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Veröffentlicht am 26.02.2020

Bröckchen der Erinnerung

Nach Mattias
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Peter Zantingh berichtet über das Leben von Mattias, indem er kurze Geschichten über Menschen aus seinem Umfeld schreibt. Sie besitzen unterschiedlichste Erinnerungen an ihn. Dabei spiegelt jeder Charakter ...

Peter Zantingh berichtet über das Leben von Mattias, indem er kurze Geschichten über Menschen aus seinem Umfeld schreibt. Sie besitzen unterschiedlichste Erinnerungen an ihn. Dabei spiegelt jeder Charakter einen kleinen Ausschnitt unserer Gesellschaft wider. Es gibt beispielsweise die Rollen von Mutter und Vater, des Soldaten, des Migranten. Unter ihnen sind Gehetzte und Antriebslose, Alkoholiker, Sportler und Gamer.

Erstaunlich war, dass mich die Schicksale der direkten Angehörigen weniger berührt haben als das Leben des weiteren Umfelds. Amber, die Freundin, und auch die Eltern erschienen mir zudem weniger sympathisch. Gemocht habe ich neben dem ungewöhnlichen Laufpärchen, Quentin und Chris, den Alkoholiker Nathan.

Durch Quentin und Chris wurde sehr schön das zunehmende Einbrechen der Fähigkeiten richtig zuzuhören und sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen transportiert. Mit einem kleinen Schmunzeln hatte ich sofort gedacht, das wird nichts mit den Beiden. Trotzdem konnten sie für eine Weile „befreundet“ sein bzw. eine Zweckgemeinschaft eingehen. Als einer von beiden etwas zu aufdringlich wird, zu tief ins Private eindringen will, mehr Information fordert, droht das Ganze wieder zu zerbrechen. Gemeinsame Aktivitäten können zwar der Beginn einer Freundschaft sein, müssen jedoch nicht zwingend darin münden.

Nathan mochte ich nicht wegen seines ausufernden Alkoholkonsums, dennoch war er mir sehr nahe. Ich empfand starke Sympathie für ihn. Vermutlich verbindet uns das Widerstreben an einer Weiterbildung teilzunehmen, die einen nicht voranbringt, sondern nur alten Wein in neuen Schläuchen präsentiert, trotzdem so tut, als wären die Inhalte neueste Ergebnisse der Forschung. Unternehmensfremde, die vielleicht noch nie in diesem Job tätig waren, maßen sich an, Nathan zu erklären, wie er seine Aufgabe zu erledigen hat.

Generell scheint es heutzutage so zu sein, dass Jeder zu Allem immer noch einen Kommentar abgeben muss, ungefragt und oft unpassend. Das zwanghafte Präsentieren der eigenen Person mit den alltäglichen Nichtigkeiten kennt keine Grenzen. Vor diesem Hintergrund präsentieren auf Mattias Beerdigung eine Reihe von Bekannten ihren schmalen Blickwinkel auf ihn. So bleibt aus der Perspektive seiner Mutter seine wahre Geschichte verborgen. Das hat mich irgendwie erschüttert, weil es den Trauerprozess der direkten Verwandten stört.

Das Beste an diesem Roman ist seine Vielschichtigkeit und seine Offenheit. Die Schicksale werden jeweils kurz angerissen. Es wird nur so viel erzählt, dass der Leser das Ganze selbst zu Ende denken kann. In der Interpretation ist der Leser dann maximal frei. Leben im Hier und Jetzt, das ist die Grundaussage, die ich aus diesem Roman ziehe. Denn schon morgen könnte es vorbei sein und dann bleibt möglicherweise nicht mehr viel. Ergänzt wird dieser sehr ansprechende Roman durch ein Interview mit dem Autor, das man nicht auslassen sollte, und eine Playlist mit Musik, die im Roman eine wichtige Rolle spielt. Die Playlist ist zudem online direkt zum Abspielen verfügbar. Auch diese Verbindung zwischen dem Lesen und „neuen Medien“ hat mir richtig gut gefallen.

Ganz klare Lese- und Hörempfehlung.

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Veröffentlicht am 23.02.2020

Gute Konstruktion, mäßig umgesetzt

Die Galerie am Potsdamer Platz
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„Die Galerie am Potsdamer Platz“ ist der erste Teil einer Trilogie, gleichzeitig der Debütroman von Alexandra Cedrino, die der bekannten Kunsthändlerfamilie Gurlitt entstammt. Beim Lesen lässt sich durchgehend ...

„Die Galerie am Potsdamer Platz“ ist der erste Teil einer Trilogie, gleichzeitig der Debütroman von Alexandra Cedrino, die der bekannten Kunsthändlerfamilie Gurlitt entstammt. Beim Lesen lässt sich durchgehend die Herkunft der Autorin spüren, die Kunstszene der 30er Jahre erscheint sehr gut recherchiert und damit glaubwürdig.

Etwas schwächelnd empfinde ich die Geschichte um Alice Waldmann und ihre „neue“ Familie. Normalerweise fühle ich mich zu den Protagonisten hingezogen oder ich lehne sie vollständig ab, hier ist jedoch der Funke nicht richtig übergesprungen. Vermutlich liegt dies an den vielen losen Enden, die sich ergeben haben. Alles startet und endet irgendwie abrupt. Ein Beispiel ist Johanns Nachtclub, der nach der pseudomäßigen Razzia dermaßen in den Hintergrund rückt, dass man denkt, es gäbe ihn nicht mehr. In das Nachtleben selbst hätte man insgesamt auch tiefer eintauchen können. Dann hätte ich mir gewünscht, die lesbischen Beziehungen wären intensiver betrachtet worden. Zudem war ich etwas ratlos bezüglich der Verbindung zwischen Alice und ihrem Vater Lux. Nachdem Alice nach Berlin gereist war, gab es im Prinzip keinen Austausch mit ihrem Vater, dabei hätte sie doch seine Unterstützung, wenigstens aus der Ferne, im Rahmen der Konfrontationen mit der Großmutter gebraucht. Erst im Nachhinein erfährt der Leser, dass beide sich wohl Briefe geschrieben haben. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings schon Zweifel, ob Lux überhaupt der leibliche Vater ist.

Das Hauptthema des Romans, die Wiedereröffnung der Galerie, kommt mir ebenfalls zu spontan. Über die Leidenschaft, die Ludwig, Johann und Alice beim Pläne schmieden hatten, wird der Leser nur informiert. Besser wäre gewesen, ihn daran teilhaben zu lassen. Gut gelungen war dieses Beiwohnen-Lassen beim Sichten der Kunstwerke. So hätte ich mir den ganzen Roman gewünscht.

Begeistern konnte mich dagegen die fast wortlose Annäherung der Großmutter an Alice. Die Atmosphäre war aufregend und irgendwie zurückhaltend liebevoll zugleich. Die wenigen Worte und die Gesten sind von gegenseitigem Respekt geprägt. Es ist eine Art der Aussöhnung, bei der keine der beiden charakterstarken Frauen über den eigenen Schatten springen muss.

Insgesamt wirkt der Roman auf mich zu konstruiert. Ideen wurden gesammelt, auf einen roten Faden gefädelt und dann ausformuliert. Aus meiner Sicht wäre es besser gewesen, einzelne Ideen fallen zu lassen, sich dafür mit den verbleibenden intensiver auseinander zu setzen. Auch die Verbindungen zwischen den Personen und zwischen den verschiedenen Schritten der Haupthandlung hätten mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt.

Der Roman ist letztlich nicht schlecht, bleibt jedoch leider hinter seinen Potential zurück.

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Veröffentlicht am 23.02.2020

So lustig kann die Kita sein

Ei, Ei, Ei! Die Maus hilft aus
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Die Maus liegt auf der faulen Haut als die Amsel ihr auf der Suche nach einem saftigen Wurm in den Schwanz pickt. Voll im Brüte-Stress klagt die Amsel der Maus ihr Leid. Spontan übernimmt die Maus die ...

Die Maus liegt auf der faulen Haut als die Amsel ihr auf der Suche nach einem saftigen Wurm in den Schwanz pickt. Voll im Brüte-Stress klagt die Amsel der Maus ihr Leid. Spontan übernimmt die Maus die Eier. Weil auch andere Vogelmamis einmal Zeit für sich benötigen, dauert es nicht lange bis eine richtige Vogel-Kita entsteht.

Die Texte sind auch für kleine Kinder gut zu verstehen und nicht zu lang. Vermutlich ist gerade deswegen die Geschichte interessant für sie. Mein Kind wollte zunächst lieber toben, anstatt sich eine Geschichte anzuhören. Ich las trotzdem. Mit jeder Seite rückte mein Kind dichter an mich heran, um alles mitzubekommen und nichts zu verpassen. Die Geschichte ist gerade so spannend, dass sie den Kindern keine Angst macht, gleichzeitig ihre Neugierde befriedigt.

Die Zeichnungen von Kathrin Schärer sind angenehm in natürlichen Farben gehalten. Alles wirkt, als wäre es mit viel Liebe und Hingabe mit Buntstiften gezeichnet worden. Die einzelnen Vogelarten sind realistisch abgebildet, lassen sich also in der Natur wieder erkennen. Es fehlt nicht an Niedlichkeit, wodurch sofort der Funke überspringt.

Insgesamt gibt es eine Menge zu entdecken. Somit wird es auch bei wiederholten Vorlesungen bestimmt nicht langweilig.

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Veröffentlicht am 06.02.2020

Interessanter Historischer Roman mit Schwächen

Quintus und der Feuerreiter
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Ich habe diesen 3. und letzten Teil der Serie „Quintus - Das Leben eines Hochbegabten“ gelesen, ohne die beiden Vorgängerbände zu kennen. Rückblickend kann ich das nicht empfehlen, da mir der Einstieg ...

Ich habe diesen 3. und letzten Teil der Serie „Quintus - Das Leben eines Hochbegabten“ gelesen, ohne die beiden Vorgängerbände zu kennen. Rückblickend kann ich das nicht empfehlen, da mir der Einstieg in den Roman sehr schwer gefallen ist. Es dauerte über 150 Seiten, bis ich mich einigermaßen zurechtfinden konnte. Ich war kurz davor aufzugeben, was mir eigentlich widerstrebt. Glücklicherweise habe ich dennoch durchgehalten und so die zwar mit Schwächen durchsetzte, aber doch sehr interessante Lektüre irgendwie genossen.

Gefallen hat mir die offensichtlich gute historische Recherche und in der zweiten Buchhälfte auch die Verbindung des Historischen mit der privaten Geschichte von Quintus Schneefahl. Besonders gemocht habe ich die Kapitel, die sich mit den angenommenen Mädchen und ihrer Förderung durch Quintus beschäftigen. Tragisch, weil irgendwie erschreckend und Angst einflößend, ist für mich persönlich die zufällige Gleichzeitigkeit meiner Lektüre mit der Ministerpräsidentenwahl von Thüringen im Februar 2020.

Nicht ganz so gut gefallen hat mir, der für den Einsteiger bzw. der zumindest für mich fehlende Rote Faden im 1. Drittel. Der Wechsel zwischen historischem Bericht und Schneefahls Privatleben erfolgte in diesem Abschnitt ungünstig für mein Leseverständnis. Immer, wenn ich dachte, „so langsam verstehe ich“, kam der Wechsel und ich war wieder raus. Im Verlauf nahm dieses Hemmnis ab, wodurch es mir besser gelang, der Geschichte zu folgen.
Interessant, aber doch auch merkwürdig oder besser gesagt ungewöhnlich fand ich die Realisierung der Liebesgeschichte aus der Sicht von Quintus, aus der Perspektive eines Mannes und den damit verbundenen Prioritäten und Schwerpunkten. Dabei habe ich das Rollenverständnis zu Zeiten der Weimarer Republik als glaubwürdig empfunden. Von der Persönlichkeit eines Hochbegabten hatte ich mir mehr Konfliktpotenzial erhofft. Aufgrund der Beschreibung des Romans hatte ich deutlich mehr Schwächen bezüglich seiner Sozialkompetenz erwartet.

Sprachlich kam ich gut zurecht mit dem Stil von Thomas Persdorf. Stutzig machten mich nur von Zeit zu Zeit auftretende Formulierungen wie, „... wie es eben damals üblich war ...“ oder „... des schon damals berühmten Berliner Zoos ...“. Damit kehrt Thomas Persdorf ins kurzzeitig ins heute zurück, obwohl der Leser gerade mitten in der Historie unterwegs ist. Gern verzeihe ich das etwas höhere Auftreten von Rechtschreibfehlern. Das passiert manchmal auch den großen Verlagen.

Trotz der aufgeführten Schwächen respektiere ich die Arbeit, die der Autor in diesen historischen Roman gesteckt hat. Es ist regelrecht zu spüren, mit welchem Ehrgeiz, mit welcher Leidenschaft und Engagement Thomas Persdorf ans Werk gegangen ist.

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Veröffentlicht am 27.01.2020

Wie wissen wir, dass wir wissen, was wir wissen

Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!
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Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, um das Buch von Carmen-Francesca Banciu zu bewerten. Es wird zwar als Roman bezeichnet und im Gesamtkontext fühlt sich das Gelesene auch irgendwie romanhaft ...

Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, um das Buch von Carmen-Francesca Banciu zu bewerten. Es wird zwar als Roman bezeichnet und im Gesamtkontext fühlt sich das Gelesene auch irgendwie romanhaft an, trotzdem erinnert die Aufbereitung des Textes eher an einen tiefgründigen, nachdenklichen Poetry-Slam. Dabei ist die Dichtkunst auf einem hohen Level unterwegs.
Kurz vor dem Ableben ihres Vaters lässt Maria-Maria die Vergangenheit mit ihren Eltern und deren Gefährten, Genossen und Geliebten, Revue passieren. Dabei reflektiert sie die eigene, von außen eingeschränkte Beziehung zu ihrem Vater. Unter dem Leitspruch,
„Erst kommt das Vaterland, die Partei
Die Arbeit, die Pflichten
Danach kommt die Familie“,
ist nicht viel Platz für die Tochter, die besser ein Sohn hätte sein sollen. Nur so ist auch die mangelhafte Würdigung der bisherigen Lebensleistung von Maria-Maria durch den Vater zu begreifen:
„Nichts kannst du, nichts wird aus dir
Niemand wird dich heiraten
Pflegte Vater mir früher zu sagen
Jetzt sagt Vater zu mir
Was kannst du, kannst du überhaupt etwas“
Maria-Maria sinniert hoch philosophisch über das Leben ihres Vaters mit Partei und Geliebten, hinterfragt die Wirkung dessen auf die Mutter und sich selbst. Zudem setzt sie sich mit dem Entfallen des Systems und der plötzlichen Bedeutungslosigkeit des Vaters für die Gesellschaft auseinander.
Für mich hat Carmen-Francesca Banciu das linientreue, sozialistische Leben mit seiner besonderen Leistungsorientierung sehr gut eingefangen. Die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs einhergehenden Ängste und Verluste stellt sie angemessen dar ohne zu glorifizieren. Dabei bringt sie auf den Punkt, was selten gewürdigt, vermutlich nicht einmal wahrgenommen wurde. Die Lebenswahrheit der Menschen war quasi über Nacht eine Neue.
Ich empfehle das Buch allen, die sich wirklich ein wenig mit sozialistischer Vergangenheit auseinandersetzen möchten, und bereit sind, sowohl auf Fließtext als auch fast ganz auf Satzzeichen zu verzichten.

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