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Veröffentlicht am 21.10.2021

Augenöffner

Vertraute Welt
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Blumeninsel, das ist der euphemistische Name einer riesigen Mülldeponie am Rand von Seoul, das ist auch der neue Wohnort von Gluschaug, dem Protagonisten der Geschichte. Gerade ist er zusammen mit seiner ...

Blumeninsel, das ist der euphemistische Name einer riesigen Mülldeponie am Rand von Seoul, das ist auch der neue Wohnort von Gluschaug, dem Protagonisten der Geschichte. Gerade ist er zusammen mit seiner Mutter hergezogen, nachdem sein Vater wegen Diebstals in ein Umerziehungslager gesteckt wurde. Obdach bekommen die beiden vom "Baron", einem Claimverwalter der Halde und damit Chef von einer Hundertschaft von Müllsammlern und -sortierern. Schnell freundet sich Glubschaug mit dem Sohn des Barons, Glatzfleck, an, der ihn in die Gesellschaft der Müllsammlerkinder einführt.

Die Geschichte erzählt sehr detailliert und ungeschönt vom Leben der beiden Kinder. Ihr Haus besteht aus Müll, ihre Kleidung stammt aus dem Müll, selbst das Essen wurde für den Verzehr aus dem Müll gefischt. Dadurch ist die Atmosphäre sehr bedrückend, mein Gedanken-Karussell hinsichtlich der eigenen Müllverursachung fing sich direkt an zu drehen. Zudem wurde ich wieder einmal überrascht von den Zuständen in dem hoch technologisierten Südkorea. Ausgehend von einem modernen Land, hatte ich kein Dritte-Welt-Elend erwartet.

Die Kinder Glubschaug und Glatzfleck haben mich begeistert, weil sie so herrlich normale Kinder sind. Dass sie die Abgehängten der Gesellschaft sind, hält die beiden keinesfalls davon ab, ihre Abenteuer zu erleben. Sie erkunden ihre Umgebung, bauen Buden, setzen sich mit Gleichaltrigen auseinander, machen auch mal großen Unfug. Damit haben mich Glubschaug und Glatzfleck an die Zeiten vor dem Überkonsum erinnert, wo Kinder trotz fehlendem Technik-Schnick-Schnack keine Langeweile hatten. Sie waren draußen unterwegs, bei ihren Eltern haben sie sich zu den Mahlzeiten wieder eingefunden.

Stilistisch wirkt „Vertraute Welt“ manchmal etwas altbacken, wobei die Geschichte in die 1980er einzuordnen ist. Deshalb ist das schon irgendwie passend, aber ich bin so einigen Formulierungen begegnet, die ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe. Weiterhin ist die Erzählweise recht straight, die grausame Lebenswirklichkeit der Jungen wird direkt rüber gebracht. Mit Rückschlägen bzw. Schicksalsschlägen im Leben wird maximal rational umgegangen, was auf mich im hier und heute manchmal schon eine befremdliche Wirkung hatte.

Wichtig für mich ist der augenöffnende Effekt, den die Lebensweise der Müllsammler auf mich hatte. Solche Geschichten schaffen Bewusstsein für das eigene Tun, aber auch hinsichtlich des genauen Betrachtens von anderen Regionen dieser Erde. Zu leicht sitzt man dem Irrtum auf, dass vergleichbare Technologiestandards auch vergleichbare Lebensstandards bedeuten. Deshalb habe ich den Roman von Hwang Sok-Yong gern gelesen und empfehle ihn uneingeschränkt weiter.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Der Luxus der einen als Herausforderung der anderen

Wenn ich wiederkomme
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Eine Fernbeziehung ist nicht für jeden Charakter eine gute Wahl. Aber wie verhält es sich, wenn sich die Fernbeziehung auf eine ganze Familie bezieht und wenn die Zusammenkünfte auf Geburtstage und Feiertage ...

Eine Fernbeziehung ist nicht für jeden Charakter eine gute Wahl. Aber wie verhält es sich, wenn sich die Fernbeziehung auf eine ganze Familie bezieht und wenn die Zusammenkünfte auf Geburtstage und Feiertage beschränkt sind? Mit dieser Frage setzt sich Marco Balzano in seinem neuen Roman „Wenn ich wiederkomme“ auseinander.
Daniela ist eine engagierte Mutter, die wie die meisten Mütter möchte, dass es den eigenen Kindern später mal besser geht als ihr jetzt. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gute Ausbildung, besser noch ein abgeschlossenes Studium in einem lukrativen Fach. Um ihren Kindern diese Bildungschance sowie ein komfortables Leben zu finanzieren, verlässt sie ihre Heimat Rumänien in Richtung Italien, um dort betagte Menschen zu pflegen, was deutlich besser bezahlt ist als ihr bisheriger Bürojob.
Der Roman selbst erzählt nun aus drei Perspektiven, wie sich das Leben in Dauertrennung anfühlt. Zunächst kommt Danielas Sohn Manuel zu Wort. Er schildert seine Einsamkeit, erzählt von seinen schulischen Eskapaden, von seinen Problemen. Selbst bei verwöhnten Kindern sieht glücklich sein anders aus. Er machte mir einen überforderten Eindruck. Schließlich hatte Daniela ihre Entbehrungen für die Kinder mit einer Erwartungshaltung verknüpft. Danielas Part hat einen reflektierenden Charakter. Sie blickt auf die Zeit in Italien und ihre Versäumnisse zu Hause zurück. Ihre Gedanken haben einen Charme von Abwägen, was wäre wohl gewesen, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Im letzten Teil des Romans wagt die Tochter Angelica einen Rückblick. Sie musste schnell erwachsen werden, den Bruder bei Laune halten, damit er sich schulisch nicht zum Totalausfall entwickelt. Die aufgewendete Zeit dafür hätte sie lieber in das eigene Lernen investiert.
Obwohl ich die jeweilige Perspektive der drei Hauptcharaktere gut nachvollziehen konnte, hat sich keine Nähe oder echte Zugewandtheit entwickelt. Die Drei blieben für mich auf Distanz. Ich habe mich eher als Beobachter der Situation empfunden, war nicht hineingezogen. Nachdem ich den Vorgänger „Ich bleibe hier“ mit Begeisterung gelesen habe, weil ich mit den Charakteren fiebern konnte, hätte ich mir hier ebenfalls mehr von der Geschichte ausgelöste Emotion gewünscht.
Die Aufbereitung des Textes wirft zwar verschiedene Blickwinkel auf die Trennungsgeschichte, durch die Realisierung in aufeinanderfolgenden Teilen, ergibt sich allerdings ein sehr geradliniger Schreibstil. Dieser lässt sich einerseits flüssig lesen, wirkt literarisch gesehen andererseits nicht so hochwertig wie der Vorgänger. Es entsteht keine echte Komplexität. Ich habe Danielas Geschichte trotzdem gern gelesen, mir fehlte nur der letzte Pfiff, das i-Tüpfelchen sozusagen.

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Veröffentlicht am 04.10.2021

Literarischer Danny Boy

Reise durch ein fremdes Land
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Es ist Winter, Weihnachten steht kurz vor der Tür. Nach tagelangen Schneefällen sind die Flughäfen dicht. Toms Sohn, Luke, der außerhalb studiert ist fiebrig krank, soll nicht in seiner Studenten-WG einsam ...

Es ist Winter, Weihnachten steht kurz vor der Tür. Nach tagelangen Schneefällen sind die Flughäfen dicht. Toms Sohn, Luke, der außerhalb studiert ist fiebrig krank, soll nicht in seiner Studenten-WG einsam zurückbleiben. Deshalb macht sich Tom mit ordentlich Proviant und guter Musik auf den Weg durch die winterliche Landschaft, um seinen Sohn nach Hause zu holen. Doch schnell wird klar, dass irgendetwas nicht stimmt in Toms Familie, vielleicht auch zwischen Vater und Sohn.
 
Die eigentliche Handlung des Romans ist begrenzt auf die Autofahrt mit ihren winterlichen Herausforderungen. Spannender sind die Gedanken, denen Tom währenddessen nachhängt, die Visionen, die sich ihm dabei immer wieder aufdrängen. Die Stimmung ist düster, fast ein bisschen morbide. Depression und Schwermut werden thematisiert, einige Überlegungen auf  Nordirlandkonflikt gerichtet. Die Betrachtungsweise entspricht dem Blick durch die Linse beim Fotografieren. Es entsteht also auch im Rückblick keine durchgehende Geschichte. Stattdessen wird der Fokus auf einzelne, ausschlaggebende Situationen gerichtet, die das Leben in Toms Familie maßgeblich beeinflusst haben. Am Ende betrachtet man ein Gesamtgebilde, in dem die bittere Wahrheit offen liegt.
 
Der Blickwinkel des Autors hat mich eine ganze Weile irritiert. Ich brauchte etwas, um das eigentliche Problem einzugrenzen. Letztlich war dieses Schwammige zu Beginn dennoch förderlich. Nur so konnte ich mich in Tom richtig einfühlen, meine Perspektive für seine Situation schärfen. Typen wie ihn steckt man gern in eine Schublade, die nicht gerechtfertigt ist. Sprachlich habe ich den Roman als angenehm empfunden, schon irgendwie schön, obwohl das Lesen an sich durch die bedrückende Atmosphäre nicht so vergnüglich war. Die ein oder andere Pause war notwendig, um das Gelesene wirken zu lassen. Auch wenn thematisch nicht so erfreulich, habe ich meine Gedanken zum Roman gern weiterfließen lassen.
 
Insgesamt mochte ich diesen traurigen Roman, der auch die ganze Zeit über etwas von Abschied hatte, Abschied vom Fotografen-Beruf als aussterbende Spezies, Abschied vom Sohn, aber auch Abschied von einer lebenslangen schweren Last. In diesem Sinne hatte der Roman etwas von der inoffizielle Hymne der Iren, Danny Boy. Diese Assoziation hat sich mir gerade zum Ende hin regelrecht aufgedrängt. Passend zur dunkleren Jahreszeit empfehle ich David Parks Roman gern.

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Veröffentlicht am 27.09.2021

Sensibler Typ in der Rüstung des harten Mannes

Barbara stirbt nicht
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Walter Schmidt liebt seine Ehefrau Barbara, auch wenn ihm das in all den Jahren, die sie nun schon verheiratet sind, nicht immer gleichermaßen bewusst gewesen ist. Geheiratet hatten sie, weil ein Kind ...

Walter Schmidt liebt seine Ehefrau Barbara, auch wenn ihm das in all den Jahren, die sie nun schon verheiratet sind, nicht immer gleichermaßen bewusst gewesen ist. Geheiratet hatten sie, weil ein Kind unterwegs war. Die folgenden Jahre der gegenseitigen Pflichterfüllung hat das Paar in der klassischen Rollenverteilung verbracht und später vergessen, diese Routine aufzulösen. Als Barbara eines Tages, als sie längst in Rente sind, am Boden liegt und nicht mehr aufstehen kann, ist Walter von einem Moment auf den anderen als Hausmann gefragt.

Es beginnt eine verrückte Odyssee. Die alltägliche Versorgung von Mensch und Tier stellt Walter vor ungeahnte Herausforderungen. Mit dem Charme von Ekel-Alfred ergründet er die Geheimnisse der Küche, merkt wie viel Aufwand schon allein Einkaufen und Kochen macht. Obwohl sie ihn nicht mehr unterstützen kann, wächst Walters Respekt und Achtung vor seiner Frau immer weiter. Ich mag diesen grummelnden Alten. Nicht nur sein Durchhaltevermögen finde ich bewundernswert, sondern auch, dass er mindestens in seiner Innensicht, Gefühle zulassen kann, die er sich all die Jahre nicht erlaubt, die er unterdrückt hat. Es schickt sich halt nicht für einen Mann.

Alina Bronsky hat wieder alles gegeben und ihren besonderen Humor hoch leben lassen. Sie legt Walters bitterböse Gedanken, die jeder von uns manchmal, Walter allerdings bei jeder Kommunikation mit seinen Mitmenschen hat, ungeschönt offen. Sein Weltbild wurde in der Nachkriegszeit geformt, hat nie eine Modernisierung erfahren. Die Autorin übt an gewissen, antiquierten, noch weit verbreiteten Verhaltensweisen Kritik, indem sie die Figur des Walters total überzeichnet. Alina Bronsky macht aber ebenso deutlich, dass unter der harten Schale dieses Mannes auch ein liebenswerter weicher Kern steckt.

Neben Walter spielen auch die Kinder, Sebastian und Karin, eine kritische Rolle. Die Zusammenkünfte als ganze Familie beschränken sich auf hohe Feiertage bis zu dem Moment als Barbara nicht mehr aufstehen kann. Plötzlich stehen sie ständig vor der Tür und überfordern damit nicht nur sich selbst, sondern auch Walter, wahrscheinlich auch Barbara. Dieser Teil von Alina Bronskys Gesellschaftskritik gibt mir auch persönlich zu denken.

Insgesamt war es ein Feuerwerk der bitterbösen Komik, das ich gern weiterempfehle. Das i-Tüpfelchen des Romans ist übrigens der Name des Hundes, den ich natürlich nicht verrate.

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Veröffentlicht am 23.09.2021

Das Schicksal kann gemein sein

Der Kolibri
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Nachdem ich ein paar Seiten in den Roman von Sandro Veronesi hineingelesen hatte, vermutete ich eine eine Dreiecksgeschichte zwischen Marco Carrera und zwei Frauen. Angekündigt als Komödie und Tragödie ...

Nachdem ich ein paar Seiten in den Roman von Sandro Veronesi hineingelesen hatte, vermutete ich eine eine Dreiecksgeschichte zwischen Marco Carrera und zwei Frauen. Angekündigt als Komödie und Tragödie zugleich, hatte ich einen bequem lesbaren, von Liebe und Eifersucht getragenen Roman erwartet. Bekommen habe ich etwas ganz anderes, mehr Realität, mehr echtes Leben, eine ganze Familie.

Der Kolibri, das ist der Protagonist dieser Geschichte, seiner Lebensgeschichte, der Augenarzt Marco Carrera. Wir begleiten ihn von der frühen Jugend bis ins Alter, jedoch nicht in der Reihenfolge wie sein Leben wirklich stattfindet, sondern bruchstückhaft in bunt gemischten Puzzleteilen. Dabei starten wir in den 1970ern, tangieren die Gegenwart und tauchen auch ein Stück weit in die Zukunft ein. Durch den Kunstgriff des fortgesetzten Zeitstrahls kann der Autor aktuelle Geschehnisse, Themen und Formate rückblickend aus der Zukunft betrachten. Das hat mir besonders im Kapitel „Der neue Mensch“ gefallen.

Marco Carrera selbst ist ein Mann ganz nach meinem Geschmack: gebildet, trotzdem bodenständig, ein Familientyp, pflichtbewusst und liebevoll. Obwohl Marco seine Jugendliebe niemals vergessen konnte und sie sein Leben lang letztlich doch geliebt hat, blieb er seiner Familie, Frau und Kind, treu ergeben. Mit Demut ertrug er die Schicksalsschläge, die das Leben für ihn bereit hielt, fügte sich fortwährend in seine Rolle und bereicherte das Leben seiner Mitmenschen. Ich hatte Marco sehr gern. Schließlich hätte er sich auch in eine negative Richtung ähnlich wie sein bester Freund entwickeln können.

Etwas hadern tue ich mit dem Geständnis des Psychoanalytikers von Marcos Frau zu Beginn des Romans in Kombination mit der Geschichte, die dann folgt. Er behauptet nämlich, Marco sei in Gefahr. Gleichzeitig teilt er ihm mit, dass Marcos Ehefrau schwanger von einem deutschen Piloten ist. Ein extremer Aufschlag, auf den später gefühlt nicht mehr eingegangen wird. Dennoch hat der Psychoanalytiker von Beginn an Recht, als könnte er hellsehen. Ein bisschen verwirrend, insgesamt aber stimmig. Genossen habe ich in diesem Zusammenhang die Gespräche zwischen dem Augenarzt und dem Psychoanalytiker. Sehr komisch, vielleicht typisch kurz und knapp, wo auf ein Schweigen ein Schweigen folgt und auch dies einen Teil des Dialogs darstellt.

Am Ende habe ich einen komplexen Roman gelesen, der mich zwischendurch fast abgehängt hätte. Freundlicherweise hat Sandro Veronesi seine Kapitelüberschriften mit Jahreszahlen ergänzt, so dass eine Orientierung noch möglich war. Sprachlich waren manche Formulierungen etwas holprig für mich, manche Aufzählungsarie war mir zu viel, weil dann mein Lesen eine zu starke Beschleunigung erfuhr, bis ich ins Stolpern geriet. Die literarische Herausforderung hat sich für mich gelohnt, da sich wie erhofft ein Gesamtbild der Geschichte ergibt, das mir gefällt. Zudem war ich nach der Lektüre so gerührt, dass ich ein, zwei Tränen nicht halten konnte.

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