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Veröffentlicht am 01.10.2020

Bewegte Zeiten im Banat

Die Unschärfe der Welt
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Iris Wolff schenkt einer mir bisher unbekannten Region in Südosteuropa, dem Banat, das heute anteilig in Rumänien, Serbien und Ungarn liegt mit ihrem Roman verdiente Aufmerksamkeit. Sie berichtet von vier ...

Iris Wolff schenkt einer mir bisher unbekannten Region in Südosteuropa, dem Banat, das heute anteilig in Rumänien, Serbien und Ungarn liegt mit ihrem Roman verdiente Aufmerksamkeit. Sie berichtet von vier Generationen einer Familie aus dem Banat. Dabei thematisiert die Autorin neben allgemeinen Herausforderungen einer Familie die in vielen Ostblockstaaten herrschenden Missstände: Enteignung, Überwachung, Mangelwirtschaft und Flucht. Auch nach dem Mauerfall ist die Welt längst nicht perfekt. In der neuen Gesellschaftsordnung müssen sich die Menschen erst zurechtzufinden. Neuorientierung im Job und im Rahmen des Konsums muss gemeistert werden.

Der sprachlich fast schon überzeichnete Roman arbeitet sich durch aneinandergereihte Kurzgeschichten, die jeweils nur einen kleinen Ausschnitt aus dem/den Leben einer oder mehrerer Personen preisgeben. Es ist durchaus anspruchsvoll, sich in jedem Kapitel neu zu orientieren. Von wem lesen wir? Wo sind wir örtlich und bezüglich der Zeitachse? Nach kurzer Gewöhnungsphase konnte ich dieses Kurzgeschichtenhafte mit seinen großen Lücken gut annehmen. Es hat mich auch nicht gestört, wenn es zum Ende der Kapitel total spannend war und dann einfach mit einem Cliffhanger aufgehört hat. Ich mag es gern, wenn ich interpretieren darf. Am Ende war ein stimmiges Gesamtbild entstanden.

Am besten hat mir hier die Geschichte zwischen Samuel und S(t)ana gefallen. Es war zwischenzeitlich ein bisschen wie bei Romeo und Julia. Trotzdem konnten die beiden mich überzeugen. Zu Beginn mochte ich die Schüchternheit und Zartheit ihrer Freundschaft, später hat mir dann ihr Durchhaltevermögen gefallen. Mag sein, dass das Ganze ein wenig kitschig anmutet, ich fand ihre Liebe bewundernswert.

Da sich die Geschichte über vier Generationen erstreckt, lernt man als Leser viele Wegbegleiter und ihre Sicht der Dinge kennen. Durch dieses immer tiefere Einsteigen in den Roman, hat sich die Handlung für mich fortwährend gesteigert. Zu keinem Zeitpunkt war sie für mich langweilig oder langatmig. Ich empfinde „Die Unschärfe der Welt“ als Erinnerungsroman, in dem die wichtigen Momente in Samuels Familie und engen Bekanntenkreis niedergeschrieben sind. Nur einschneidende Ereignisse, beeindruckende Wahrnehmungen und große Gefühle (die hier eher von stiller Natur sind) werden herausgehoben. Der unspektakuläre Rest des Lebens wird ausgespart.

Das hat mir sehr gefallen. Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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Veröffentlicht am 01.10.2020

Das Gute und das Böse im Menschen

Der Halbbart
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Vor dem historischen Hintergrund des Marchenstreits um 1313 erzählt Charles Lewinsky die Geschichte eines Flüchtlings und der Menschen, die ihn in ihrem Dorf aufnehmen. Während wir die Charaktere mit ihren ...

Vor dem historischen Hintergrund des Marchenstreits um 1313 erzählt Charles Lewinsky die Geschichte eines Flüchtlings und der Menschen, die ihn in ihrem Dorf aufnehmen. Während wir die Charaktere mit ihren persönlichen Herausforderungen kennenlernen, schwelt der Konflikt, ist von Beginn an zu spüren. Die Unterdrückung der Landbevölkerung durch die Kirche mündet schließlich in ausufernden Gewalttaten, Auge um Auge, Zahn um Zahn, die der Autor so schonungslos präsentiert, dass meine Reaktion von ungläubigen Entsetzen geprägt ist. Über den geschichtlich belegten Anteil hinaus habe ich den Roman als Gesellschaftskritik empfunden. Fast alles, was geschieht, lässt sich ins heute transferieren.

In diesem Sinne sind die streitbaren Figuren angelegt, sie führen uns sehr genau verschiedene Archetypen des Menschen vor Augen. Es gibt den Intellektuellen, den jungen Formbaren, den mit Durchhaltevermögen, den Starken, den Depp, es gibt Lügner und Hinterhältige. Dazu kommt die Quotenfrau. Wie im echten Leben heute, tritt nur eine Dame ins Rampenlicht der wirklich wichtigen Charaktere. Der Autor fokussiert stark auf die Entwicklung der Charaktere und deren Beziehungsgeflecht.
Meine Lieblingsfigur ist Eusebius, genannt Sebi. Er hat aus meiner Sicht einen Entwicklungssprung hingelegt, der deutlich über das für seine Herkunft Erwartbare hinausgeht. Überzeugt hat er darüber hinaus, weil er sich selbst stets treu geblieben ist. Gut gefallen hat mir auch die Unerschütterlichkeit des wahren Glaubens, die sich in seiner Figur manifestiert.

Die gewählte Sprache und Benamung der Figuren erzeugen den Lokalkolorit des Romans. Das dörflich Ungebildete seiner Zeit spendet Glaubwürdigkeit, ist gleichzeitig sehr amüsant. Es hat ein paar Kapitel gedauert, bis ich mich an den von
Helvetismen durchsetzten Text mit dem aus hochdeutscher Perspektive betrachteten, falschem Satzbau gewöhnt hatte. Danach war ich von dem sympathischen Sprachgebrauch mit seinen lautmalerischen Wörtern wie Finöggel, Gsüchti und Rossbollen begeistert. Negative Wörter, Gefühle und Zustände erfahren eine Verniedlichung, lassen den Leser trotz des Ernstes der Ereignisse schmunzeln.

Insgesamt war „Der Halbbart“ kein einfaches Buch. Durchgehend regt der Roman zum Reflektieren an, da sich ganz automatisch eine Fülle von Parallelen in unserem Leben heute ergibt. Fake News sind in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel. So habe ich den Roman fast nach jedem Kapitel ein paar Minuten zur Seite gelegt, um das Gelesene auf mich wirken zu lassen. Neben dem mir bisher unbekannten geschichtlichen Hintergrund habe ich beim Nachsinnen auch mich selbst und meine Mitmenschen wieder ein bisschen besser kennengelernt. Diese Anregung hat mir sehr gefallen.

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Veröffentlicht am 16.09.2020

Späte Aufklärung

Was Nina wusste
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David Grossman präsentiert uns die Geschichte einer Patchwork-Familie, die gekennzeichnet ist von Disharmonie. Der Leser spürt gegenseitige Abneigungen, die er zunächst nicht einordnen kann. Irgendwie ...

David Grossman präsentiert uns die Geschichte einer Patchwork-Familie, die gekennzeichnet ist von Disharmonie. Der Leser spürt gegenseitige Abneigungen, die er zunächst nicht einordnen kann. Irgendwie muss etwas in der Vergangenheit vorgefallen sein, das bis heute nachwirkt. Die drei Hauptfiguren - Vera, ihre Tochter Nina und ihre Enkelin Gili - gehen nach Vera’s 90sten Geburtstag die Ergründung des fehlenden Familienglücks an. Dazu möchte Gili einen Film drehen. Während einer Reise nach Goli Otok, das ist eine frühere Gefängnisinsel in Kroatien, soll Vera‘s Lebensgeschichte einmal komplett festgehalten werden. Ahnungen sollen Gewissheit werden.

Die hier im Vordergrund stehenden Frauen nehmen den Leser mit in die Zeit Titos. Ein in Details weniger bekanntes, dennoch grausames Kapitel der europäischen Geschichte wird hier näher beleuchtet. Der Roman hat mir ein besseres Bewusstsein diesbezüglich verschafft. Ich bin jeweils sehr angetan, wenn man auf Basis einer Freizeitlektüre ganz nebenbei, ohne Mehraufwand noch etwas lernt.

Dabei konnte ich mich in jede der Frauen hineinversetzen, ihre Reaktionen nachvollziehen. Dadurch habe ich die Figuren als sympathisch eingestuft, auch wenn sie teilweise ein ruppiges Verhalten an den Tag gelegt haben. Am liebsten mochte ich Gili, weil sie die gemeinsame Reise forciert hatte.

Ganz toll ist die überaus feinsinnige Sprache Grossman‘s. Sein Sprachgebrauch passt sich der jeweiligen Stimmung der sprechenden/denkenden Protagonistin an. Eine wütende Protagonistin fällt durch provokante bzw. harte Wortwahl auf, ist sie ängstlich wird auch die Sprache vorsichtiger. Von daher war es leicht für mich, mitzufühlen. Besonders gut gefallen hat mir die sprachliche Aufbereitung von Vera‘s Ivrith. Der Transfer ihres Sprachgebrauchs - dass sie auch nach vielen Jahren noch spricht, wie frisch eingewandert - ins Deutsche ist für mich mehr als gelungen.

Insgesamt ein lesenswerter Roman, der auf einer wahren Geschichte beruht. Wenn ich streng urteile, war mir das Ende eigentlich zu positiv geknüpft. Nach all den Schrecken habe ich mich dennoch darüber gefreut.

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Veröffentlicht am 14.09.2020

„Kein Grund zur Sorge“

Kalmann
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Der neue Roman von Joachim B. Schmidt ist ein sprachliches Literatur-Highlight, das auf Einfachheit in Wortwahl und Satzbau basiert. Der Stil des Romans folgt so dem Gemüt des sympathischen Titelhelden ...

Der neue Roman von Joachim B. Schmidt ist ein sprachliches Literatur-Highlight, das auf Einfachheit in Wortwahl und Satzbau basiert. Der Stil des Romans folgt so dem Gemüt des sympathischen Titelhelden Kalmann Óðinsson, in dessen Kopf die Räder manchmal rückwärts laufen, der aber trotzdem in seinem überschaubaren Umfeld von Raufarhöfn als Kleinstwildjäger, Gammelhai-Produzent und selbsternannter Sheriff gut zurecht kommt.

Kalmann mochte ich sehr. Er ist aufgrund seiner geistigen Einschränkung ein Außenseiter, wird nie richtig ernst genommen, hat gleichzeitig ganz normale Bedürfnisse, beispielsweise sehnt er sich nach einer Frau. Obwohl die Chancen dafür schlecht stehen, ist er stets positiv gestimmt. „Kein Grund zur Sorge“ ist sein Lieblingssatz. Kalmann hilft seinen Mitmenschen, beschützt sie. Dank seines Großvaters, der ihm alles beigebracht hat, was ein Mann im Leben braucht, ist er dazu auch in der Lage.

In meinen Augen ist der Roman eine Auseinandersetzung mit den Lebensperspektiven von Menschen mit Handicap, ob dies nun auf einer Behinderung oder auf einer Krankheit beruht. Der Autor spielt regelrecht mit dem Leser. Er lässt Kalmann verrückte Dinge tun, so das man hin- und hergerissen ist. Wieviel selbstbestimmtes Leben ist erlaubt, wenn es doch gleichzeitig ein Risiko für den Betroffenen und andere darstellt? In diesem Zusammenhang fand ich die Gegenüberstellung von Kalmann’s Leben mit dem von Nói, seinem besten Freund, den er nur übers Internet trifft, überaus gelungen.

Eingebettet ist die liebevolle Geschichte von Kalmann in eine Krimihandlung, die in der wunderschönen Natur Islands stattfindet. Weite und Stille sind maßgeblich für die gezeichnete Landschaftsaufnahme. Der sogenannte König von Raufarhöfn ist verschwunden. So werden im Porträt einer aussterbenden Gemeinde, die ohne Fischfang keine Existenzgrundlage mehr hat, Täter gesucht, Fremde verdächtigt. Vorurteile und die Sensationsgier der Medien heizen die Stimmung an.

Die Geschichte lebt von Übertreibungen und überspitzter Darstellung. Das ließ mich an Stellen laut auflachen, an denen mein politisch korrektes Ich niemals lachen würde. Deshalb ist es dem Roman auch überhaupt nicht übel zu nehmen, dass die Handlung einen bestimmten Weg einschlagen muss, auch wenn dieser in der Realität vielleicht abwegig ist. Ich wurde sehr gut unterhalten und konnte eigene Vorurteile reflektieren.

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Veröffentlicht am 06.09.2020

Mitreißend, irgendwie gut, nicht ganz überzeugend

Zugvögel
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Zugvögel, der Debütroman von Charlotte McConaghy, ist für mich sehr schwer zu bewerten. Ich brüte jetzt schon eine ganze Woche darüber und bin immer noch nicht ganz sicher in meiner Punktevergabe. Positiv ...

Zugvögel, der Debütroman von Charlotte McConaghy, ist für mich sehr schwer zu bewerten. Ich brüte jetzt schon eine ganze Woche darüber und bin immer noch nicht ganz sicher in meiner Punktevergabe. Positiv stehe ich der schönen Sprache und der Erzählweise gegenüber. Die Autorin schafft es über den gesamten Roman hinweg, das Interesse des Lesers aufrecht zu erhalten. Man wird immer wieder geködert mit einer potenziellen Entwicklung der Charaktere und der Handlung, die wirklich attraktiv wäre. Leider, und das ist für mich das Negative, kommt es fast nie zu dem, was man sich ausgemalt hatte.

Aus meiner Sicht liegt es an zahlreichen Baustellen, die bedeutungsschwer aufgerissen werden mit großem Bohei und dann teilweise im Sande verlaufen oder sich ganz samtweich auflösen. Beispielsweise wird die Mythologie der Selkies ins Spiel gebracht und der Kapitän des Fischerbootes, das Franny in die Antarktis bringen soll, sagt abwertend etwas in der Art: „Die ist auch so eine“. Am Ende meinte er wohl nur, dass Franny eine Landratte sei. Danach spielt die Mythologie überhaupt keine Rolle mehr. Unter dieser Sichtweise war für mich auch die Auflösung des schon im Klappentext angekündigten Verbrechens enttäuschend. In meiner Wahrnehmung erscheinen diese reißerischen Ankündigungen mit den eher normalen, fast schon langweiligen Auflösungen als logische Fehler.

Trotzdem habe ich den Roman gern gelesen und verstehe nicht ganz warum, denn eigentlich sind logische Fehler für mich untragbar. Dabei habe ich mit großem Interesse die verrückten Gedankengänge von Franny, der Hauptfigur, verfolgt. Die Entstehung ihrer Beziehung zu Niall war fast schon filmreif. Darüberhinaus mochte ich ihren Ehrgeiz und ihr Engagement in Bezug auf die Begleitung der Seeschwalben nach Süden, sowie ihr Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen auf der beschwerlichen Reise mit dem Fischerboot. Die Atmosphäre auf dem Boot und das Beziehungsgeflecht der Crew war aus meiner Sicht sehr schön herausgearbeitet.

Fazit: Gern gelesen, teils kopfschüttelnd beendet. Vielleicht war es hier und da dermaßen übertrieben, dass es schon wieder gut war.

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