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Veröffentlicht am 02.09.2021

Außergewöhnlicher Erzählstil

Der Himmel vor hundert Jahren
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In einem kleinen, weit abgeschiedenen, russischen Dorf um 1918, der Zeit nach der Revolution, begegnen wir Ilja und Pjotr sowie ihren Anhängern.
Technischer Fortschritt und hohe Politik sind weit entfernt, ...

In einem kleinen, weit abgeschiedenen, russischen Dorf um 1918, der Zeit nach der Revolution, begegnen wir Ilja und Pjotr sowie ihren Anhängern.
Technischer Fortschritt und hohe Politik sind weit entfernt, das Weltbild wird gezeichnet von Krankheit und Aberglauben. Das Hauptinteresse der Dorfbewohner gilt der Wettervorhersage, weil die richtige Reaktion auf das Wetter die Ausbeute der Feldwirtschaft erhöht. In dieser Welt leerer Mägen geht es ums nackte Überleben. Während Ilja das zukünftige Wetter von einem Röhrchen ableitet, befragt Pjotr die Flussgeister.

Dieser Roman lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken. Er berichtet von etwas Historischem, ist gleichzeitig auf das aktuelle Umbruchgeschehen übertragbar. Er erzählt konkret von der Zeit kurz nach der Revolution, fühlt sich allerdings auch irgendwie märchenhaft an, unwirklich. Der Roman berichtet über Ereignisse, ohne richtig darüber zu sprechen. Er beginnt mit einem Aspekt, verliert sich dann im Hundertstel und Tausendstel, landet bei einem neuen Schwerpunkt, um sich abermals zu verlieren. Betrachtet man einzelne Abschnitte liegt das Geschehen im Nebel, erst durch die Sicht auf den Roman als Ganzes entsteht eine Vorstellung von der übergreifenden Situation.
Ich fühlte mich beim Lesen ein bisschen an den Erzählhabitus meiner Oma mit ihren Nachbarn und Besuchern erinnert. Diese Altersgruppe hatte ebenfalls eine ellenlange, beschreibende Erzählweise. Um Personen zu identifizieren wurde beispielsweise „die dritte Tochter von der Nachbarin zwei Häuser rechts von Liselotte Müller verkehrt jetzt mit dem Ältesten von dem Schreiner-Otto seinem Sohn“ gesagt. Darüber hinaus arbeitet die Autorin mit starken Metaphern. Ilja und Pjotr sind mit ihrem Handeln nicht nur Dorfbewohner, sondern in meiner Wahrnehmung auch die Vertreter für das Zeitgeschehen.

Obwohl es mir schwerer gefallen ist, dieses Sprachkonstrukt zu lesen, hat mir die geschichtliche Auseinandersetzung gut gefallen. Historisch Geschehenes kann im Geschehen von heute reflektiert werden. Verklärung durch mangelnde Aufklärung hatte ich im Fokus oder auch gänzlich fehlende Information vs. Informationsoverflow. Es ist weniger der Bericht an sich, sondern mehr das, was er an weiteren Gedankengängen anschubst, was ihn für mich besonders macht.

Ich empfehle ihn sehr gern an alle, die auch das mühevolle Lesen lieben.

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Veröffentlicht am 25.08.2021

Urlaub mit Hindernissen

Der Brand
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Nachdem ich bereits „Die Liebe im Ernstfall“ und „Muldental“ von Daniela Krien mit Freude gelesen hatte, wollte ich mir natürlich ihren neuen Roman nicht entgehen lassen. Er gewährt uns einen kurzen Einblick ...

Nachdem ich bereits „Die Liebe im Ernstfall“ und „Muldental“ von Daniela Krien mit Freude gelesen hatte, wollte ich mir natürlich ihren neuen Roman nicht entgehen lassen. Er gewährt uns einen kurzen Einblick in die Ehe von Rahel und Peter, ihre Beziehung in der Krise. Ist eine Trennung vermeidbar? Wie viel Gemeinsamkeit ist noch vorhanden? In dieser Situation steht ein gemeinsamer Urlaub an, der eigentlich in einer einsamen Hütte in Oberbayern stattfinden sollte, die beiden nun aber nach Dorotheenfelde in die Uckermark führt.

In diesem schönen Setting, einer Mischung aus Bauernhofatmosphäre und Haus am See haben Rahel und Peter zunächst Schwierigkeiten, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Auch das Sehen des Anderen bereitet ihnen Probleme. Jeder ist einsam nur bei sich und hängt an den Fehlern des Gegenüber fest. Das Positive, das Verbindende hat gar keine Chance wahrgenommen zu werden. Jeder Ansatz eines Gespräches wird beleidigt abgeblockt. Erst als die Tochter, Selma, mit ihren Problemen bei den Eltern aufschlägt, entstehen erste Impulse einer Annäherung.

Daniela Krien erzählt geradeaus, was passiert, wie die Partner aufeinander reagieren. Sie zeichnet ein klares Bild von der Umgebung und den Hofbewohnern, die sich direkt vor dem inneren Auge erheben. Es fühlt sich an, als würde man selbst vor Ort sein und die Szenerie live beobachten. Die Autorin wählt ihre Worte zart und einfühlsam. Ich ließ mich von ihrer einnehmenden literarischen Welle mitreißen und davontragen, bis ich vom offenen Ende an den Strand gespült wurde. Ich mochte diese Unabgeschlossenheit sehr, weil man so das weitere Geschehen in verschiedene Richtungen weiterdenken kann. Zudem erhält die Geschichte dadurch zusätzliche Authentizität. Schließlich ist im wahren Leben eine kriselnde Beziehung auch nicht innerhalb eines Urlaubs repariert.

Gefallen hat mir darüber hinaus die Zeichnung der Charaktere. Jeder Charakter hatte seine Ecken und Kanten, weder Rahel noch Peter waren mir durchgehend sympathisch oder unsympathisch. Gleichzeitig konnte ich mich in beide gut hineinfühlen. Schön war auch, dass Rahel eher als Macher und Peter als Denker angelegt waren. Dadurch kommt es zu typischen Konstellationen, die hier allerdings aus traditioneller Betrachtungsweise mit umgekehrter Rollenverteilung daherkommen. Lediglich die in den Urlaub hineinplatzende Selma mit ihrem selbstverursachten, unendlichen Leid hat eine eher ablehnende Haltung meinerseits ihr gegenüber provoziert.

Summa Summarum ein schöner eingängiger Roman, der frei von Kitsch gut lesbar das Zusammenleben nach den Kindern betrachtet. Ich mochte die Geschichte sehr und empfehle sie daher gern weiter.

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Veröffentlicht am 23.08.2021

Langer Titel, kurzweiliger Inhalt

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
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Pedro Fernández García ist wie auch schon sein Vater und sein Großvater Postbote mit einem kleinen Büro in Yaiza im Süden von Lanzarote. Was zu Zeiten seines Großvaters noch ein ehrbarer Beruf war, ist ...

Pedro Fernández García ist wie auch schon sein Vater und sein Großvater Postbote mit einem kleinen Büro in Yaiza im Süden von Lanzarote. Was zu Zeiten seines Großvaters noch ein ehrbarer Beruf war, ist durch die Kommunikation via Internet inzwischen vom Aussterben bedroht. So ist Pedro nach der Zustellung der täglichen Postwurfsendungen und den verbliebenen wenigen Briefen dazu gezwungen, Zeit totzuschlagen. Seiner Freundin Carlota, die selbst im Tourismus arbeitet und unter Dauerstrom steht, ist das als berufliche Aufgabe zu wenig. In der Folge verlässt sie ihn und zieht mit dem Sohn Miguel nach Barcelona. Pedro bleibt mit seinem Freund aus Kindertagen, Tenaro, zurück, der heute als Fischer arbeitslos ist.

Während Pedro in der Wahrnehmung von Arbeitsbienen wie Carlota irgendwie antriebslos wirkt, ist Tenaro sprunghaft, sprudelt nur so vor verrückten Ideen, um zukünftig seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Während es Pedro reicht, von seinem Gehalt einen Café con leche und den Mittagstisch in der BarStop für sich uns seinen Sohn finanzieren zu können und will Tenaro den ganz großen Coup. Tenaro will wie in den Zwanzigern feiern, Pedro für seinen Sohn da sein. Obwohl ich wahrscheinlich mit beiden Herren nicht zusammenleben könnte, ist mir letztlich Pedro doch sympathischer. Er hat wenigstens ein echtes Ziel. Er möchte das Beste für seinen Sohn. Gut gefallen an den beiden hat mir ihr Zusammenwirken als Team. Vieles klappt zwar nicht mehr so wie früher und ein bisschen auseinander gelebt haben sich die Freunde auch, aber letztlich wissen sie doch um die Bedürfnisse des Anderen.

Insgesamt ist der Roman von Moritz Rinke unglaublich vielschichtig. Es geht um wegbrechende Berufe, was die mit sich anfangen sollen, die sie bisher ausgeübt hatten. Hinzu kommen Flüchtlinge, die nach Freiheit strebend über die Kanaren nach Europa einreisen. Eingewoben sind die Themen Männerfreundschaft, Vaterschaft und Fußball, der alles verbindet. Messi als Vorbild und Held vom FC Barcelona ist ebenfalls mit von der Partie. Abgerundet wird das Ganze durch einen tiefergehende Blick in die Vergangenheit Spaniens, als sich Franco mit Unterstützung des nationalsozialistischen Deutschen Reichs an die Macht geputscht hat.

Das Konstrukt des Autors ist so geschickt zusammengesetzt, dass regelrecht einleuchtet, wie die Ereignisse und Entscheidungen der Vergangenheit bis ins Heute wirken. Durch die ungelenke Art seiner Charaktere schafft Rinke trotz der ernsten Thematik eine Situationskomik, die ich sehr mochte, nicht schreiend komisch, sondern immer wieder zum Schmunzeln anregend. Witzig waren zudem die leicht spoilernden Kapitelüberschriften, die manchmal auch Vorfreude, was denn jetzt wieder passiert, erzeugen konnten. Der Titeldes Romans ist vielleicht etwas langatmig gewählt, der Roman selbst ist es nicht, sondern ein ganz besonderes Lesevergnügen, das ich gern weiter empfehle.

Schade ist nur, dass parallel zur Veröffentlichung der deutschen Ausgabe verkündet wurde, dass Messi nach Paris Saint-Germain wechselt.

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Veröffentlicht am 18.08.2021

Glaube und Wissenschaft - ein Zusammenspiel

Ein erhabenes Königreich
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Yaa Gyasi legt mit ihrem aktuellen Roman ein breites Spektrum an Gesellschaftsfragen vor. Die aus Gahna eingewanderte Familie um die Hauptfigur Gifty ist Mitglied in einer hauptsächlich weißen Gemeinde. ...

Yaa Gyasi legt mit ihrem aktuellen Roman ein breites Spektrum an Gesellschaftsfragen vor. Die aus Gahna eingewanderte Familie um die Hauptfigur Gifty ist Mitglied in einer hauptsächlich weißen Gemeinde. Solange Gifty‘s Bruder Nana nur mit sportlichen Leistungen glänzt, sind sie akzeptiert. Als er mit Drogen in Berührung kommt, gewinnt leider der Alltagsrassismus. Der Roman handelt ebenso von elterlicher Trennung, von der Armut einer alleinerziehenden Mutter und ihrer Kinder. In ihrer Not, den Lebensunterhalt irgendwie aufrecht zu erhalten, bleibt der Mutter nur wenig Zeit, sich wirklich um ihre Kinder zu kümmern.

Trotzdem schafft es Gifty in die Forschung der Neurowissenschaften. Sie ist nur noch einen minimalen Schritt von ihrer Promotion entfernt. Mit ihrer Forschung will sie aber nicht nur den nächsten Karriereschritt machen, sondern vielmehr ergründen, ob es möglich ist, Süchte und Depression, die beiden Katastrophen, die ihre Familie heimsuchten, zu heilen. Als Kind, tief gläubig, betend für ein besseres Leben, versucht Gifty nun mittels Wissenschaft „ihre“ Probleme zu lösen. Hat sie ihren Glauben ganz verloren? Kann die Wissenschaft allein alle Probleme lösen? Gifty versucht einen Balanceakt zwischen Beidem.

Ich muss sagen, ich mag Gifty. Ich kann mich gut mit ihren Gedanken identifizieren, mit ihren Zweifeln. Ich finde es bewundernswert, dass sie nicht aufgibt. Ich liebe ihre linkische Art, wenn sie mit kecken Bemerkungen ihrem Kollegen Han die Röte in die Ohren treibt. Das beste an ihrem Charakter ist die Loyalität zur Familie. Obwohl die eigene Mutter sie als Kind oft nur wie Zweite Wahl behandelt hat, nimmt Gifty sie, an Depression leidend, bei sich auf und pflegt sie.

Die Geschichte wird in zwei zeitlichen Eben erzählt, eine beschäftigt sich mit Gifty‘s Forschung, die zweite mit ihren Erinnerungen an die Kindheit. In den Prosatext sind immer wieder Gifty‘s kindliche Gebete eingestreut, wodurch der ihr innewohnende Glaube richtig schön herausgearbeitet wird. Gern gelesen habe ich auch die Sätze auf Twi, eine Akan-Sprache, die in Ghana gesprochen wird. Dadurch entstehen für mich trotz wahrscheinlich falscher Aussprache meinerseits zusätzliche Schwingungen, die dem Roman noch mehr Authentizität geben. Da jeder dieser Sätze sofort übersetzt wird, fühlte ich mich direkt mitgenommen in Gifty‘s Welt.

Ich habe hier einen ganz tollen Roman gelesen, der leise, aber auch unverblümt entscheidende Gesellschaftsprobleme anspricht. Da Gifty’s Forschung auf Tierversuchen basiert, sollte man hierfür eine gewisse Toleranz mitbringen. Sonst lässt sich der Roman nicht genießen. Darüber hinaus spreche ich gern meine Leseempfehlung aus.

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Veröffentlicht am 15.08.2021

Cornwall mal etwas anders

Die Leuchtturmwärter
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Die Maiden ist ein Leuchtturm draußen auf dem Meer vor der Küste Cornwalls. Wenn ich normalerweise an Cornwall denke, kommt Urlaubsfeeling auf, erscheinen schöne Landschaften und etwas seichtere Romantik ...

Die Maiden ist ein Leuchtturm draußen auf dem Meer vor der Küste Cornwalls. Wenn ich normalerweise an Cornwall denke, kommt Urlaubsfeeling auf, erscheinen schöne Landschaften und etwas seichtere Romantik vor meinem inneren Auge. All diese Dinge bringt das Debüt von Emma Stonex nicht mit, sondern vielmehr eine raue, düstere, bedrückende Atmosphäre, in der die Protagonisten lieben, leben und schließlich auch trauern müssen.

Der Roman bewegt sich in zwei Zeitebenen auf das Verschwinden der drei Dienst habenden Leuchtturmwärter zu. Eine Ebene beschäftigt sich mit den Erinnerungen der Ehefrauen zwanzig Jahre nach dem Schicksalsschlag. Hier versucht ein geheimnisvoller Autor unter Pseudonym, die Geschichte um das Verschwinden zu rekonstruieren und literarisch aufzubereiten. Die zweite Ebene ist live dabei und begleitet die Leuchtturmwärter während ihrer letzen Tage auf ihrem Leuchtturm, der Maiden.

Die drei Männer auf dem Leuchtturm sind Arthur, Bill und Vincent. Alle drei haben ihre Vergangenheit und auch ohne die Enge und Abgeschiedenheit der Maiden ihr Päckchen zu tragen. Sie sind keine Männer vieler Worte, machen fast Alles mit sich selbst aus. So konnte ich in ihre jeweilige Gedankenwelt eintauchen und sie samt ihrer dunkelsten Geheimnisse kennenlernen. Interessant waren für mich darüber hinaus die zeitintensiven Hobbys, mit denen Arthur, Bill und Vincent die freie Zeit im Turm verbringen. Etwas überraschend empfand ich ihr Engagement in Sachen Reinlichkeit. Auf dem Festland sehnen sich die Ehefrauen nach ihren Leuchtturmwärtern. Sie wohnen in Cottages, die den Familien der Wärter zur Verfügung gestellt werden. So leben die Wärterfamilien in einem Mikrokosmos aus langen Trennungsphasen, unerfüllter Sehnsucht und Eifersucht. Gehemmte Kommunikation treibt ein Fremdwerden voran, führt zu Hirngespinsten.

Die Autorin schafft eine bedrohliche Stimmung, die sich immer weiter zuspitzt bis zum alles entscheidenden Ereignis. Ihre literarische Mystik wurde zunehmend unglaublicher, so dass ich zwischendurch schon etwas Übernatürliches im Sinn hatte. So wird letztlich transparent, wozu der menschliche Verstand fähig ist, wie Einbildung zur Wahrheit mutieren kann. Besonders gefallen haben mir die verschieden Erzähl-Perspektiven, die jeweils die Sichtweise der Protagonisten einnehmen. Erst durch die Summe an Blickwinkeln wird die problematische Situation der Leuchtturmfamilien übergreifend sichtbar. Bereichernd habe ich auch das gelegentliche Abweichen vom reinen Prosatext mittels Gedichten oder Interviewaufzeichnungen empfunden.

Insgesamt hat mir der Geheimnis umworbene Roman mit seinen vielen Puzzleteilen gut gefallen. Vielleicht hätte ich mir eine etwas frühere und intensivere Aufklärung des Sachverhalts gewünscht, wobei die späte Auflösung hier auch ihren Reiz hatte. Die Anspannung und Neugier beim Lesen schwillt maximal an, weil man endlich wissen möchte, wie genau es nun zu dem Verschwinden gekommen ist.

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