was ihr auf der Zunge liegt. Besonders Hilde ist als Charakter sehr erfrischend. Dennoch konnte ich mit keinem Charakter so richtig warm werden. Das lässt sich allerdings vermutlich wieder auf die oberflächliche Handlung zurückführen.

Im Fazit ist Café Engel ein flüssig geschriebener, unterhaltsamer Roman, der jedoch sehr oberflächlich bleibt. Vielleicht kommt im zweiten Band mehr Inhalt - und vielleicht ist der erste Band gerade so angelegt, dass man den zweiten kaufen muss, um die Geschichte zu begreifen. Dennoch schafft der erste Band wenig Motivation, um an der Café Engel-Saga weiterzulesen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.03.2020

Flüssiger Erzählstil - oberflächliche Handlung

Café Engel
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Im Roman "Café Engel" steht das gleichnamige Café Engel in Wiesbaden und dessen Besitzerfamilie im Vordergrund. Zeitlich spielt der Roman zu Beginn noch während des zweiten Weltkriegs, hauptsächlich jedoch ...

Im Roman "Café Engel" steht das gleichnamige Café Engel in Wiesbaden und dessen Besitzerfamilie im Vordergrund. Zeitlich spielt der Roman zu Beginn noch während des zweiten Weltkriegs, hauptsächlich jedoch in den Anfangszügen der Nachkriegszeit. Er schildert insbesondere die amerikanische Besatzung in Wiesbaden aus der Perspektive von Hilde Koch, der Tochter der Besitzer des Café Engels, ihres Vaters Heinz Koch, einem Heimkehrer aus französischer Kriegsgefangenschaft und aus der Perspektive von Julia Wemhörner, einer Frau mit jüdischen Wurzeln die während des Krieges von Familie Koch versteckt wurde. Zeitgleich wird Luisa Kochs Flucht aus Ostpreußen geschildert, bis sie bei ihrer unbekannten Familie in Wiesbaden ankommt. Ein Nebenstrang erzählt die Geschichte von Jean Jacques, dem französischen Fremdarbeiter und Liebhaber Hildes, der aus Deutschland entkommt und sein Leben in Südfrankreich wieder aufnimmt.

Insgesamt hat der Roman zahlreiche Handlungsstränge, die zwar unterhaltsam zu lesen sind, aber insgesamt recht oberflächlich behandelt werden. Den Zwist zwsichen Jean Jacques und seinem Bruder Pierrot, der überhaupt nicht zur Haupthandlung beiträgt, hätte man sich vielleicht sparen können. Dafür hätte man besser mehr über Luisas Flucht erfahren. Hier stört mich am meisten, wie die Autorin mit Luisas Vergewaltigung umgeht. Nachdem es passiert, wird es nie wieder angesprochen. Luisa denkt nicht einmal daran - es ist, als hätte sie es mir nichts dir nichts vergessen. Das erweckt den Eindruck, als wäre die Vergewaltigung nur ein Stilmittel, um ein Kapitel interessanter zu machen - persönlich finde ich das, besonders aus moralischen Gründen, nicht in Ordnung. Gleichermaßen oberflächlich bleibt Hildes Beziehung zum Amerikaner Josh Peters. Der ist mal da - und dann einfach wieder weg. Auch Hildes Beziehung zu Luisa, die sich ganz plötzlich um 180 Grad dreht, ohne dies genauer zu erläutern, ist recht oberflächlich. So wurden an einigen Stellen in meinen Augen zahlreiche Potentiale für eine wirklich tiefgründige Geschichte vergeudet.

Was mich mit Abstand am meisten stört, ist jedoch das Versprechen, das auf dem Buchdeckel gemacht wird: "...Bis Hilde und Luisa begreifen, dass sie etwas gemeinsam haben: ein Geheimnis aus Kriegszeiten, das sie bis heute fürchten ..." An dieser Stelle muss ich leider sagen, dass ich bis zum Ende auf das gemeinsame Geheimnis gewartet habe - aber es nicht finden konnte. Hier wird eine große Gemeinsamkeit aufgebaut, die es überhaupt nicht gibt. Wenn sie jemand findet, wäre ich dankbar darüber, mich aufzuklären. Grundsätzlich würde ich dem Verlag jedoch empfehlen, den Beschreibungstext abzuändern - denn der führte insbesondere zu enttäuschten Erwartungen meinerseits.

Dennoch hat das Buch auch gute Seiten: Es ist sehr perspektivenreich geschrieben, sodass der Leser zahlreiche Eindrücke erhält. Es lässt sich leicht und flüssig lesen, und ist durchweg auch unterhaltsam geschrieben. Die Charaktere sind recht vielfältig. Luisa ist das liebe Mädchen von nebenan, Hilde das Gegenteil: eine durchsetzungsstarke junge Frau, die sagt, was ihr auf der Zunge liegt. Besonders Hilde ist als Charakter sehr erfrischend. Dennoch konnte ich mit keinem Charakter so richtig warm werden. Das lässt sich allerdings vermutlich wieder auf die oberflächliche Handlung zurückführen.

Im Fazit ist Café Engel ein flüssig geschriebener, unterhaltsamer Roman, der jedoch sehr oberflächlich bleibt. Vielleicht kommt im zweiten Band mehr Inhalt - und vielleicht ist der erste Band gerade so angelegt, dass man den zweiten kaufen muss, um die Geschichte zu begreifen. Dennoch schafft der erste Band wenig Motivation, um an der Café Engel-Saga weiterzulesen.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.03.2020

Monumentales Meisterwerk mit unglaublichen Charakteren

Krieg und Frieden
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"Krieg und Frieden" spielt in Russland zu Zeiten der napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1813 und illustriert das Leben des russischen Adels in Kriegs- und Friedenszeiten. Hauptcharaktere sind Pierre ...

"Krieg und Frieden" spielt in Russland zu Zeiten der napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1813 und illustriert das Leben des russischen Adels in Kriegs- und Friedenszeiten. Hauptcharaktere sind Pierre Besuhkov, der illegitime Sohn des reichen Grafen Besuhkov, der zu Beginn des Romans zum legitimen Erben wird, Fürst Andrej Bolkonsky, der zu Beginn des Romans unglücklich mit den Trivialitäten ist, die sein verheiratetes Leben mit sich bringt und in den Krieg zieht, und Natalie Rostowa, die, zu Beginn des Romans 13 Jahre alt ist, und im Laufe der Geschichte erwachsen wird.

Ich habe relativ lange gebraucht, bis ich mich an "Krieg und Frieden" getraut habe. Das liegt zum Einen daran, dass das Lesen des Romans, der ca. 1500 Seiten umfasst, etwas Zeit beansprucht, zum Anderen aber auch daran, dass mir Sorgen machte, dass die Sprache zu alt, zu umständlich und zu unverständlich sein könnte, um den Roman wirklich genießen zu können. Nun, nachdem ich ihn gelesen habe, kann ich zwar bestätigen, dass der Roman wegen des großen Umfangs einiges an Lesezeit beansprucht - die zweiten Sorgen, nämlich die alte, unverständliche Sprache, kann ich jedoch keineswegs bestätigen.

Obwohl der Roman 1868/9 geschrieben wurde, liest er sich unglaublich flüssig. Die Sprache ist sehr verständlich, teils sind einige Interpretationen des Gesagten erforderlich. Dafür braucht es etwas Konzentration, aber weit weniger, als ich anfangs vermutet hatte. Durch die kurzen Kapitel liest sich der Roman ausgezeichnet auch stückchenweise. Denn dadurch merkt man, dass man voran kommt.

Die Handlung ist durchweg spannend. Mit den Kriegsszenen und den Kapiteln, die die Aufstellungen und Taktiken gegen Napoleon beschreiben, muss man sich entweder anfreunden oder eben nicht. Mich haben sie weniger interessiert, als die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Protagonisten und den Nebenfiguren. Dennoch kommt man leicht durch und ich habe mir sagen lassen, dass es gleichermaßen auch Leser gibt, die den Roman nur deswegen lesen. Für mich waren diese Kapitel nicht das Highlight, und durch viele bin ich auch schneller durch, als es ihnen vielleicht angemessen ist. Dennoch macht der Rest, der spannende Teil des Romans, das für mich mehr als wett.

Es ist absolut beeindruckend, wie Tolstoi seine Charaktere gestaltet. Ich habe bisher noch keinen Roman mit vergleichbar überzeugenden und gut ausgearbeiteten Charakteren erlebt. Ich habe gelesen, dass Tolstoi seine Progonisten an Verwandte und Bekannte angelegt hat - und man merkt, dass man es hier nicht mit überperfekten, langweiligen Romanfiguren zu tun hat. Es erweckt den Anschein, als ob die Charaktere tatsächlich existiert haben. Dabei ist besonders gelungen, dass jeder Charakter seine Stärken und Schwächen besitzt. Pierre ist liebenswürdig und seitens seines Charakters vorbildlich und ein perfekter Held, nur sieht er nicht so aus. Er ist zu dick - und läuft gerne einem Tonangeber hinterher. Zu Beginn sind es das seine leichtlebigen Freunde Anatole Kuragin und Dolochov, später sind es die Freimaurer. Natalie ist ebenso liebenswürdig und schön, aber leichtlebig, weiß nicht was sie will, und beginnt im Rahmen des Romans einen folgenschweren Fehler. Andrej ist gebildet, ruhig, aber nie mit dem zufrieden, was er hat. Am Ende wird er zynisch. Besonders mit Andrej, den ich nach dem Roman als chronischen Pechvogel sehe und für den ich mir wirklich ein anderes Ende erhofft hätte, kann ich sehr sympathisieren und mitfühlen.

Die Handlung ist teils natürlich durch den Ausgang der Kriege vorbestimmt. Was die Charaktere bestimmt, ist sie das keineswegs. An beinahe allen Stellen hat mich überrascht, wie sich ein Handlungsstrang gewendet hat. Hier sollte man keinesfalls den Fehler machen, und sich vorher über den Inhalt informieren, z.B. indem man den Film schaut, oder den Wikipedia-Artikel liest. Das Buch liest sich auch ganz wunderbar ohne Vorwissen - und die überraschenden Handlungsumschwünge kann man nur so ganz genießen. Obwohl mich bestimmte Wendungen beschäftigen, möchte ich hier nicht spoilern - und belasst es dabei.

Mein Fazit: Ich spreche "Krieg und Frieden" eine hundertprozentige Leseempfehlung aus. Wenige Romane haben mich so beeindruckt, und mich auch so nachhaltig beschäftigt, wie dieser. Seit einer Woche bin ich nun durch - und trotzdem kann ich meine Gedanken kaum vom Roman lösen. Ein wunderbarer Roman für alle, die gerne Historisches lesen und die Wert auf eine unglaublich gute Charaktergestaltung legen.

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Veröffentlicht am 04.03.2020

Ein monumentales Meisterwerk mit unglaublich guten Charakteren

Krieg und Frieden
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"Krieg und Frieden" spielt in Russland zu Zeiten der napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1813 und illustriert das Leben des russischen Adels in Kriegs- und Friedenszeiten. Hauptcharaktere sind Pierre ...

"Krieg und Frieden" spielt in Russland zu Zeiten der napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1813 und illustriert das Leben des russischen Adels in Kriegs- und Friedenszeiten. Hauptcharaktere sind Pierre Besuhkov, der illegitime Sohn des reichen Grafen Besuhkov, der zu Beginn des Romans zum legitimen Erben wird, Fürst Andrej Bolkonsky, der zu Beginn des Romans unglücklich mit den Trivialitäten ist, die sein verheiratetes Leben mit sich bringt und in den Krieg zieht, und Natalie Rostowa, die, zu Beginn des Romans 13 Jahre alt ist, und im Laufe der Geschichte erwachsen wird.

Ich habe relativ lange gebraucht, bis ich mich an "Krieg und Frieden" getraut habe. Das liegt zum Einen daran, dass das Lesen des Romans, der ca. 1500 Seiten umfasst, etwas Zeit beansprucht, zum Anderen aber auch daran, dass mir Sorgen machte, dass die Sprache zu alt, zu umständlich und zu unverständlich sein könnte, um den Roman wirklich genießen zu können. Nun, nachdem ich ihn gelesen habe, kann ich zwar bestätigen, dass der Roman wegen des großen Umfangs einiges an Lesezeit beansprucht - die zweiten Sorgen, nämlich die alte, unverständliche Sprache, kann ich jedoch keineswegs bestätigen.

Obwohl der Roman 1868/9 geschrieben wurde, liest er sich unglaublich flüssig. Die Sprache ist sehr verständlich, teils sind einige Interpretationen des Gesagten erforderlich. Dafür braucht es etwas Konzentration, aber weit weniger, als ich anfangs vermutet hatte. Durch die kurzen Kapitel liest sich der Roman ausgezeichnet auch stückchenweise. Denn dadurch merkt man, dass man voran kommt.

Die Handlung ist durchweg spannend. Mit den Kriegsszenen und den Kapiteln, die die Aufstellungen und Taktiken gegen Napoleon beschreiben, muss man sich entweder anfreunden oder eben nicht. Mich haben sie weniger interessiert, als die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den Protagonisten und den Nebenfiguren. Dennoch kommt man leicht durch und ich habe mir sagen lassen, dass es gleichermaßen auch Leser gibt, die den Roman nur deswegen lesen. Für mich waren diese Kapitel nicht das Highlight, und durch viele bin ich auch schneller durch, als es ihnen vielleicht angemessen ist. Dennoch macht der Rest, der spannende Teil des Romans, das für mich mehr als wett.

Es ist absolut beeindruckend, wie Tolstoi seine Charaktere gestaltet. Ich habe bisher noch keinen Roman mit vergleichbar überzeugenden und gut ausgearbeiteten Charakteren erlebt. Ich habe gelesen, dass Tolstoi seine Progonisten an Verwandte und Bekannte angelegt hat - und man merkt, dass man es hier nicht mit überperfekten, langweiligen Romanfiguren zu tun hat. Es erweckt den Anschein, als ob die Charaktere tatsächlich existiert haben. Dabei ist besonders gelungen, dass jeder Charakter seine Stärken und Schwächen besitzt. Pierre ist liebenswürdig und seitens seines Charakters vorbildlich und ein perfekter Held, nur sieht er nicht so aus. Er ist zu dick - und läuft gerne einem Tonangeber hinterher. Zu Beginn sind es das seine leichtlebigen Freunde Anatole Kuragin und Dolochov, später sind es die Freimaurer. Natalie ist ebenso liebenswürdig und schön, aber leichtlebig, weiß nicht was sie will, und beginnt im Rahmen des Romans einen folgenschweren Fehler. Andrej ist gebildet, ruhig, aber nie mit dem zufrieden, was er hat. Am Ende wird er zynisch. Besonders mit Andrej, den ich nach dem Roman als chronischen Pechvogel sehe und für den ich mir wirklich ein anderes Ende erhofft hätte, kann ich sehr sympathisieren und mitfühlen.

Die Handlung ist teils natürlich durch den Ausgang der Kriege vorbestimmt. Was die Charaktere bestimmt, ist sie das keineswegs. An beinahe allen Stellen hat mich überrascht, wie sich ein Handlungsstrang gewendet hat. Hier sollte man keinesfalls den Fehler machen, und sich vorher über den Inhalt informieren, z.B. indem man den Film schaut, oder den Wikipedia-Artikel liest. Das Buch liest sich auch ganz wunderbar ohne Vorwissen - und die überraschenden Handlungsumschwünge kann man nur so ganz genießen. Obwohl mich bestimmte Wendungen beschäftigen, möchte ich hier nicht spoilern - und belasst es dabei.

Mein Fazit: Ich spreche "Krieg und Frieden" eine hundertprozentige Leseempfehlung aus. Wenige Romane haben mich so beeindruckt, und mich auch so nachhaltig beschäftigt, wie dieser. Seit einer Woche bin ich nun durch - und trotzdem kann ich meine Gedanken kaum vom Roman lösen. Ein wunderbarer Roman für alle, die gerne Historisches lesen und die Wert auf eine unglaublich gute Charaktergestaltung legen.

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Veröffentlicht am 04.03.2020

Mittelmäßiger historischer Roman mit Unterhaltungswert in der ersten Hälfte

Die Wanderhure
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Am Abend vor ihrer Hochzeit wird die schöne und unschuldige Marie von ihrem Bräutigam der Unzucht angeklagt, ins Gefängnis gebracht, dort vergewaltigt und nach einer mehr als schnellen Verhandlung am nächsten ...

Am Abend vor ihrer Hochzeit wird die schöne und unschuldige Marie von ihrem Bräutigam der Unzucht angeklagt, ins Gefängnis gebracht, dort vergewaltigt und nach einer mehr als schnellen Verhandlung am nächsten Morgen ausgepeitscht und aus der Stadt Konstanz vertrieben. Durch die Intrige kann sich ihr Bräutigam, ein unehelicher Sohn eines Grafen, das Vermögen von Maries Vater aneignen. Marie, die nur knapp überlebt, ist fortan gezwungen, als Wanderhure umherzuziehen. Trotz ihrer unglücklichen Umstände, schwört Marie auf Rache.

"Die Wanderhure" von Iny Lorenz war einer der ersten historischen Romane, die ich gelesen habe. In einem Anflug von Nostalgie habe ich ihn kürzlich erneut gelesen, sodass es nun an der Zeit ist, eine Rezension zu schreiben.

Der Roman beginnt spannend mit der Intrige gegen Marie Schärerin und deren Vater. Wie sich das Schicksal von Marie dreht, ist unheimlich mitreißend, hat mich teils aufgrund der schonungslosen Brutalität entsetzt - aber durchweg spannend. Auch die Begegnung mit Hiltrud, und der Anfang von Maries neuem Leben hat mich vom Lesen her überzeugt. Leider fällt die Spannungskurve des Romans stetig und steil ab. Ab der Mitte des Buchs wird es recht langweilig, und die Handlung will nicht mehr so recht in Schwung kommen, sodass ich letzten Endes froh war, als die Geschichte vorbei war.

Der historische Hintergrund ist eher gering. Die Autorin spielt auf das Konzil in Konstanz an, und auch der Name Jan Hus fällt. Die Einbindung in den Roman ist allerdings mehr als oberflächlich. Das Konzil bleibt nur eine Manage für Maries Rache. Das ist sehr schade, denn die damalige Zeit war hochspannend - und es hätte sicherlich Möglichkeiten gegeben, hier eine bessere historische Einbettung zu erreichen.

Die Charaktere sind mittelmäßig überzeugend. Besonders die Charakterentwicklung von Marie fällt eher negativ auf. Vom lieben, schüchternen Mädchen entwickelt sie sich zu einer vorlauten Frau - von Schüchternheit keine Spur mehr. Man mag nun sagen, dass das Leben als Wanderhure diesen Wandel erklärt - dennoch ist es schade, dass die Hintergründe der Charakterentwicklung nicht beleuchtet werden. Der Roman macht einen größeren Zeitsprung - dann ist alles anders und plötzlich hat man eine ganz neue Protagonistin vor sich. Hier hätte weitaus mehr Potential ausgeschöpft werden. Der Umgang mit hochrangigen Adligen oder die Entwicklung von Michel vom vierten Sohn eines Kneipenwirts zum Burgvogt (obwohl ich es ihm gegönnt habe und ihn als Charakter sympathisch finde) ist zudem mehr als unrealistisch.

Obwohl mein neutrales Feedback eher mäßig ausfällt, würde ich den Roman vermutlich auch noch einmal lesen. So ist das vermutlich mit allem, an das man eine positive frühere Erinnerung hat. Zu empfehlen ist der Roman allerdings nur für diejenigen, die mehr Wert auf skandalöse Geschichten als auf einen historischen Hintergrund legen, und die sich an der mittelmäßigen Charakterentwicklung nicht stören. Dann ist es ein ganz unterhaltsamer Roman.

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