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Veröffentlicht am 18.07.2021

Gesellschaft und Platte im Rückbau

Raumfahrer
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Schon das Debüt von Lukas Rietzschel „Mit der Faust in die Welt schlagen“ hatte mir gut gefallen. Mehr beschreibend als anklagend setzte sich der junge Autor mit der Lebenswirklichkeit ostdeutscher Jugendlicher, ...

Schon das Debüt von Lukas Rietzschel „Mit der Faust in die Welt schlagen“ hatte mir gut gefallen. Mehr beschreibend als anklagend setzte sich der junge Autor mit der Lebenswirklichkeit ostdeutscher Jugendlicher, den damit einhergehenden medial immer wieder einseitig breit getretenen Auswirkungen auseinander.

Mit „Raumfahrer“ taucht Lukas Rietzschel jetzt noch tiefer in die deutsche Geschichte ein, kreist um den Künstler Georg Baselitz und dessen Familie. Der Roman startet an mehreren historischen Zeitpunkten. Die Sprachlosigkeit der Kriegsrückkehrer, der Ideologientausch in der jungen DDR, sowie die Orientierungslosigkeit der Menschen nach der Wende sind Rietzschel‘s Themen. Wem kann man nach zwei autoritären Systemen mit jeweils eigenem Verleumdungs- bzw. Geheimdienst noch trauen? Wer ist Freund? Wer ist Verräter und warum?

Diesen Fragen nähern sich die Leser:innen gemeinsam mit Jan, Krankenpfleger in einem wohl bald schließenden Krankenhaus, der immer noch beim Vater wohnt und es irgendwie nicht richtig schafft, eine richtige Beziehung mit seiner Kollegin Karolina einzugehen. Ich mochte ihn, insbesondere sein kindliches in Rückblenden konstruiertes Ich. Er schien mir die vom Ende der DDR gebeutelte Familie zusammen zu halten. Selbst nach der Trennung der Eltern bleibt er der Ruhepol, den beide Eltern zum Überleben brauchen. Der kindliche Jan erträgt geduldig alle Eskapaden seiner Eltern, ohne selbst über die Stränge zu schlagen. Ich bewundere diese Stärke und geradezu übernatürliche soziale Intelligenz.

Sprachlich, wie auch hinsichtlich der Romankonstruktion hat Lukas Rietzschel sich positiv weiter entwickelt. Von den ineinandergreifenden Handlungssträngen war ich sehr angetan. Durch die kurzen Kapitel ließ ich mich zu stundenlangen Lesen hinreißen, ohne dass Ermüdungserscheinungen aufkamen. Die Gefühlswelt seiner Raumfahrer hatte der Autor so gut recherchiert und aufbereitet, so dass ich mich frage, ob er als Nachwendekind nicht auch selbst ein solcher Raumfahrer ist.

Insgesamt eine hervorragende Lektüre zu einer für Außenstehende schwer vermittelbaren Welt, der ich gern eine Leseempfehlung ausspreche.

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Veröffentlicht am 13.07.2021

Aktuelle Gesellschaftskritik im Setting des Wilden Westens

Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
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Lucy und Sam sind chinesische Waisen. Erst kürzlich ist ihr gewaltbereiter Vater verstorben. Ihn in Würde zu begraben, ist die erste Aufgabe, die die Geschwister mutterseelenallein meistern müssen. Mit ...

Lucy und Sam sind chinesische Waisen. Erst kürzlich ist ihr gewaltbereiter Vater verstorben. Ihn in Würde zu begraben, ist die erste Aufgabe, die die Geschwister mutterseelenallein meistern müssen. Mit nichts als den eigenen Kleidern am Leib ziehen sie durch den Wilden Westen, um ihn, seinen Leichnam, nach Hause zu bringen, damit seine Seele nicht auf ewig herumirren muss. Nach dem nomadenhaften Leben des Vaters in der Prärie, getrieben vom Goldrausch, erscheint die Aufgabe schier unlösbar.

Die Geschichte der beiden sehr unterschiedlichen Kinder ist eingebettet in den Wilden Westen ungefähr zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist die Zeit des auslaufenden Goldrausches, die großen Geschäfte sind bereits gemacht, viele mühen sich ab, um noch ein Stückchen vom fast aufgegessenen Kuchen abzubekommen. Alternativ wird in Kohleminen geschuftet, um den kargen Lebensunterhalt für die Familie zur erwirtschaften. Migranten werden gezielt zur Ausbeutung ihrer Arbeitskraft angeworben, haben keinerlei Rechte. In dieser widrigen Welt lässt uns C Pam Zhang am Schicksal von Lucy und Sam sowohl geradeaus erzählt als auch in Rückblenden teilhaben. Für mich war es attraktiv zunächst die Situation der zwölf- und elfjährigen Kinder kennen zu lernen und erst später zu erfahren, wie es dazu kam. Dadurch erhalten alle Charaktere eine ordentliche Tiefe, die hier aus meiner Sicht entscheidend ist, da der Roman stark auf seine Protagonisten setzt.

Begleitet wird die Geschichte von ganz wunderbaren Beschreibungen der Landschaft, aber auch der Lebensumstände und der Gerüche. Ich konnte mir die schmutzige Hütte der Familie gut vorstellen, hatte gefühlt den Geschmack des minderwertigen Essens im Mund. Die Entwicklung des väterlichen Leichnams ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Auf der Reise nach Hause hatte ich den Eindruck mit den Beiden, quasi als ihr Schatten, ebenfalls durch die Hügel zu schreiten. Vor meinem inneren Auge habe ich das wogende Gras gesehen, die nackten Bisonknochen aus längst vergangener Zeit. Die Autorin hat meine Gefühlsebene ganz deutlich angesprochen. Vielleicht lag das auch an mach mystischer Formulierung, die das Geschehen sagenhaft, fast ein bisschen übernatürlich wirken lassen.

Am besten hat mir der Kunstgriff gefallen, aktuell bewegende Themen in ein Setting der Vergangenheit zu setzen. Dadurch habe ich noch einmal ganz bewusst wahrgenommen, wie alt diese Themen wie Umweltzerstörung, Herkunft und Gender tatsächlich sind. Nichts davon ist Modeerscheinung, etwas, das man einfach abtun oder ignorieren kann. Gleichzeitig entfällt durch das Setting ein Vorwurfscharakter, der sich leicht aufdrängt, wenn kritische Themen behandelt werden. So können sich Leser:innen unbefangen den Problemen annähern und damit auseinandersetzen. Obwohl Zeithorizont und Problemerkenntnis historisch betrachtet nicht zusammen passen, bleibt das von C Pam Zhang geschaffene Paralleluniversum in sich stimmig und wirkt dadurch stets glaubwürdig.

The Observer titelt „Das kühnste Debüt des Jahres“. Dem kann ich nur zustimmen. Gern empfehle ich diesen ganz wunderbaren Roman.

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Veröffentlicht am 06.07.2021

Gleichnis zum Nachdenken

Im Reich der Schuhe
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Alex Cohen, ein 26-jähriger Bostoner Jude, wird Teilhaber in der chinesischen Schuhfabrik seines Vaters. Sie stellen Billigschuhe und Kopien von Bestsellern als Eigenmarken für die großen Kaufhausketten ...

Alex Cohen, ein 26-jähriger Bostoner Jude, wird Teilhaber in der chinesischen Schuhfabrik seines Vaters. Sie stellen Billigschuhe und Kopien von Bestsellern als Eigenmarken für die großen Kaufhausketten her. Dabei sprüht Alex vor Kreativität, hatte sich doch im Studium schließlich mit Design beschäftigt. So richtig motiviert wirkt Mr. Younger Cohen hinsichtlich des Geschäfts seines Vaters auf mich zunächst nicht. Dann taucht er ein ins Geschäft, lernt die beteiligten Leute kennen, stößt auf unbequeme Wahrheiten. Begleitet von einem fast schon naiven Idealismus, den sein Vater nicht kennt, und großer Angst vor der chinesischen Staatsmacht, bringt Alex Veränderungen ins Laufen.

Diese Geschichte erzählt vom Erwachsenwerden im Job, von geschönter sorgloser Vorstellung, die von der Realität eingeholt wird. Sie öffnet unsere Wahrnehmung zu den Auswirkungen maßlosen Konsums. Immer schneller und günstiger möchten wir neue Produkte kaufen. Was unser Kaufverhalten für die Arbeiter:innen auf der anderen Seite der Welt bedeutet, wird hier in den Vordergrund gestellt. Den chinesischen Wanderarbeiter:innen widerfährt eine immense Ungerechtigkeit, die für den jungen jüdischen Chef Parallelen mit der Unterdrückung des eigenen Volkes im Zweiten Weltkrieg aufweist. Es ist schon bitter, wenn man das liest und sich bewusst macht.

Die Auseinandersetzung mit der Wirkungskette Konsum – Preisdruck – Ausbeutung/Unterdrückung hat mir gut gefallen. Insbesondere waren die verschiedenen Interessengruppen in China kontrovers ausgearbeitet. Die herrschende Atmosphäre der Angst kam glaubwürdig rüber. Dabei war die Hin- und Hergerissenheit des Protagonisten ausschlaggebend. Was passiert, wenn man das Richtige tut? Wem kann man vertrauen? Dieses Reflektieren von Alex Cohen, der bis dato von Beruf hauptsächlich Sohn war, hat mich schon beeindruckt. Obwohl die Situation brenzlig war und zu Kippen drohte, hat er sich gleichzeitig seinen jüdischen Humor, den ich sehr mag, nicht nehmen lassen.

Am Ende konnte Alex in meiner Wahrnehmung den großen Fußstapfen seines Vaters entkommen, zumindest so wie ich das relativ offene Ende interpretiere. Zum Ende hin hätte ich mir zwar gern noch ein paar mehr Schwierigkeiten gewünscht, das hätte den Spannungsborgen zum Äußersten getrieben.

Insgesamt bin ich sehr zufrieden mit dem Roman und empfehle ihn gern weiter.

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Veröffentlicht am 30.06.2021

Glaubwürdig erzählte Nachkriegsgeschichte

Vati
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Im letzten Jahr hatte ich „Die Bagage“ von Monika Helfer gelesen. Auch wenn mich die Autorin seinerzeit nicht hundertprozentig überzeugen konnte, so wollte ich mir doch noch tiefere Einblicke in die Lebensumstände ...

Im letzten Jahr hatte ich „Die Bagage“ von Monika Helfer gelesen. Auch wenn mich die Autorin seinerzeit nicht hundertprozentig überzeugen konnte, so wollte ich mir doch noch tiefere Einblicke in die Lebensumstände der Familie Helfer verschaffen. Mit „Vati“ wird nun die väterliche Seite stärker beleuchtet. Zudem wechselt die Autorin von der Großelterngeneration zu den eigenen Eltern, wodurch in meiner Wahrnehmung mehr Nähe und damit eine gefühlvollere Erzählung entsteht.

Der Vati ist ein Kriegsrückkehrer. Die russische Kälte hat ihm ein halbes Bein gekostet. Als Verwalter eines Kriegsopfer-Erholungsheims kann er seiner Familie dennoch ein auskömmliches Leben bieten. Erst als die Kriegsopfer in den Hintergrund rücken sollen, das Erholungsheim in ein Hotel umgewandelt werden soll, kommt sein Lebensmut ins Wanken. Dann stirbt seine Frau, Alles gerät aus den Fugen.

Ich mochte den Vati. Sein Umgang mit der Prothese hoch oben auf dem Berg, er nimmt am Leben teil und geht wandern, als gäbe es die körperliche Einschränkung nicht. Natürlich hat mich auch seine Liebe zur gehobenen Literatur überzeugt. Schundromane kamen ihm nicht ins Haus. Er hat vorgelesen, den Versehrten, den Kindern. Mich hat beeindruckt, dass er selbst nicht mehr ganz heil noch so viel geben konnte. Darüber hinaus konnte ich seine Verzweiflung in Folge der weiteren Schicksalsschläge sehr gut nachvollziehen.

Hier hatte ich auch Monika, ihre Geschwister und auch die Onkel und Tanten von der Bagage gern. Es kommt mir auch vor, als würde dieser Roman seinen Vorgänger insgesamt und die Personen darin in einem besseren Licht erscheinen lassen. Vieles ist mir jetzt klarer geworden, so glaube ich. Bewundernswert fand ich die Unterstützung der Familie Helfer von Seiten der Bagage. Trotz Armut und Enge ist immer noch ein wenig Zuwendung möglich. Fasziniert bin ich von der Tatsache, dass jeder in der Familie seinen Unterstützungsbeitrag leistet. Teilweise erstaunt hat mich die Auswahl der Maßnahmen, die hier in Erwägung gezogen und zumeist auch umgesetzt worden sind. Ich bin mir nicht sicher, ob heutige Wohlstandsfamilien das noch so hinbekommen.

Ganz nebenbei bekommt man einen Eindruck von den Lebensumständen nach dem Krieg insgesamt. So entsteht ein übergreifend thematisch anspruchsvoller, gleichzeitig angenehm lesbarer Roman, der mir richtig gut gefallen hat. Die Sprache ist jetzt weniger schnodderig als im Vorgänger, gefühlvoll, rückt die Charaktere dichter an einen heran. Mich konnte Monika Helfer überzeugen. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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Veröffentlicht am 28.06.2021

Friedrich Ani kann es besser

Letzte Ehre
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Oberkommissarin Fariza Nasri ist die treibende Figur in diesem Roman. Sie bringt die Ermittlungen durch ihre taktisch kluge Befragung von Zeugen voran. So wird hier vorgetäuscht gleichzeitig, aber in Wirklichkeit ...

Oberkommissarin Fariza Nasri ist die treibende Figur in diesem Roman. Sie bringt die Ermittlungen durch ihre taktisch kluge Befragung von Zeugen voran. So wird hier vorgetäuscht gleichzeitig, aber in Wirklichkeit sequenziell an drei Fällen gearbeitet. Einer davon ist das Verschwinden der siebzehnjährigen Finja Madsen, die nach einer Party nicht wieder zurück nach Hause gekommen ist. Thematisch bewegen sich die drei Fälle im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Mädchen bzw. Frauen. Schon allein durch die thematische Abgrenzung hat es der Roman schwer.

Hinzu kommt die mühsam aufgebaute Spannung, die durch die Anordnung der Fälle schnell wieder erstickt wird. Hier wird nicht wie sonst oft gebräuchlich zwischen den verschiedenen Personen eines Ermittlungsteams hin- und hergeschwenkt, sondern viel aus der Innensicht von Fariza Nasri erzählt. So ergibt sich lediglich ein Mix aus Vernehmungen durch die Oberkommissarin und den anschließenden Gedanken ebendieser. Für eine Oberkommissarin ist Fariza Nasri meinem Empfinden nach auch nicht besonders vielseitig unterwegs. Von Vernehmungen in Zimmer 214 im Kommissariat geht es zu einer Befragung ins nahegelegene Gefängnis und wieder zurück. Mag sein, dass dies eher der Realität entspricht, dem Roman wird dadurch eine gewisse Trägheit verliehen. Wenn es denn einen Zusammenhang zwischen den drei Fällen geben sollte, hätte ich mir diesen deutlicher herausgearbeitet gewünscht.

Vorteilhaft ist lediglich, dass die Leserschaft Oberkommissarin Fariza Nasri, die auch schon in „All die unbewohnten Zimmer“ ermittelt hatte, näher kennen lernen durfte. Natürlich hat auch sie so ihre privaten und dienstlichen Probleme, die ganz gern im Alkohol ertränkt werden. Typischer Fall von Ermittlerin mit Knacks weg. Nicht verstanden habe ich dabei die Einschübe zu Tim Gordon, der selbst oder dessen Vater im Vorgängerroman einen Disput mit der Oberkommissarin hatte. Auch hier fühlte ich mich vom Autor nicht gut abgeholt. Ohne die Erklärung am Ende des Romans wäre diese Tatsache ganz an mir vorbei gegangen.

Summa summarum ist mir Friedrich Ani zu unscharf in seiner Ausarbeitung, nicht präzise genug. Ich kann gar nicht genau die Zusammenhänge wiederherstellen, obwohl ich mich stark auf diesen Roman konzentriert habe. Besonders enttäuscht hat mich die schlechte inhaltliche Korrektur. Die Nebenfigur des Streifenpolizisten heißt mal Marc-André Hagen, mal Marco Hagen und dann einfach nur
Hagen, wo im ganzen Roman die Figuren mit Vornamen oder mit Vor-und Zunamen bezeichnet werden. Ein zwei Ausrutscher kann ich mit einem Schmunzeln locker verzeihen, wenn es wie hier stetig hin- und herwechselt, geht es mir auf die Nerven.

Da ich auch „All die unbewohnten Zimmer“ kenne und auf Basis dieser Leseerfahrung eine gewisse Erwartungshaltung hatte, kann ich „Letzte Ehre“ nicht weiterempfehlen. Insgesamt hat mich dieser Roman enttäuscht.

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