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Veröffentlicht am 27.10.2022

Ein wahrer und wahrhaftiger Ausnahmeroman

Die Königin von Troisdorf
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„Oma Lena ist kleiner als die meisten Menschen, doch sie schafft es, selbst auf Menschen herabzusehen, die drei Köpfe größer sind als sie.“

Troisdorf in den 60ern. Die Oma: unangefochtene Herrin im Haus, ...

„Oma Lena ist kleiner als die meisten Menschen, doch sie schafft es, selbst auf Menschen herabzusehen, die drei Köpfe größer sind als sie.“

Troisdorf in den 60ern. Die Oma: unangefochtene Herrin im Haus, Matriarchin, die titelgebende „Königin von Troisdorf“. Die Mutter: stets überarbeitet, stets auf dem Sprung, aufgerieben im familieneigenen Fotoatelier, das ihr und der gesamten Familie einen stetig wachsenden Wohlstand beschert (was sich indes nicht zwangsläufig in komfortablen Lebensumständen niederschlägt). Der Vater: ein ewig Gestriger, der seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter ungesunden Mengen an Alkohol und Nikotin vergräbt. Die Tante: kinder- und anspruchslos. Der Onkel: nun ja, der ist auch noch da. Und dazwischen der kleine Andreas: einziges Kind, einziger Enkel. Doch das bedeutet keineswegs, dass ihm das in irgendeiner Weise eine Vorzugsstellung in dieser wortkargen und gefühlsarmen Familie einbrächte.

Der damaligen Devise folgend, Kinder solle man sehen, aber nicht hören, betrachtet er mit großen Augen die Erwachsenen um sich herum, beobachtet ihr bisweilen irritierendes Gebaren, versucht, möglichst nichtaufzufallen. Zuwendung, Zuspruch, Zärtlichkeit sind keine Werte, die in dieser Familie – die man zweifelsohne als exemplarisch für jene Zeit betrachten darf – gelebt würden. Dazu ist jede und jeder Einzelne zu sehr damit beschäftigt, die eigene, individuelle Versehrtheit zu leugnen. Und doch erlebt Andreas immer wieder wunderbare Augenblicke in dieser gleichgültigen Welt, Momente unverhoffter Freude, Sonnenstrahlen im Alltagsgrau, die ob ihrer Seltenheit kostbar sind – und unvergesslich.

„Die Königin von Troisdorf“ ist eines meiner diesjährigen Lesehighlights. In seinem Debütroman entfaltet Andreas Fischer nicht nur eine drei Generationen umfassende Familiengeschichte, sondern zugleich ein Gesellschaftspanorama des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Erzählstil ist nicht linear und chronologisch, sondern assoziativ: Erinnerungen eines sieben-, zwölf- oder zehnjährigen Jungen verzahnen sich mit fiktionalisierten Erzählungen über die Familie sowie Abschriften erhaltener Dokumente, Briefe, Ansichtskarten und Feldpost. Dabei gelingt es dem Autor meisterhaft, die einzelnen Passagen zu einem wirkungsvollen Gesamtbild zu montieren: einfühlsam, aber nicht sentimental, melancholisch, aber nicht larmoyant, ungeschönt, aber nicht erbarmungslos. Kurzum: ein wahrer und wahrhaftiger Ausnahmeroman!

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Veröffentlicht am 07.09.2022

Verstörend und zugleich brillant

Die Odyssee
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"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."

Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop ...

"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."

Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop irgendwelchen Tinnef, mal hat sie die Aufsicht am Pool, mal lackiert sie den Gästen im Beautysalon die Nägel. Wenn Ingrid zwischendurch Landgang hat, endet der regelmäßig in einem kapitalen Besäufnis. Und wenn sie sich nach Geborgenheit sehnt, spielt sie mit ihren Lieblingskolleg*innen Familie. So weit, so eintönig.

Dann jedoch wird Ingrid von Keith, seines Zeichens nicht nur Kapitän des Schiffs, sondern auch eine Art selbsternannter Guru, für ein befremdliches Mentoringprogramm ausgewählt (um nicht zu sagen: ausERwählt). Seine Bedingung: Ingrid muss sich intensiv mit ihrer Vergangenheit, mit allen Ereignissen, die sie letztlich auf dieses Schiff gespült haben, auseinandersetzen. Und das ist nicht nur überaus bizarr, sondern für Ingrid auch äußerst schmerzhaft (nicht nur in seelischer Hinsicht). Je weiter das fragwürdige Programm fortschreitet, umso mehr bröckelt Ingrids eh nicht besonders stabile Fassade – und merkwürdigerweise auch die des Schiffes.

Selten hat mich ein Roman so fasziniert und zugleich verstört wie dieser, und das aus folgendem Grund:

Natürlich lässt sich „Die Odyssee“ (aus dem Englischen von Eva Bonné) als genau das lesen, was ich beschrieben habe (bzw. was auch der Klappentext in etwa wiedergibt).

Doch mich ließ während der gesamten Lektüre das Gefühl nicht los, dass es so simpel nicht ist bzw. nicht sein kann. Wird hier wirklich nur von einer einsamen, verlorenen Frau, die auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, erzählt? Ist Keith wirklich nur ein Kapitän mit abwegigen Personalentwicklungsmaßnahmen? Und ist das Kreuzfahrtschiff wirklich nur ein Kreuzfahrschiff und die Reise nur eine Reise? Oder ist all das als Parabel zu sehen, gar als symbolische Verbrämung von – ja, von was eigentlich? (Einer Therapie? Eines Traums? Einer Vision? Eines Drogentrips?)

Für mich ein absoluter Ausnahmeroman und ein Highlight; allerdings könnte ich mir vorstellen, dass das Buch nicht jedermanns Geschmack trifft.

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Veröffentlicht am 05.09.2022

Ein bemerkenswertes Debüt

Das neunte Gemälde
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„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ...

„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ein Abenteuer ihn erwartet. Es geht um ein geheimnisvolles Gemälde, dessen Rückgabe Lomberg belgeiten soll. Doch bevor der Kunsthistoriker sich mit den Einzelheiten vertraut machen kann, liegt Dupret tot in seinem Hotelzimmer und Lomber gerät ins Visier der Ermittlerin Sina Röhm. Lomberg beginnt, auf eigene Faust die rätselhaften Umstände zu ergründen, die ihn immer weiter in die Vergangenheit führen – und immer tiefer in die Geschichte seiner eigenen Familie …

Bonn, Paris, Barcelona, Luxemburg; 1943, 1966, 2016: Das sind nur einige Handlungsorte und -zeiten dieses rasanten Kunstkrimis, der den fulminanten Auftakt einer neuen Reihe um den charismatischen Kunstkenner Lennard Lomberg bildet.

Was mir persönlich besonders gefallen hat: Wenngleich die Handlung fiktiv ist, finden sich doch zahlreiche historische Verweise, die mein Wissen nicht nur während der – überaus spannenden und kurzweiligen – Lektüre bereichert haben. Ich habe mir so viele Stellen markiert, so vieles gegoogelt, nachgeschlagen, weiterrecherchiert wie schon lange nicht mehr (zumindest nicht bei einem fiktiven Roman).

Fazit: Ein nach wie vor aktuelles und brisantes Sujet, verpackt in eine dynamische Story mit charmant-lebendigen Figuren. Große Leseempfehlung an alle, die Krimis oder Kunst mögen, riesengroße Leseempfehlung an alle, die Krimis UND Kunst mögen.

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Veröffentlicht am 07.07.2022

Beklemmend, verstörend, meisterhaft

Sie
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„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges ...

„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges Denken, ihre Fantasie und Kreativität, ihre Individualität und ihre Erinnerungen bewahren wollen: Künstler, Musiker, Literaten. Aber auch Liebende. Oder Alleinstehende.

„Sie“ – das ist eine namen- und gesichtslose Masse, und es werden immer mehr. Sie kommen lautlos, dringen in die Häuser aller Nonkonformisten ein, zerstören Kunstwerke, entfernen Bücher. Wer trotz dieser Warnungen an seinem künstlerischen Tun und Leben festhält, wird schmerzhaft bestraft. Malerinnen werden geblendet, Musikern wird das Gehör genommen. Wer Emotionen, Gefühle, Sensibilität zeigt, wird „geleert“, eingepfercht in fensterlose Zufluchtsheime, bis auch der letzte Funke Menschlichkeit erloschen ist. „Und wenn ihnen Schmerz und Gefühle restlos entzogen sind?“ – „Dann werden sie entlassen. Geheilt – von ihrer Identität.“

Kay Dicks „Sie“ (aus dem Englischen von Kathrin Razum) ist bereits 1977 erschienen und galt lange als verschollen. Umso erfreulicher ist es, dass der wiederentdeckte Roman nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Kay Dick schildert darin eine Dystopie, deren subtiles Grauen mit jeder Seite, mit jeder Zeile in das eigene Denken und Fühlen einsickert und bei mir geradezu körperliche Symptome ausgelöst hat: Selten habe ich während einer Lektüre ein solches Unbehagen, eine solche Beklemmung verspürt. In lose zusammenhängenden Szenen entfaltet sich eine Welt, in der letztlich alles, was den Menschen zu einem Menschen macht, ebenso gründlich wie unerbittlich ausgemerzt wird: ein Buch, das, wie Eva Menasse in ihrem ebenso lesenswerten Nachwort schreibt, „wie ein spitziger, unbehaglicher Kieselstein, der Stein im Schuh oder Kopf seiner Leser“ drückt und sticht und kneift – und das auf meisterhafte Weise.

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Veröffentlicht am 05.07.2022

Wie gut kennst du deine Freunde?

Freunde. Für immer.
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Im College waren sie unzertrennlich: Jonathan, Derrick, Keith, Stephanie, Maeve und Alice. Doch dann nahm Alice sich das Leben und nichts war mehr wie zuvor.
Zehn Jahre später. Die verbliebenen vier treffen ...

Im College waren sie unzertrennlich: Jonathan, Derrick, Keith, Stephanie, Maeve und Alice. Doch dann nahm Alice sich das Leben und nichts war mehr wie zuvor.
Zehn Jahre später. Die verbliebenen vier treffen sich in Jonathan geschmackvollem Wochenendhaus in den Catskills, um seinen Junggesellenabschied zu feiern. Was als fröhlicher Ausflug geplant war, scheint von Anfang an unter keinem guten Stern zu stehen: Drogen, Geldsorgen, Ärger mit den Einheimischen, denen die gut betuchten Ferienhausbesitzer mehr als nur ein Dorn im Auge sind. Als dann auch noch Jonathans Verlobter unvermutet auftaucht, Derrick und Keith verschwinden, und eine Leiche mit zertrümmertem Gesicht gefunden wird, gerät das Wochenende vollends zum Alptraum – und das nicht nur für die verbliebenen Freunde, sondern auch für Detective Julia Scutt, die den Todesfall untersucht. Denn der ähnelt auffällig dem Mord an ihrer Schwester, ein Ereignis, das sie seit ihrer Kindheit nicht vergessen kann. Denn der Mörder wurde nie gefunden …

Ich muss gestehen, ich habe ein ausgesprochenes Faible für Geschichten, in denen Freunde nach langer Zeit wieder aufeinandertreffen. Alle haben sich in irgendeiner Weise weiterentwickelt und sind – zumindest in dieser speziellen Konstellation – doch dieselben geblieben. (Ein Phänomen, das sich auf Klassentreffen immer wieder aufs Neue beobachten lässt ) Mehr als bei einem klassischen „Whodunit“ oder „What happened?“ spielen die verschiedenen Persönlichkeitsfacetten der Figuren eine besondere Rolle, ihr früheres Ich ist genauso präsent wie ihr aktuelles. Das mochte ich beispielsweise bei Richard Russos „Jenseits der Erwartungen“ oder in Allie Reynolds‘ „Frostgrab“ sehr. Und „Freunde. Für immer.“ (übersetzt von Kristina Lake-Zapp) bildet hier keine Ausnahme. Man ahnt während der Lektüre, dass mindestens eine Person nicht die ist, die zu sein sie vorgibt, dass überhaupt vieles nicht so ist, wie es scheint – und dass es Verwicklungen gibt, von denen niemand auch nur ansatzweise etwas geahnt hat. Sehr spannend!

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