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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.01.2022

Solide Krimiunterhaltung

Neben wem du erwachst
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Es ist ein Alptraum, den Louise erlebt – nur dass sie nicht schläft, sondern soeben erwacht ist. Neben einem Mann. Einem ihr gänzlich unbekannten Mann. Und vor allem: einem toten Mann. An die vergangene ...

Es ist ein Alptraum, den Louise erlebt – nur dass sie nicht schläft, sondern soeben erwacht ist. Neben einem Mann. Einem ihr gänzlich unbekannten Mann. Und vor allem: einem toten Mann. An die vergangene Nacht hat sie – wieder einmal – allenfalls bruchstückhafte Erinnerungen, denn sie hat – wieder einmal – zu viel getrunken. Ihr Versuch, den Leichnam loszuwerden, gelingt ihr nur höchst unzureichend. Schnell gerät sie ins Visier der Ermittler und beschließt, dem tödlichen Rätsel selbst auf den Grund zu gehen. Was ist in jener schicksalshaften Nacht geschehen? Was hat ihre beste Freundin damit zu tun? War ihr Mann Niall tatsächlich, wie er behauptet, auf Geschäftsreise? Und wem kann sie überhaupt noch trauen?

„Neben wem du erwachst“ (aus dem Englischen von Sepp Leeb und Kristian Lutze) ist das, was ich einen soliden Krimi nenne: Auf verschiedenen Zeitebenen und unterschiedlichen Erzählperspektiven erzählt, zieht er seine Leserinnen rasch in seinen Bann. Mit jeder Seite werden die Lebenshintergründe, Umstände und zwischenmenschlichen Beziehungen undurchsichtiger und zwielichtiger, und früher oder später verdächtigt man als Leserin wirklich jede einzelne Figur. Das ideale Buch, um sich in einer spannenden – gleichwohl nicht allzu fordernden – Lektüre zu verlieren, perfekt für einen Lesenachmittag mit Tee und Wolldecke auf dem Sofa!

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Veröffentlicht am 27.12.2021

Bittersüß

Die Puppenspielerin
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„Noch hat sie alle Chancen der Welt, bis zum letzten Atemzug.“ (S. 100)

Die Zwillingsschwestern Sarah und Sophie sind auf das Engste miteinander verbunden. Lieben einander, verstehen sich blind, haben ...

„Noch hat sie alle Chancen der Welt, bis zum letzten Atemzug.“ (S. 100)

Die Zwillingsschwestern Sarah und Sophie sind auf das Engste miteinander verbunden. Lieben einander, verstehen sich blind, haben sich auch als längst erwachsene Frauen mit eigenen Familien und alltäglichen Pflichten ihre eigene, nur ihnen beiden zugängliche Welt kindlicher Phantasie bewahrt, sorgsam gehütet in ihrer gemeinsamen Leidenschaft, dem Puppenspiel. Die eine ersinnt Geschichten voller Zauber, die andere fertigt die Puppen, zusammen erwecken sie ihre verträumten Erzählungen zum Leben. Bis die Realität auf das denkbar Grausamste in ihr Leben einbricht.

Bei Sarah wird Lupus erythematodes diagnostiziert, der körperliche Verfall setzt beinahe augenblicklich ein. Krankenhausaufenthalte und Phasen daheim wechseln einander ab, so rasch, dass die Gefühle kaum damit Schritt halten können. Angst und Hoffnung, Sorge und Freude, das Herz wärmende Erinnerungen und die Seele gefrierende Arztvisiten bestimmen fortan das Leben Sophies wie aller Familienmitglieder. Und niemand weiß, wie lang …

Ich habe selten einen Roman gelesen, in dem ein so bedrückendes Thema so einfühlsam und erschütternd und gleichzeitig so warmherzig und heiter in Worte gefasst wurde. Sibylle Schleichers Ich-Erzählerin Sophie nimmt ihre Leser*innen mit auf eine Reise, die vom ersten Schritt an von dunklen Wolken überschattet ist, und doch bricht sich immer wieder ein unbeugsamer Sonnenstrahl durch das tiefe Grau. Wer je einen geliebten Menschen während einer schweren Krankheit begleitet hat, wird sich in jeder Zeile, in jedem Wort, in jedem einzelnen Gefühl wiederfinden: im Schock und in der Ungläubigkeit, der Ohnmacht und Wut, aber auch in der schier unversiegbaren Hoffnung und Liebe und dem unbändigen Wunsch, ein Wunder zu bewirken. „

Die Puppenspielerin“ ist kein Buch, das man verschlingen, sondern eines, das man wohldosiert auf sich wirken lassen sollte – um der Geschichte dieser beiden Zwillingsschwestern den Raum zu geben, den sie verdient.

Wenn es das Adjektiv „bittersüß“ nicht schon gäbe – für diesen Roman müsste man es erfinden.

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Veröffentlicht am 10.12.2021

Atmosphärisch und fesselnd

Das Meer von Mississippi
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„Dixie Clay dachte darüber nach, dass sie alle den Klang des Nichtregens vergessen hatten oder den Geruch von Nichtgestank.“ (S. 48)

Nach monatelangen, schier endlos scheinenden Regengüssen, die unzählige ...

„Dixie Clay dachte darüber nach, dass sie alle den Klang des Nichtregens vergessen hatten oder den Geruch von Nichtgestank.“ (S. 48)

Nach monatelangen, schier endlos scheinenden Regengüssen, die unzählige vereinzelte Überflutungen verursachten, trat der Mississippi im Frühling 1927 endgültig über seine Ufer. Die eh unzureichenden Dämme brachen und eine Flut, man möchte sagen: beinahe biblischen Ausmaßes ergoss sich über das Mississippi-Delta. Unzählige Menschen verloren ihre Häuser und ihre Heimat, ihre Familien – und das eigene Leben.

Vor dieser historischen Folie spielt die Geschichte von Dixie Clay und Ted Ingersoll im fiktiven Städtchen
Hobnob. Dixie ist die beste Schwarzbrennerin weit und breit (ihr „Black Lightning“ ist legendär), verhaftet in einer lieblos gewordenen Ehe und seit dem Tod ihres Babys ihrer einstigen Lebensfreude beraubt. Ingersoll ist ein ehemaliger Soldat, einst im Waisenhaus aufgewachsen, charakterfest – und nunmehr Prohibitionsagent. Sein Auftrag: Er soll gemeinsam mit seinem Chef zwei seit Wochen vermisste Kollegen ausfindig machen. Deren letzter bekannter Aufenthaltsort ist … Hobnob. Anstelle der verschwundenen Agenten trifft Ingersoll auf den Schauplatz eines Verbrechens, ein elternloses Baby – und Dixie …

„Das Meer von Mississippi“ von Beth Ann Fennelly und Tom Franklin (aus dem Amerikanischen von Eva Bonné) ist ein außerordentlich atmosphärischer Roman, der mich sowohl inhaltlich als auch sprachlich gefangen nahm. Ich habe den immerwährenden Regen gehört, die stets etwas klamme Kleidung, die Stiefel, die gar nicht mehr trocknen wollen, beinahe körperlich spüren können. Dabei gelingt es dem Autorenduo vortrefflich, die unterschiedlichsten Töne anzuschlagen, die sich erstaunlich harmonisch zu einem harmonischen Gesamtwerk fügen. Da ist die unerbittliche Wildheit der entfesselten Natur und die verzweifelte Härte der um ihr Überleben kämpfenden Menschen und zugleich eine schmerzliche Zärtlichkeit der Zuneigung und Fürsorge, der Liebe und Sehnsucht. Episch!

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Veröffentlicht am 01.12.2021

feinsinnig - wie alles von Schlink

Die Enkelin
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Birgit ist tot. Unfall? Freitod? Diese Frage wird sich wohl nie abschließend beantworten lassen. Natürlich hat Kaspar schon seit Langem gespürt, dass es Birgit nicht gut geht. Ihr besorgniserregender Alkoholkonsum. ...

Birgit ist tot. Unfall? Freitod? Diese Frage wird sich wohl nie abschließend beantworten lassen. Natürlich hat Kaspar schon seit Langem gespürt, dass es Birgit nicht gut geht. Ihr besorgniserregender Alkoholkonsum. Ihre unzähligen Vorhaben, die sie letzten Endes doch irgendwann wieder aufgegeben hat. Wie ihr Romanprojekt zum Beispiel. Gab es das überhaupt? Oder war Birgits Rückzug in ihre Schreibstube nichts weiter als ein Vorwand, ungestört trinken zu können?

Als Kaspar sich in der Lage sieht, Birgits Unterlagen durchzusehen, beginnt er zu begreifen, was seine Frau ihre gesamte Ehe hindurch belastet hat: Kurz bevor sie, die ostdeutsche Studentin, zu Kaspar in den Westen floh, hat sei ein Kind bekommen. Eine Tochter, von deren weiterem Schicksal Birgit nichts wusste, eine Tochter, die Birgit nur allzu gern wiedergesehen hätte, doch dazu fehlte ihr der Mut, fehlte die Kraft.

Tatsächlich macht Kaspar die verschollene Tochter seiner Frau ausfindig, eine ehemals gewalttätige, drogenabhängige Rechtsradikale, die nunmehr mit Mann und Tochter in einer sogenannten völkischen Gemeinschaft auf dem Land lebt. Vorsichtig nähert sich Kaspar der Familie, vor allem Birgits Enkelin Sigrun, an, baut behutsam eine Beziehung zu dem jungen Mädchen auf, das in einem ihm fremden, seine Werte ablehnenden Kosmos aufwächst, lädt sie zu sich nach Berlin ein, präsentiert ihr fast beiläufig eine andere Lebenswelt. Und fragt sich, ob und wie lange das gut gehen kann …

Was soll ich sagen? Wenn es darum geht, die jüngere und jüngste deutsche Geschichte sowie die Gegenwart auf feinsinnige, intelligente und gleichzeitig unterhaltsam-fesselnde Weise zu literarisieren, dann ist Bernhard Schlink, man kann es nicht anders sagen, eine sichere Bank. Und dies gilt in besonderer Weise auch für seinen neuesten Roman „Die Enkelin“. Der besondere Reiz – ich möchte fast sagen: Zauber – von Schlinks Erzählkunst liegt in seiner Unaufgeregtheit, seiner feinen Beobachtungsgabe, seinem Blick für Details und kleine Facetten und nicht zuletzt in seiner Begabung, vielschichtige Figuren zu zeichnen. Wie in allen seinen Romanen gibt es auch in „Die Enkelin“ kein Schwarz und Weiß, kein eindeutiges Gut und Böse, keine einfachen oder gar vereinfachenden Antworten auf große Fragen, ebenso wenig gibt es ein fadenscheiniges Happyend – aber einen Schimmer von Hoffnung.

Ganz große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 01.12.2021

Trotz des ernsten Themas unterhaltsam

Das Buch der vergessenen Artisten
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Langweiler 1902. Das Dorf macht seinem Namen alle Ehre. Das findet zumindest der fünfzehnjährige, sensible Mathis, der nicht nur unter den Schikanen seines Vaters und seiner älteren Brüder, sondern auch ...

Langweiler 1902. Das Dorf macht seinem Namen alle Ehre. Das findet zumindest der fünfzehnjährige, sensible Mathis, der nicht nur unter den Schikanen seines Vaters und seiner älteren Brüder, sondern auch an einer Bohnenallergie leidet – miserable Zukunftsaussichten für den jüngsten Spross einer Bohnenbauerfamilie. Das ändert sich schlagartig, als er auf einem Jahrmarkt Meister Bo und dessen Attraktion, einen Röntgenapparat, sieht. Für Mathis steht fest: Genau das will er auch! Weg von Langweiler, hinaus in die weite Welt – oder wenigstens das, was er sich darunter vorstellt – von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen und vor allem: den Röntgenapparat bedienen.

Berlin, 1935. Nach mehr als 30 aufregenden Jahren als Schausteller ist Mathis in einer Wohnwagensiedlung in Berlin gestrandet, gemeinsam mit seiner Freundin, der „Kraftfrau“ Meta, und deren gehandicaptem Bruder. Die Zeiten sind denkbar düster für Artisten, Gaukler, Schausteller und alle, die nicht den neuen, menschenverachtenden Normen entsprechen. Die Aufträge werden rarer, die Lebenssituation zusehends prekärer, und immer öfter „verschwindet“ einer ihrer Nachbarn über Nacht, verschwindet aus ihrer Gemeinschaft, ihrem Leben – und irgendwann aus dem Gedächtnis. In dieser immer bedrohlicheren Situation beschließt Mathis, einen langgehegten Plan in die Tat umzusetzen: Er wird ein Buch schreiben, ein Buch über all jene, die schon verschwunden sind, an die man sich kaum noch erinnert – das Buch der vergessenen Artisten. Doch das ist ein gefährliches Unterfangen …

Mit seinen mehr als 750 Seiten ist „Das Buch der vergessenen Artisten“ ein wahrer Wälzer – indes einer, dessen Umfang man während der Lektüre kaum merkt, so fesselnd ist die auf zwei Zeitebenen erzählte Geschichte des Schaustellers Mathis. Vera Buck nimmt sich belletristisch – will sagen: unterhaltsam, ja beinahe leichtfüßig – eines dunklen Kapitels deutscher Geschichte an, ohne dabei den ernsten Hintergrund je aus den Augen zu verlieren oder ihn gar zu banalisieren. So gelingt es ihr, die Aufmerksamkeit auf eine von den Nationalsozialisten verfolgte Personengruppe zu lenken, deren Schicksal vermutlich vielen nicht allzu präsent sein dürfte. „Das Buch der vergessenen Artisten“ entführt seine Leser*innen in eine andere Zeit, eine andere Welt, und vor allem bewirkt es genau das, was sein Titel verheißt: Es erinnert an all die vergessenen Artisten. Für mich das perfekte Buch für lange Winterabende – und ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für all jene, die gerne historische Romane lesen.

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