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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.11.2021

Ein in vielerlei Hinsicht phantastisches Leseerlebnis

Die nicht sterben
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„Nun will ich Ihnen aber die blutrünstige Geschichte erzählen, die sich in B. zugetragen hat; ich rufe ihn als Zeugen auf, meinen Vorfahren Vlad den Pfähler, dessen Blut in meinen Adern fließt.“ (33)

Es ...

„Nun will ich Ihnen aber die blutrünstige Geschichte erzählen, die sich in B. zugetragen hat; ich rufe ihn als Zeugen auf, meinen Vorfahren Vlad den Pfähler, dessen Blut in meinen Adern fließt.“ (33)

Es hat sich viel, sehr viel verändert, seit die namenlose Ich-Erzählerin das letzte Mal in B. gewesen ist, jenem kleinen Ferienort bei Transsylvanien, in der sie als Kind ihre Sommerferien verbrachte. Was ihr einst malerisch und idyllisch erschien, ist nun heruntergekommen, vernachlässigt, irgendwie geschrumpft. Die meisten jungen Menschen haben das Städtchen verlassen, suchen ihr Glück in verheißungsvolleren Ländern Europas.
Doch plötzlich rückt B. in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit: In der Familiengruft der Erzählerin wird das Grab Vlads des Pfählers entdeckt, jenes sagenumwobenen Fürsten – und ihres Vorfahren, darauf ein grausam zugerichteter Leichnam. Der ebenso findige wie windige Bürgermeister wittert die Chance, damit B. zu seinem alten Glanz zu verhelfen: Ein „Dracula-Park“ soll neuen Aufschwung in die Gemeinde bringen. Während er nach Investoren sucht und in fiebrige Geschäftigkeit verfällt, geht in der Erzählerin eine merkwürdige Veränderung vor sich, die mit einem bizarren nächtlichen Besuch ihren Anfang nimmt. Sollte die Vampirlegende ihres Ahnen doch mehr sein als nur eine gespenstische Fantasie?

Dana Grigorceas „Die nicht sterben“ bietet ein außergewöhnliches Leseerlebnis. Meisterhaft verwebt die Autorin die Legenden einer längst vergangenen Zeit mit der jüngeren Geschichte Rumäniens und deren Folgen für die Gegenwart. Durch die poetische Sprache, den suggestive Erzählstil und die Vermischung unterschiedlicher Zeit- und Wahrnehmungsebenen scheint die Erzählung der Realität enthoben zu sein. Sie entzieht sich jeder Zeit- und Genrezuschreibung, ist teils Phantasmagorie und erinnert damit im besten Sinne an klassische Schauergeschichten, in denen unvermutet das Unerklärliche die Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt; gleichzeitig bildet sie das nur allzu realistische gesellschaftliche Porträt eines postkommunistischen Staates mit seiner ganz eigenen Form des „Vampirismus“ ab.

Ganz große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 08.10.2021

Nostalgisch, ohne zu verklären

Die Kinder hören Pink Floyd
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„Die Schwester sagt: ‚Wenn du konzentriert hochschaust an den Himmel, erscheint dort die Pyramide von Dark Side Of The Moon.‘“ (Pos. 550)

Samstags wird das Auto gewaschen und abends die „ZDF-Hitparade“ ...

„Die Schwester sagt: ‚Wenn du konzentriert hochschaust an den Himmel, erscheint dort die Pyramide von Dark Side Of The Moon.‘“ (Pos. 550)

Samstags wird das Auto gewaschen und abends die „ZDF-Hitparade“ geschaut. Wenn man essen geht, dann in den Balkan-Grill, ansonsten erfreut man sich an der effizienten Einbauküche. Gelegentlich fährt man nach Düsseldorf, geht zu Feinkost Münstermann und kauft Brot bei Hinkel – und manchmal, ja, manchmal auch „Vanilletee aus dem indisch-afghanischen Laden auf der Ratinger Straße“: Es sind die Siebziger Jahre in einer Düsseldorfer Vorstadt, der Ort und die Zeit, in der der 10-jährige Protagonist und Ich-Erzähler seine Kindheit verbringt.
Wer nun je
doch einen nostalgisch-seichten Ausflug in eine vermeintlich gute, alte Zeit befürchtet, darf seine Bedenken getrost vergessen. Ja, ein Hauch von Nostalgie lässt sich nicht abstreiten – insbesondere, wenn man selbst in etwa jener Zeit in einem Düsseldorfer Vorort aufgewachsen ist –, doch von Seichtheit kann dankenswerterweise keine Rede sein. Denn Alexander Gorkows Siebziger sind, durch die Augen seines Protagonisten betrachtet, eben nicht nur der Ort gepflegter Vorgartenidylle und die Zeit, da die Philipshalle noch Philipshalle hieß und die Mata-Hari-Passage mehr war als eine Erinnerung. Es ist zugleich die Ära unverhohlener Altnazis, Ohrfeigen verteilender Pfarrer, schikanierender Mitschüler und Contergan-geschädigter Kinder. Es ist ein von Monstern bevölkerter Ort, und die sind überall: unterm Bett, im Keller, einige von ihnen sind auch im Dorf unterwegs. Doch Gott sei Dank gibt es gute Freunde, eine großartige große Schwester – und die Alben von Pink Floyd.

„Die Kinder hören Pink Floyd“ ist eine sensible und melancholische, bisweilen heitere, aber nie idealisierende Hommage an eine vergangene Epoche. Eine große Leseempfehlung an alle, eine besondere Leseempfehlung an jene, die selbst Kinder der Siebziger sind – und ein Mustread für alle, die diese Zeit in und um Düsseldorf erlebt haben.

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Veröffentlicht am 07.10.2021

Solide Unterhaltung

Wer das Feuer entfacht - Keine Tat ist je vergessen
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Ein brutal ermordeter junger Mann auf einem Hausboot.
Eine junge Frau, die selbiges sichtlich verstört verlässt.
Eine verbitterte Bootsnachbarin, die jedwedes Geschehen akribisch beäugt.

Und eine auffallend ...

Ein brutal ermordeter junger Mann auf einem Hausboot.
Eine junge Frau, die selbiges sichtlich verstört verlässt.
Eine verbitterte Bootsnachbarin, die jedwedes Geschehen akribisch beäugt.

Und eine auffallend teilnahmslos wirkende Tante.
Das sind die Hauptfiguren in Paula Hawkins‘ frisch erschienenem Roman „Wer das Feuer entfacht“. Für die Polizei steht schnell fest, wer die Schuldige ist: Laura, die junge Frau, die die Nacht mit dem Mordopfer verbracht hat. Laura, die Unzuverlässige, die Sprunghafte, die ihr Leben nicht in den Griff bekommt und Schwierigkeiten förmlich anzieht – und die ohne jeden Zweifel etwas verschweigt. Doch so einfach ist die Gemengelage dann doch nicht, denn nur wenige Monate vor dem Mord ist die Mutter des Getöteten bei einem Treppensturz ums Leben gekommen – ein Zufall? Und ist Schwester, die Tante des Toten, wirklich „nur“ eine trauernde Hinterbliebene? Und erst diese etwas verschrobene Frau vom Hausboot nebenan: tatsächlich eine Unbeteiligte, allenfalls eine mehr oder weniger zuverlässige Zeugin, die ein Einsiedlerinnendasein führt und mit allen und allem nichts zu tun hat? Eines jedenfalls steht fest: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Nach ihrem grandiosen Bestseller „Girl on the Train“ und dem aus meiner Sicht deutlich schwächeren „Into the Water“ hat Paula Hawkins mit „Wer das Feuer entfacht“ (Deutsch von Christoph Göhler) einen Spannungsroman geschrieben, der in erster Linie von seinen ebenso unterschiedlichen wie undurchsichtigen Frauenfiguren lebt. Seite um Seite, Kapitel um Kapitel enthüllen sich unvermutete Hintergründe und Verbindungen, dramatische und traumatische Vergangenheitserlebnisse, die die Frauen in einem immer etwas anderen Licht erscheinen lassen. Mein Fazit: ein solider Krimi, der dankenswerterweise auf Schwarz-weiß-Malerei verzichtet und mit überraschend tiefgründigen Figuren aufwartet. Perfekt für ein verregnetes Herbstwochenende auf der Couch.

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Atmosphärisch, spannend, horizonterweiternd

Eis. Kalt. Tot.
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Also, so hat Jesper sich seinen Start in Kopenhagen nicht vorgestellt, wahrlich nicht. Es ist arschkalt, die Großstadt unübersichtlich, die neu bezogene Wohnung karg und der Warmwasserboiler kaputt. Seine ...

Also, so hat Jesper sich seinen Start in Kopenhagen nicht vorgestellt, wahrlich nicht. Es ist arschkalt, die Großstadt unübersichtlich, die neu bezogene Wohnung karg und der Warmwasserboiler kaputt. Seine Kolleginnen und Kollegen bei der Kopenhagener Mordkommission reagieren gelinde gesagt verhalten auf den Neuen aus der Provinz, und dann wird er zu einem Mordfall hinzugezogen, der so rätselhaft wie bestialisch ist: Der verstümmelte Leichnam ist einem sogenannten Tupilak nachempfunden, einer chimärenartigen Sagengestalt der grönländischen Mythologie. Gemeinsam mit der faszinierenden Super-Recognizerin Marit und der kratzbürstigen Ermittlungsleiterin Kirsten versucht Jesper, den Mord aufzuklären, der indes nicht der einzige seiner Art bleiben soll. Und der schier ungeahnte Dimensionen erahnen lässt – Dimensionen, die sich als geradezu lebensgefährlich erweisen.

Anne Nørdbys Thriller „Eis. Kalt. Tot“ bietet nicht nur beste und vor allem spannende Unterhaltung, sondern überdies einen echten Erkenntnisgewinn. Wer – wie ich – bislang nicht den Hauch einer Ahnung von der faszinierenden Mythologie der Inuit hatte, wird – ebenfalls wie ich – am Ende der Lektüre seinen Wissenshorizont erweitert haben. Was mir ebenso gut gefallen hat, sind die Atmosphäre sowie die Figurenzeichnung: Das eisig kalte Kopenhagen dringt durch jede Zeile und lässt unabhängig von der tatsächlichen Temperatur bibbern und frösteln. Die Figuren sind auf angenehme Art sperrig und facettenreich. Sie wollen nicht „gefallen“, sie sind nicht eindimensional. Und sie sind – auch das ist hervorzuheben – im Erzählkontext quasi gleichwertig: Es gibt nicht „die eine“ Hauptfigur, die von Nebenfiguren flankiert wird. Vielmehr gibt Anne Nørdby jedem und jeder Einzelnen Raum, lässt sie gleichsam auf der Bühne mal in den Vorder-, dann wieder in den Hintergrund treten.

Ein gelungener Thriller, den ich sehr gern weiterempfehle! (Wobei ich anregen möchte, mit der Lektüre vielleicht bis zum Winter zu warten. Dann dürfte der atmosphärische Effekt noch deutlicher zutage treten.)

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Zart und berührend, poetisch und komisch

I get a bird
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Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse ...

Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse siebelstellige Nummer anruft, Janas Agenda. Wie kann jemand seine Agenda, dieses „Sammelbuch aller Nachlässigkeiten und Ideen“, in einer Telefonzelle vergessen?! Aufgrund eines unvorhergesehenen Vorkommnisses schickt er Jana die Agenda erst Monate später – für Jana indes zu spät – zu.
Aus diesem gewissenhaften Akt eines ehrlichen Finders entspinnt sich eine Korrespondenz, ja: Brieffreundschaft zwischen den beiden Fremden, die schon nach kurzer Zeit gar nicht mehr so fremd sind. Die Distanz und das Medium erlauben Jana und Johan einen Raum, in dem beide – jede/r auf seine Art versehrt – sich auf ungeahnte Weise öffnen und ihre Geschichte erzählen können.

„Wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen! Jede Familie wird von ihren Geschichten, Legenden zusammengehalten, wie ein Mauerwerk vom Efeu, auch wenn es im Innern völlig marode ist […].“ (Pos. 454)

Zwei Jahre lang schrieben sich Anne von Canal und Heikko Deutschmann in den Rollen der Jana und des Johan. Die einzige initiale Absprache war der Anfang: Er findet etwas, was sie verloren hat. Dabei herausgekommen ist ein zarter und berührender, poetischer und bisweilen auch komischer Briefroman zweier Menschen, die ihre Verletzungen teils sichtbar, teils unsichtbar tragen und ertragen, die sich irgendwie am Leben abschinden und strampeln, ohne die Hoffnung zu verlieren oder gar unterzugehen. Eine Art „Gut gegen Nordwind“ für Erwachsene. Große Leseempfehlung!

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