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Veröffentlicht am 05.09.2022

Ein bemerkenswertes Debüt

Das neunte Gemälde
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„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ...

„Guten Tag, mein Name ist Dupret. Gilles Dupret […] Spreche ich mit Dr. Lennard Lomberg?“

Als Lennard Lomberg, anerkannter Experte für NS-Beutekunst, diesen Anruf entgegennimmt, ahnt er nicht, was für ein Abenteuer ihn erwartet. Es geht um ein geheimnisvolles Gemälde, dessen Rückgabe Lomberg belgeiten soll. Doch bevor der Kunsthistoriker sich mit den Einzelheiten vertraut machen kann, liegt Dupret tot in seinem Hotelzimmer und Lomber gerät ins Visier der Ermittlerin Sina Röhm. Lomberg beginnt, auf eigene Faust die rätselhaften Umstände zu ergründen, die ihn immer weiter in die Vergangenheit führen – und immer tiefer in die Geschichte seiner eigenen Familie …

Bonn, Paris, Barcelona, Luxemburg; 1943, 1966, 2016: Das sind nur einige Handlungsorte und -zeiten dieses rasanten Kunstkrimis, der den fulminanten Auftakt einer neuen Reihe um den charismatischen Kunstkenner Lennard Lomberg bildet.

Was mir persönlich besonders gefallen hat: Wenngleich die Handlung fiktiv ist, finden sich doch zahlreiche historische Verweise, die mein Wissen nicht nur während der – überaus spannenden und kurzweiligen – Lektüre bereichert haben. Ich habe mir so viele Stellen markiert, so vieles gegoogelt, nachgeschlagen, weiterrecherchiert wie schon lange nicht mehr (zumindest nicht bei einem fiktiven Roman).

Fazit: Ein nach wie vor aktuelles und brisantes Sujet, verpackt in eine dynamische Story mit charmant-lebendigen Figuren. Große Leseempfehlung an alle, die Krimis oder Kunst mögen, riesengroße Leseempfehlung an alle, die Krimis UND Kunst mögen.

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Veröffentlicht am 07.07.2022

Beklemmend, verstörend, meisterhaft

Sie
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„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges ...

„Wir verkörpern eine Gefahr. Nonkonformismus ist eine Krankheit. Wir sind eine potenzielle Ansteckungsquelle.“

„Wir“ – das sind alle jene, die sich nicht dem Konformismus unterwerfen, die sich ihr eigenständiges Denken, ihre Fantasie und Kreativität, ihre Individualität und ihre Erinnerungen bewahren wollen: Künstler, Musiker, Literaten. Aber auch Liebende. Oder Alleinstehende.

„Sie“ – das ist eine namen- und gesichtslose Masse, und es werden immer mehr. Sie kommen lautlos, dringen in die Häuser aller Nonkonformisten ein, zerstören Kunstwerke, entfernen Bücher. Wer trotz dieser Warnungen an seinem künstlerischen Tun und Leben festhält, wird schmerzhaft bestraft. Malerinnen werden geblendet, Musikern wird das Gehör genommen. Wer Emotionen, Gefühle, Sensibilität zeigt, wird „geleert“, eingepfercht in fensterlose Zufluchtsheime, bis auch der letzte Funke Menschlichkeit erloschen ist. „Und wenn ihnen Schmerz und Gefühle restlos entzogen sind?“ – „Dann werden sie entlassen. Geheilt – von ihrer Identität.“

Kay Dicks „Sie“ (aus dem Englischen von Kathrin Razum) ist bereits 1977 erschienen und galt lange als verschollen. Umso erfreulicher ist es, dass der wiederentdeckte Roman nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Kay Dick schildert darin eine Dystopie, deren subtiles Grauen mit jeder Seite, mit jeder Zeile in das eigene Denken und Fühlen einsickert und bei mir geradezu körperliche Symptome ausgelöst hat: Selten habe ich während einer Lektüre ein solches Unbehagen, eine solche Beklemmung verspürt. In lose zusammenhängenden Szenen entfaltet sich eine Welt, in der letztlich alles, was den Menschen zu einem Menschen macht, ebenso gründlich wie unerbittlich ausgemerzt wird: ein Buch, das, wie Eva Menasse in ihrem ebenso lesenswerten Nachwort schreibt, „wie ein spitziger, unbehaglicher Kieselstein, der Stein im Schuh oder Kopf seiner Leser“ drückt und sticht und kneift – und das auf meisterhafte Weise.

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Veröffentlicht am 05.07.2022

Wie gut kennst du deine Freunde?

Freunde. Für immer.
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Im College waren sie unzertrennlich: Jonathan, Derrick, Keith, Stephanie, Maeve und Alice. Doch dann nahm Alice sich das Leben und nichts war mehr wie zuvor.
Zehn Jahre später. Die verbliebenen vier treffen ...

Im College waren sie unzertrennlich: Jonathan, Derrick, Keith, Stephanie, Maeve und Alice. Doch dann nahm Alice sich das Leben und nichts war mehr wie zuvor.
Zehn Jahre später. Die verbliebenen vier treffen sich in Jonathan geschmackvollem Wochenendhaus in den Catskills, um seinen Junggesellenabschied zu feiern. Was als fröhlicher Ausflug geplant war, scheint von Anfang an unter keinem guten Stern zu stehen: Drogen, Geldsorgen, Ärger mit den Einheimischen, denen die gut betuchten Ferienhausbesitzer mehr als nur ein Dorn im Auge sind. Als dann auch noch Jonathans Verlobter unvermutet auftaucht, Derrick und Keith verschwinden, und eine Leiche mit zertrümmertem Gesicht gefunden wird, gerät das Wochenende vollends zum Alptraum – und das nicht nur für die verbliebenen Freunde, sondern auch für Detective Julia Scutt, die den Todesfall untersucht. Denn der ähnelt auffällig dem Mord an ihrer Schwester, ein Ereignis, das sie seit ihrer Kindheit nicht vergessen kann. Denn der Mörder wurde nie gefunden …

Ich muss gestehen, ich habe ein ausgesprochenes Faible für Geschichten, in denen Freunde nach langer Zeit wieder aufeinandertreffen. Alle haben sich in irgendeiner Weise weiterentwickelt und sind – zumindest in dieser speziellen Konstellation – doch dieselben geblieben. (Ein Phänomen, das sich auf Klassentreffen immer wieder aufs Neue beobachten lässt ) Mehr als bei einem klassischen „Whodunit“ oder „What happened?“ spielen die verschiedenen Persönlichkeitsfacetten der Figuren eine besondere Rolle, ihr früheres Ich ist genauso präsent wie ihr aktuelles. Das mochte ich beispielsweise bei Richard Russos „Jenseits der Erwartungen“ oder in Allie Reynolds‘ „Frostgrab“ sehr. Und „Freunde. Für immer.“ (übersetzt von Kristina Lake-Zapp) bildet hier keine Ausnahme. Man ahnt während der Lektüre, dass mindestens eine Person nicht die ist, die zu sein sie vorgibt, dass überhaupt vieles nicht so ist, wie es scheint – und dass es Verwicklungen gibt, von denen niemand auch nur ansatzweise etwas geahnt hat. Sehr spannend!

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Veröffentlicht am 13.05.2022

Süffisant und subtil unheilvoll

Inmitten der Nacht
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Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht ...

Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht – doch dein Feriendomizil hat genau das Quäntchen Luxus mehr als deine Wohnung, dass es sich wie etwas Besonderes anfühlt, aber nicht einschüchtert. Das Wetter ist traumhaft, der Pool erfrischend. Du gibst zwar im Supermarkt mehr Geld aus als gewöhnlich, aber – hey! Es sind Ferien! Die Kids sind so entspannt wie lange nicht mehr, genau wie du selbst. Und auch die eheliche Romantik erfährt eine höchst zufriedenstellende Wiedergeburt. Es könnte nicht besser sein, denkst du, bis … ja, bis eines Nachts ein älteres Ehepaar vor der Tür deines Ferienhauses steht (das sich nach zwei Tagen tatsächlich bereits anfühlt, als sei es dein Haus) und behauptet, dein Vermieter zu sein. Sichtlich aufgelöst berichten sie dir von diesem plötzlichen Stromausfall in New York, der alles lahmgelegt hat. Und deswegen seien sie hierhergefahren, in ihr Ferienhaus, um dem Chaos in der Metropole zu entkommen. Man könne sich doch gewiss miteinander arrangieren? Nur für eine Weile? Nur so lange, bis man Näheres wisse? Indes – wann wird das sein? Das Internet ist ausgefallen, weder Radio noch TV sind noch verfügbar. Zudem scheinen sich die Tiere unversehens recht ungewöhnlich zu benehmen. Und das ist, wie es aussieht, gerade erst der Anfang …

„Inmitten der Nacht“ (Deutsch von Eva Bonné) war eine wahrlich außergewöhnliches Leseerlebnis. In ebenso bestrickendem wie süffisantem Erzählton entwirft Rumaan Alam ein Szenario, in dem scheinbar (?) unaufhaltsam (?) alles (?) außer Kontrolle gerät. Und meine eigenwillige Interpunktion deutet bereits das Vage, Fragwürdige, Rätselhafte an, das diesen Roman durchzieht. Ich habe bis zur letzten Seite gerätselt, was – und ob überhaupt etwas – vor sich geht. Sind die nächtlichen Besucher die, die zu sein sie vorgeben? Stimmt das, was sie berichten? Ist das, was wirklich erscheint, wirklich „wirklich“? Ich habe „Inmitten der Nacht“ kaum aus der Hand legen können. Aber vielleicht lag das (auch) daran, dass ich den Roman im Urlaub gelesen habe. Bei traumhaftem Wetter. Und in einem Feriendomizil, das ein Quäntchen mehr Luxus hatte als meine Wohnung …

Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 30.04.2022

Erfrischend wie ein Glas Rosé

Die Paradiese von gestern
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„Ein untrügliches Zeichen der Liebe ist wohl, dass es den Liebenden möglich ist, einander anzuschauen, ohne auch nur in die geringste Verlegenheit zu geraten.“ (35)
Sommer 1990. Die Mauer ist gefallen, ...

„Ein untrügliches Zeichen der Liebe ist wohl, dass es den Liebenden möglich ist, einander anzuschauen, ohne auch nur in die geringste Verlegenheit zu geraten.“ (35)
Sommer 1990. Die Mauer ist gefallen, die Grenzen sind offen. Zum ersten Mal in ihrem Leben reisen Ella und René, ein junges ostdeutsches Paar, durch Frankreich. Das Budget ist klein, der Freiheitsdrang umso größer. Unversehens gelangen sie zu dem Schloss der Comtesse de Violet, das diese mit dem einzigen ihr verbliebenen Dienstboten bewohnt. Der einst prunkvolle Bau verfällt zusehends, in dem darin beherbergten Hotel wurden schon seit geraumer Zeit keine Gäste mehr empfangen. Umso erstaunlicher ist es, dass Ella und René ein Zimmer bekommen, ja, mehr noch: Die distanziert-elegante Comtesse erweist dem Pärchen die Ehre, mit ihr dinieren zu dürfen. Das Essen ist vorzüglich, die Atmosphäre unterkühlt – bis Alain, der hitzköpfige Sohn der Gräfin unangekündigt aus Paris anreist und die unterschwellig angespannte Situation zwischen ihm und seiner Mutter eskaliert, wovon auch Ella und René nicht unberührt bleiben. In der Folge reist René mit Alain nach Paris – ohne Ella …

… und mehr möchte ich über den Inhalt des Romans nicht verraten, auch wenn es noch sehr, sehr viel mehr zu erzählen gäbe. Denn Mario Schneiders scheut sich in seinem Romandebüt nicht davor, die ganz großen Themen des Menschseins aufzugreifen: Vergangenheit und Zukunft, Hoffnung und Verzweiflung, Lebenshunger und Lebensüberdruss und – natürlich! – die Liebe, in all ihren Schattierungen. Doch so monumental diese Themen auch sein mögen: Der Autor nimmt sich ihrer mit einer Leichtigkeit und Eleganz an, die so erfrischend ist wie ein Rosé an einem heißen Sommertag – und das, ohne in Banalitäten abzugleiten.

Vielleicht kennt ihr das, dass man sich während der Lektüre eines Buches die Frage stellt, wie eine Verfilmung aussähe. So ging es mir mit „Die Paradiese von gestern“. Doch wenn ich ehrlich bin, bedürfte es dieser gar nicht: Der Roman ist so atmosphärisch, lebendig und plastisch, dass der „Film“ sich ganz von allein vor dem inneren Auge entfaltet.

Zwei kleine Kritikpunkte habe ich indes doch. Zum einen hätte manche Passage und mancher Dialog für meinen Geschmack gerne etwas straffer erzählt werden dürfen. Zum anderen sollte man die an einigen Stellen etwas eigenwillige Interpunktion für die nächste Auflage vielleicht noch einmal überarbeiten.

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