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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.01.2024

Eindringlicher Rückblick

Lichtungen
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Da ich durch die Lektüre von „Die Unschärfe der Welt“ Iris Wolff noch in guter Erinnerung hatte, wollte ich selbstverständlich auch ihren neuen Roman lesen. „Lichtungen“ begleitet die seit Kindertagen ...

Da ich durch die Lektüre von „Die Unschärfe der Welt“ Iris Wolff noch in guter Erinnerung hatte, wollte ich selbstverständlich auch ihren neuen Roman lesen. „Lichtungen“ begleitet die seit Kindertagen bestehende Freundschaft zwischen Lev und Kato. An den beiden skizziert die Autorin die Herausforderungen des Lebens in Rumänien zu Zeiten Ceaușescus wie auch nach der Öffnung der sozialistischen Staaten. Die harte Lebenswirklichkeit der Diktatur wird abgelöst durch etwas Neues, das allerdings nicht weniger herausfordernd ist. Abwanderung Richtung Westen ist die Folge. So lichten sich nicht nur die Wälder, in denen Lev als Waldarbeiter tätig ist, sondern auch die umliegenden Dörfer, weil es kaum noch etwas gibt, das die Menschen in Rumänien hält.

Die Aufbereitung der Story hat mich fasziniert. Die Sprache der rückwärts erzählten Geschichte habe ich als eher reduziert empfunden. Doch gerade das Reduzierte und die recht großen Sprünge auf der Zeitachse ließen für mich einen besonderen Reiz entstehen. Sie schaffen Raum für eigene Gedanken und Interpretationen. In diesem Zusammenhang ist es bestimmt hilfreich, wenn man grob in der osteuropäischen Geschichte zu Hause ist, damit man die gesetzten Hinweise nicht verpasst. Obwohl Isis Wolffs Stil vom Standard abweicht, fiel es mir nicht schwer, ihr zu Folgen. Viele Erlebnisse von Lev und Kato konnte ich nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der emotionalen Ebene sehr gut nachvollziehen.

Iris Wolff hat mich mitgenommen in ihre Welt wie auf eine Reise. Am Ende kam es mir vor, als wäre ich selbst Teil der Geschichte gewesen.

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Veröffentlicht am 19.12.2023

Held und Antiheld zugleich

Kalmann und der schlafende Berg
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Zum zweiten Mal durfte ich dem selbsternannten Sheriff von Raufarhöfn, Kalmann, begegnen. Er ist ein unterschätzter Mann in der Blüte seines Lebens, der in einem Einkaufszentrum arbeitet. Seine Hauptaufgabe ...

Zum zweiten Mal durfte ich dem selbsternannten Sheriff von Raufarhöfn, Kalmann, begegnen. Er ist ein unterschätzter Mann in der Blüte seines Lebens, der in einem Einkaufszentrum arbeitet. Seine Hauptaufgabe ist das gleichmäßige Verteilen der Einkaufswagen auf dem Parkplatz. Doch ein zu schnelles Urteil sollte man sich nicht erlauben über diesen liebenswerten Charakter, auch wenn er selbst behauptet, es befände sich Fischsuppe in seinem Kopf oder die Räder in seinem Kopf liefen manchmal rückwärts.

Joachim B. Schmidt spielt mit den Lesenden, ihren Vorurteilen, ihrer Einstellung zum Normalsein. So beginnt der Roman fast alltäglich. Nachdem sein Großvater verstorben ist, muss Kalmann ins nächstgrößere Städtchen zu seiner Mutter ziehen. Gemeinsam erdulden sie die Beschwerlichkeiten der Pandemie, bis sich eines Tages sein amerikanischer Vater meldet und Kalmann nach Virginia einlädt. Ein Weilchen ist Alles heimelig und schön. Doch dann befördert ein „Familienausflug“ diesen liebenswürdigen Mann mitten in den Sturm auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 hinein. Ausweisung und Medienrummel bringen dann Einiges ins Rollen, so dass sich der Roman fast schon zu einem Krimi entwickelt. Durch Kalmann als Ich-Erzähler fühlt es sich allerdings nicht so an. Ich fieberte zwar mit, erlebte das ganze Geschehen wie unter Wasser oder wie in Zeitlupe. Teilweise wollte ich unserem Helden zurufen „Oh mein Gott, KALMANN, geh da weg!!!“

Es hat mir gefallen, wie der Autor Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit mit Überbleibseln früherer Geschichte verknüpft. Er setzt dadurch Impulse bei den Lesenden, macht aufmerksam auf mögliche Parallelen zum historischen Kontext. Kombiniert mit dem eher dörflichen Setting rund um Raufarhöfn mit der Melrakkaslétta und dem schlafenden Berg strahlt der Roman trotzdem eine unaufgeregte Ruhe aus. Das ist mir gut bekommen. Dabei verschleiert Joachim B. Schmidt die Tatsachen gar nicht, er verzichtet lediglich auf ein überbordendes Befeuern von Sensationsgelüsten.

Durch die sprachliche Gestaltung wirken Kalmann und die Bewohner von Raufarhöfn sehr authentisch. Kalmann‘s amerikanischen Familienmitgliedern hat der Autor eine englische Stimme gegeben. Sogar ein paar isländische Formulierungen finden sich im Roman. Dieser eingestreute Sprachmix war erfrischend für mich.

Insgesamt wieder ein angenehm lesbarer Roman mit toller Hauptfigur. Für ein vollständiges Verständnis würde ich die vorherige Lektüre des Vorgängers empfehlen.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Anstrengendes Lesevergnügen

Unsereins
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Ich habe schon lange keinen vergleichbar anstrengenden Roman mehr gelesen. Durch die Lektüre von Archipel wusste ich, dass der Stil von Inger-Maria Mahlke durchaus anspruchsvoll sein kann. In diesem Sinne ...

Ich habe schon lange keinen vergleichbar anstrengenden Roman mehr gelesen. Durch die Lektüre von Archipel wusste ich, dass der Stil von Inger-Maria Mahlke durchaus anspruchsvoll sein kann. In diesem Sinne hat sie sich hier noch übertroffen. Damit möchte ich den Roman nicht in ein schlechtes Licht rücken, sondern lediglich auf die erforderliche Zeit und Konzetration aufmerksam machen.

Ohne die Stadt Lübeck auch nur ein einziges Mal zu benennen, stellt sie als kleinster Staat des Deutschen Kaiserreichs das Hauptsetting der von 1890 bis 1906 dargestellten Geschichte der Familie Lindhorst dar. Die Familiengeschichte selbst wird sehr detailreich erzählt, die Familienmitglieder treten insbesondere auch aufgrund politischer Verflechtungen mit jeder Menge weiterer Personen in Kontakt. Wir haben es also mit einer hohen Anzahl an Charakteren zu tun, die fast ausschließlich durch ihr Handeln zum Leben erweckt werden. Ihre präzise Optik sowie ihre Gefühlswelt bleiben der Leserschaft weitestgehend verborgen. In diesem Kontext ist es schwierig, sich ein umfassendes Bild von den handelnden Personen zu machen, geschweige denn Nähe zu ihnen aufzubauen. Insgesamt waren es für meinen Geschmack auch zu viele Charaktere.

Obwohl sich der Roman überwiegend entlang des Zeitstrahls bewegt, sind die verschiedenen Zeitschienen nicht gut erkennbar. Es werden ungekennzeichnete Rückblicke eingestreut, die meinen Lesefluss gehemmt haben. Dadurch entstehen Längen, die eigentlich nicht notwendig wären. Denn was mir an „Unsereins“ gefällt, ist die vermittelte Atmosphäre, der Umgang der Leute miteinander, Eltern mit ihren Kindern, Politiker untereinander und mit ihren Angestellten. Interessant auch das Verhalten gegenüber Minderheiten. Es entsteht darüberhinaus ein Eindruck zum Leben seinerzeit an sich, wie beschwerlich es für manche Gesellschaftsschicht war. Amüsant habe ich die Verhaltensregeln in Liebesdingen empfunden. Insgesamt habe ich die Erzählweise ähnlich wahrgenommen wie Gespräche zwischen meinen Großeltern und deren Freunden, denen ich als kleines Kind beiwohnen durfte. Dieses Wecken von Erinnerungen gefällt mir.

Trotzdem kann ich den Roman nicht uneingeschränkt weiterempfehlen. Man muss sich schon sehr darauf einlassen und mehr Lesekapazität als gewohnt investieren.

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Veröffentlicht am 20.11.2023

Feminismus mal anders - so gut

Who Cares!
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Mirna Funk hält nichts von Quoten oder anderen Safe Spaces, sondern folgt in ihrer Denke eher dem altbekannten Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied!" Denn tatsächlich ist es so, dass Frauen von der ...

Mirna Funk hält nichts von Quoten oder anderen Safe Spaces, sondern folgt in ihrer Denke eher dem altbekannten Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied!" Denn tatsächlich ist es so, dass Frauen von der Gesetzgebung her die gleichen Rechte wie Männer haben. Frau muss diese Rechte nur ausleben. Klar ist das anstrengend und nicht immer nur schön, aber es lohnt sich, so ihr Tenor. Dabei besteht sie nicht darauf, dass nun jede Frau zwingend Karriere machen und möglichst viel Geld verdienen soll. Sie besteht lediglich darauf, dass Frau bewusste Entscheidungen trifft und diese dann auch selbst verantwortet.

In sechs Kapiteln, namentlich Karriere, Liebe, Sex, Geld, Kinder und Körper, reflektiert die Autorin eigene Erlebnisse, Fehlentscheidungen sowie Erfolge. Sie teilt ihre Erfahrungen und zeigt, wie man mit dem richtigen Mindset unabhängig durchs Leben geht. Ob das skizzierte Mindset wirklich allgemeingültig ist, kann ich nicht sagen, ich selbst folge der Argumentationskette von Mirna Funk ohne Ausnahme. Gefallen hat mir zudem ihr populärwissenschaftlicher Ansatz, der die intensiv recherchierten Sachlage in einem lockeren mit Beispielen unterlegten Ton präsentiert. So entsteht eine unterhaltsame Auseinandersetzung, obwohl die Autorin an mancher Stelle ganz schön hart mit der Damenwelt ins Gericht geht.

Am besten hat mir diese Passage ab Seite 105 gefallen: „Wir [Frauen] sind stark. Wir besitzen eigene, vom Mann und seinen Erwartungen an uns völlig getrennte, Willenskräfte und Handlungsspielräume. […] Wir sind autonome Subjekte, die selbst für ihr Glück sorgen und ihr Leben so gestalten, wie wir es für richtig halten, egal, was die „anderen“, also die Einzelteile einer Gesellschaft, von uns denken mögen. […] Die Paranoia, der andere wolle uns etwas Böses, würde uns bewerten, verhindere aktiv das eigene Glück, ist einem infantilen Narzissmus geschuldet, der die eigene Person ins Zentrum der Welt der anderen rückt, obwohl die anderen uns dort niemals verorten würden.“

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Veröffentlicht am 02.11.2023

Der rote Papst unter dem Naziregime

Lichtspiel
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Im Zeitalter des Stummfilms gehörte Georg Wilhelm Pabst, G. W. Papst, zu den den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik. Ihm widmet der hoch geschätzte Daniel Kehlmann seinen aktuellen Roman „Lichtspiel“. ...

Im Zeitalter des Stummfilms gehörte Georg Wilhelm Pabst, G. W. Papst, zu den den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik. Ihm widmet der hoch geschätzte Daniel Kehlmann seinen aktuellen Roman „Lichtspiel“. Obwohl mir die vielschichtige Betrachtung des Filmemachers Papst grundsätzlich gut gefallen hat, so habe ich doch noch etwas mehr von Kehlmann erwartet.

Überzeugen konnte mich der Autor hinsichtlich der persönlichen Entwicklung von G. W. Papst. Zu Beginn des Romans ist er der erfolgreiche, zwar mit einem Dämpfer in den USA versehene, aber immer noch selbstbewusste Regisseur. Schließlich hatte er dermaßen avantgardistische Filme inszeniert, dass diese zumindest szenenweise zensiert werden mussten. Als er dann aufgrund einer Verkettung von unglücklichen Ereignissen das Reich nicht mehr verlassen kann und zu Propagandafilmen gedrängt wird, merkt man sukzessive, wie der sozialkritische Rebell in ihm langsam, aber sicher stirbt. Als gegensätzliche Strömung lässt sich ein Verfall des Skrupels beobachten. Am Ende ist jedes Mittel und Opfer recht, das einem ausperfektionierten Film dient.

Gewöhnungsbedürftig habe ich die recht hohe Anzahl an Erzählperspektiven gepaart mit den teilweise ordentlichen Zeitsprüngen empfunden. Beim Übergang in eine neue Perspektive bleibt die Identität des jeweils aktuellen Erzählers recht lange verborgen. So erschließt sich den Lesenden oft erst rückwirkend ein ganzheitliches Bild. Die überwiegende Betrachtung des Protagonisten durch Dritte lässt G. W. Papst zeitweise in den Hintergrund seiner eigenen Geschichte geraten. Er wirkt dadurch unnahbar und wie ein Nerd seiner Zeit. Das entspricht wahrscheinlich sogar der Realität, lässt die Figur allerdings auch überdurchschnittlich unattraktiv und mürrisch erscheinen. Darüberhinaus sind es für mich insgesamt zu viele Charaktere, die im Roman ihren Auftritt bekommen. Die Allermeisten begleiten uns nur kurz, sind nur für die jeweilige Szenerie relevant. Das macht das Lesen dieses sprachlich leichtfüßigen Werkes phasenweise doch irgendwie anstrengend und lässt Längen entstehen.

Sensationell sind im Gegenzug die medial angepriesenen ironischen Spitzen, die Kehlmann in Form von Situationskomik gekonnt ausspielt. Der Lesezirkel, dem Trude Papst beitritt, der nur die Werke des Alfred Karrasch bewundert, sei nur ein Beispiel. Sämtliche derart gestaltete Kapitel habe ich mit viel Freude gelesen, weil sie viel mehr zu weiterführenden Gedanken, auch zum hier und jetzt, anregen, als die Geschichte an sich. Sie gleichen die ein oder andere Schwäche dieses künstlerisch, literarischen Puzzlespiels aus, so das die Lektüre insgesamt als attraktiv bezeichnet werden kann.

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