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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.12.2023

Anstrengendes Lesevergnügen

Unsereins
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Ich habe schon lange keinen vergleichbar anstrengenden Roman mehr gelesen. Durch die Lektüre von Archipel wusste ich, dass der Stil von Inger-Maria Mahlke durchaus anspruchsvoll sein kann. In diesem Sinne ...

Ich habe schon lange keinen vergleichbar anstrengenden Roman mehr gelesen. Durch die Lektüre von Archipel wusste ich, dass der Stil von Inger-Maria Mahlke durchaus anspruchsvoll sein kann. In diesem Sinne hat sie sich hier noch übertroffen. Damit möchte ich den Roman nicht in ein schlechtes Licht rücken, sondern lediglich auf die erforderliche Zeit und Konzetration aufmerksam machen.

Ohne die Stadt Lübeck auch nur ein einziges Mal zu benennen, stellt sie als kleinster Staat des Deutschen Kaiserreichs das Hauptsetting der von 1890 bis 1906 dargestellten Geschichte der Familie Lindhorst dar. Die Familiengeschichte selbst wird sehr detailreich erzählt, die Familienmitglieder treten insbesondere auch aufgrund politischer Verflechtungen mit jeder Menge weiterer Personen in Kontakt. Wir haben es also mit einer hohen Anzahl an Charakteren zu tun, die fast ausschließlich durch ihr Handeln zum Leben erweckt werden. Ihre präzise Optik sowie ihre Gefühlswelt bleiben der Leserschaft weitestgehend verborgen. In diesem Kontext ist es schwierig, sich ein umfassendes Bild von den handelnden Personen zu machen, geschweige denn Nähe zu ihnen aufzubauen. Insgesamt waren es für meinen Geschmack auch zu viele Charaktere.

Obwohl sich der Roman überwiegend entlang des Zeitstrahls bewegt, sind die verschiedenen Zeitschienen nicht gut erkennbar. Es werden ungekennzeichnete Rückblicke eingestreut, die meinen Lesefluss gehemmt haben. Dadurch entstehen Längen, die eigentlich nicht notwendig wären. Denn was mir an „Unsereins“ gefällt, ist die vermittelte Atmosphäre, der Umgang der Leute miteinander, Eltern mit ihren Kindern, Politiker untereinander und mit ihren Angestellten. Interessant auch das Verhalten gegenüber Minderheiten. Es entsteht darüberhinaus ein Eindruck zum Leben seinerzeit an sich, wie beschwerlich es für manche Gesellschaftsschicht war. Amüsant habe ich die Verhaltensregeln in Liebesdingen empfunden. Insgesamt habe ich die Erzählweise ähnlich wahrgenommen wie Gespräche zwischen meinen Großeltern und deren Freunden, denen ich als kleines Kind beiwohnen durfte. Dieses Wecken von Erinnerungen gefällt mir.

Trotzdem kann ich den Roman nicht uneingeschränkt weiterempfehlen. Man muss sich schon sehr darauf einlassen und mehr Lesekapazität als gewohnt investieren.

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Veröffentlicht am 20.11.2023

Feminismus mal anders - so gut

Who Cares!
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Mirna Funk hält nichts von Quoten oder anderen Safe Spaces, sondern folgt in ihrer Denke eher dem altbekannten Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied!" Denn tatsächlich ist es so, dass Frauen von der ...

Mirna Funk hält nichts von Quoten oder anderen Safe Spaces, sondern folgt in ihrer Denke eher dem altbekannten Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied!" Denn tatsächlich ist es so, dass Frauen von der Gesetzgebung her die gleichen Rechte wie Männer haben. Frau muss diese Rechte nur ausleben. Klar ist das anstrengend und nicht immer nur schön, aber es lohnt sich, so ihr Tenor. Dabei besteht sie nicht darauf, dass nun jede Frau zwingend Karriere machen und möglichst viel Geld verdienen soll. Sie besteht lediglich darauf, dass Frau bewusste Entscheidungen trifft und diese dann auch selbst verantwortet.

In sechs Kapiteln, namentlich Karriere, Liebe, Sex, Geld, Kinder und Körper, reflektiert die Autorin eigene Erlebnisse, Fehlentscheidungen sowie Erfolge. Sie teilt ihre Erfahrungen und zeigt, wie man mit dem richtigen Mindset unabhängig durchs Leben geht. Ob das skizzierte Mindset wirklich allgemeingültig ist, kann ich nicht sagen, ich selbst folge der Argumentationskette von Mirna Funk ohne Ausnahme. Gefallen hat mir zudem ihr populärwissenschaftlicher Ansatz, der die intensiv recherchierten Sachlage in einem lockeren mit Beispielen unterlegten Ton präsentiert. So entsteht eine unterhaltsame Auseinandersetzung, obwohl die Autorin an mancher Stelle ganz schön hart mit der Damenwelt ins Gericht geht.

Am besten hat mir diese Passage ab Seite 105 gefallen: „Wir [Frauen] sind stark. Wir besitzen eigene, vom Mann und seinen Erwartungen an uns völlig getrennte, Willenskräfte und Handlungsspielräume. […] Wir sind autonome Subjekte, die selbst für ihr Glück sorgen und ihr Leben so gestalten, wie wir es für richtig halten, egal, was die „anderen“, also die Einzelteile einer Gesellschaft, von uns denken mögen. […] Die Paranoia, der andere wolle uns etwas Böses, würde uns bewerten, verhindere aktiv das eigene Glück, ist einem infantilen Narzissmus geschuldet, der die eigene Person ins Zentrum der Welt der anderen rückt, obwohl die anderen uns dort niemals verorten würden.“

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Veröffentlicht am 02.11.2023

Der rote Papst unter dem Naziregime

Lichtspiel
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Im Zeitalter des Stummfilms gehörte Georg Wilhelm Pabst, G. W. Papst, zu den den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik. Ihm widmet der hoch geschätzte Daniel Kehlmann seinen aktuellen Roman „Lichtspiel“. ...

Im Zeitalter des Stummfilms gehörte Georg Wilhelm Pabst, G. W. Papst, zu den den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik. Ihm widmet der hoch geschätzte Daniel Kehlmann seinen aktuellen Roman „Lichtspiel“. Obwohl mir die vielschichtige Betrachtung des Filmemachers Papst grundsätzlich gut gefallen hat, so habe ich doch noch etwas mehr von Kehlmann erwartet.

Überzeugen konnte mich der Autor hinsichtlich der persönlichen Entwicklung von G. W. Papst. Zu Beginn des Romans ist er der erfolgreiche, zwar mit einem Dämpfer in den USA versehene, aber immer noch selbstbewusste Regisseur. Schließlich hatte er dermaßen avantgardistische Filme inszeniert, dass diese zumindest szenenweise zensiert werden mussten. Als er dann aufgrund einer Verkettung von unglücklichen Ereignissen das Reich nicht mehr verlassen kann und zu Propagandafilmen gedrängt wird, merkt man sukzessive, wie der sozialkritische Rebell in ihm langsam, aber sicher stirbt. Als gegensätzliche Strömung lässt sich ein Verfall des Skrupels beobachten. Am Ende ist jedes Mittel und Opfer recht, das einem ausperfektionierten Film dient.

Gewöhnungsbedürftig habe ich die recht hohe Anzahl an Erzählperspektiven gepaart mit den teilweise ordentlichen Zeitsprüngen empfunden. Beim Übergang in eine neue Perspektive bleibt die Identität des jeweils aktuellen Erzählers recht lange verborgen. So erschließt sich den Lesenden oft erst rückwirkend ein ganzheitliches Bild. Die überwiegende Betrachtung des Protagonisten durch Dritte lässt G. W. Papst zeitweise in den Hintergrund seiner eigenen Geschichte geraten. Er wirkt dadurch unnahbar und wie ein Nerd seiner Zeit. Das entspricht wahrscheinlich sogar der Realität, lässt die Figur allerdings auch überdurchschnittlich unattraktiv und mürrisch erscheinen. Darüberhinaus sind es für mich insgesamt zu viele Charaktere, die im Roman ihren Auftritt bekommen. Die Allermeisten begleiten uns nur kurz, sind nur für die jeweilige Szenerie relevant. Das macht das Lesen dieses sprachlich leichtfüßigen Werkes phasenweise doch irgendwie anstrengend und lässt Längen entstehen.

Sensationell sind im Gegenzug die medial angepriesenen ironischen Spitzen, die Kehlmann in Form von Situationskomik gekonnt ausspielt. Der Lesezirkel, dem Trude Papst beitritt, der nur die Werke des Alfred Karrasch bewundert, sei nur ein Beispiel. Sämtliche derart gestaltete Kapitel habe ich mit viel Freude gelesen, weil sie viel mehr zu weiterführenden Gedanken, auch zum hier und jetzt, anregen, als die Geschichte an sich. Sie gleichen die ein oder andere Schwäche dieses künstlerisch, literarischen Puzzlespiels aus, so das die Lektüre insgesamt als attraktiv bezeichnet werden kann.

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Veröffentlicht am 28.10.2023

Karrierefrau - Mutter - Nightbitch

Nightbitch
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Ich bin schon länger davon überzeugt, dass Frauen zwar zu Müttern werden können, dass eine Mutter allerdings nie wieder nur Frau sein kann. In diesem Kosmos bewegt sich der unvergleichliche Roman von Rachel ...

Ich bin schon länger davon überzeugt, dass Frauen zwar zu Müttern werden können, dass eine Mutter allerdings nie wieder nur Frau sein kann. In diesem Kosmos bewegt sich der unvergleichliche Roman von Rachel Yoder, der sich mit dem Schicksal einer Galeristin auseinandersetzt, die ihren aufregenden Beruf gegen den wenig wertgeschätzten Job der Vollzeitmutter eingetauscht hat. Die Autorin skizziert die Frustration der Mutter hinsichtlich der eigenen Unzulänglichkeiten sowie die kleinen fiesen Störfaktoren zwischen Mutter und Vater, die sich im Laufe der Zeit zu einem riesigen Wutberg auftürmen. Wer, von unendlicher Müdigkeit gequält, schon mal ganz kurz daran gedacht hat, seinem schnarchenden Ehemann ein Kissen ins Gesicht zu drücken, weiß, welches Maß an Wut hier gemeint ist.

Als Betroffene mit etwas Abstand zur letzten Elternzeit kann ich mich köstlich über dieses teilweise groteske Meisterwerk amüsieren, denn die Gedanken der Mutter sind echt, gegenüber anderen Müttern, ob sie nun parallel zur Kinderbetreuung arbeiten oder Vollzeitmütter sind, sowie gegenüber dem Vater des eigenen Kindes. Es ist erstaunlich, welche Nuancen von Hass und Neid Liebe vorübergehend annehmen kann. Unterstützt wird die Komik des Romans durch messerscharfe Formulierungen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, regelrecht unerhört sind.

Die Verwandlung der Mutter in einen Hund, in Nightbitch, steht in meiner Interpretation für das Wilde und Ursprüngliche der Mutterschaft. Die von Nightbitch gerissenen und zu Tode gespielten kleinen Tiere symbolisieren den Schmerz, den Verzicht und all die Sorgen, die das Muttersein mit sich bringt. Obwohl die Nightbitch-Sessions von Gewalt dominiert sind, empfinde ich einen unerklärlich hohen Reiz am Verbotenen.

Erstaunlich ist zudem, dass der Roman bezogen auf die Hauptfiguren auf richtige Namen verzichtet. Mutter, Vater und Sohn sind Bezeichnung genug. Trotzdem ist mir die Mutter bzw. Nightbitch schnell ans Herz gewachsen. Ihr Blick auf das Leben und ihr Kampfgeist haben mich sofort angesprochen. Zwischen den Zeilen findet man die Hemmnisse der Emanzipation, deren Begründung in den unterschiedlichen Erziehungsansätzen für Jungen und Mädchen liegen mag. Es ist ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

Für mich war Nightbitch ein bitterböses Lesefest, das mich maximal angemacht hat.

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Veröffentlicht am 20.10.2023

Aus Versehen war ganz viel Liebe dabei, verdammt schön

Jenny | Der große Frauen- und Emanzipationsroman von Fanny Lewald | Reclams Klassikerinnen
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Erwartet hatte ich einen Roman über jüdische Identität in einer christlichen Welt sowie über feministische Bestrebungen in einer patriarchischen Welt. Da es sich um eine Klassikerin handelt, hatte ich ...

Erwartet hatte ich einen Roman über jüdische Identität in einer christlichen Welt sowie über feministische Bestrebungen in einer patriarchischen Welt. Da es sich um eine Klassikerin handelt, hatte ich einen gehörigen Respekt vor Fanny Lewald stilistischer Umsetzung. Über meine Erwartungshaltung hinaus wurde ich positiv überrascht von der mich geradezu überschwemmenden Liebe, die dieser klassische Roman ebenfalls mitbringt. Dabei mag ich eigentlich gar keine Liebesromane.

Doch Sätze aus männlichen Gedanken wie, „Heute, nachdem er sie zwei Tage nicht gesehen, in denen er unaufhörlich an sie gedacht und die heiße Sehnsucht empfunden hatte, heute schien sie ihm schöner und begehrenswerter als je! […] Mit diesem Gedanken hingen seine Augen an ihr, als ihr Blick ihn traf, und das selige Entzücken in ihren Zügen, die glühende Röte, die ihr Gesicht urplötzlich überflogen, gaben ihm eine Antwort, die ihm das Herz aufwallen machte.“, katapultieren auch mich in die erste unaussprechliche Liebe zurück, mit Herzklopfen bis zum Hals, schmachtenden Blicken und geröteten Wangen.

Obwohl ich von der Liebesgeschichte zwischen Jenny und Gustav regelrecht mitgerissen wurde, so lag mein Fokus dennoch eher auf dem Alltagsleben der Juden im 19. Jahrhundert und darüberhinaus natürlich, und wahrscheinlich auch noch stärker, auf den ersten Zügen der Emanzipation der Frau. Speziell durch meinen angestrebten Blickwinkel auf die Geschichte war die Protagonistin Jenny besonders interessant. Aufgrund der Bildung, die ihr der Vater zugestanden hatte, hat Jenny eine Sprachgewandtheit, die ihr eine ebenbürtige Kommunikation bzw. Diskussion mit ihrem Bruder Eduard und dessen Freunden gestattet. Mit ihrem Wissen und ihrer Schlagfertigkeit verdutzt Jenny mehr als einmal ihre Gesprächspartner. Leider geht deren Wertschätzung mit einer reduzierten Wahrnehmung ihrer Weiblichkeit einher. Trotzdem begeistert mich ihr klarer Verstand, ihr Abwägen in Glaubensfragen, ihre mit der Familie abgestimmte Entscheidung, selbst wenn sie diese später zumindest teilweise bereut. Es ist ein Versuch, den eigenen Lebenszielen näher zu kommen und der Diskriminierung zu entgehen.

Aus der Riege der männlichen Figuren mochte ich ich Eduard am meisten. Die mentale Stärke, mit der er sein in Liebesdingen entbehrungsreiches Leben erträgt, ist schon erstaunlich. Er macht sein Schicksal mit sich selbst aus, ohne je so etwas wie Wut oder Enttäuschung an anderen auszulassen. Statt in Selbstmitleid zu versinken, widmet er sich der Gleichstellung seines Volkes und seiner Berufung zum Arzt.

Um das Geschwisterpaar entwirft Fanny Lewald eine vielschichtige Story mit einer zunächst schwer zu überblickenden Anzahl an Charakteren. Gemeinsame Theaterbesuche sowie Tee- und Abendgesellschaften spiegeln für mich den Zeitgeist wider. Der Roman erscheint mir als Abbild der Gesellschaft. Ihre gesellschaftskritische Auseinandersetzung kombiniert die Autorin geschickt mit einer leidenschaftlichen Liebes-und Familiengeschichte, so dass ihr Werk für unterschiedliche Interessengruppen gleichermaßen attraktiv ist. Fanny Lewald bedient sich einer himmlischen Sprache, die mich oft meine Augen schließen ließ, um ihrer wunderbaren Wortwahl nachzuspüren. Jetzt habe ich doch tatsächlich aus Versehen einen Liebesroman gelesen und bereue nichts, sondern bin einfach begeistert.

Abgerundet wird das Werk mit einem Nachwort von Mirna Funk, die im hier und heute die Damenwelt aufruft, die inzwischen vollständig gewährten Rechte auch unabhängig von Safe Spaces zu nutzen.

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