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Veröffentlicht am 18.11.2022

Zwischen Empfindsamkeit und Düsternis

Die Spur der Luchse
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Ein bezaubernder Spätsommer in Småland: Die Temperaturen sind außergewöhnlich mild, die Bäume leuchten in den prächtigsten Farben, die Idylle könnte größer nicht sein, wenn – ja, wenn der verzaubert anmutende ...

Ein bezaubernder Spätsommer in Småland: Die Temperaturen sind außergewöhnlich mild, die Bäume leuchten in den prächtigsten Farben, die Idylle könnte größer nicht sein, wenn – ja, wenn der verzaubert anmutende Wald nicht Schauplatz einer großangelegten Protestaktion wäre. Junge Aktivisten protestieren gegen die mögliche Rodung des Naturschutzgebiets, die Lage ist nicht nur angespannt, sondern geradezu explosiv.

In dieser politisch aufgeladenen Situation erreicht die Polizei Växjö ein dramatischer Notruf: Eine Lehrerin des nahegelegenen exklusiven Internats meldet einen Kollegen und vier Schüler*innen als vermisst; alle verschwanden spurlos während einer Exkursion in eben diesem Wald. Bei der fieberhaften Suche stößt man auf eine der Schülerinnen, nicht ansprechbar und offenbar schwer traumatisiert. Bei diesem einen Fund soll es nicht bleiben …
Vor genau einem Jahr habe ich den Vorgängerband „Roter Raum“ der Schwedenkrimi-Reihe um die Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss gelesen. Schon da faszinierten mich die bestrickende Atmosphäre und die Vielschichtigkeit des Romans. Dieser Band steht seinem Vorgänger in nichts nach: Der Fall nimmt sowohl in menschlicher als auch in gesellschaftlich-politischer Hinsicht ungeahnte Dimensionen an; desgleichen wird den beiden Protagonistinnen erneut der nötige Raum für ihre unterschiedlichen Charaktere, ihre Stärken und vor allem auch Schwächen geboten, was den Hauptfiguren eine unverwechselbare Tiefe verleiht. Überdies gelingt dem Autorenduo erneut der fragile Spagat zwischen Empfindsamkeit und Düsternis.

Kurzum: Nicht nur dieser Band, sondern die gesamte Reihe gehören für mich zu den gelungensten Skandinavienkrimis, die der deutsche Buchmarkt derzeit bereithält. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 18.11.2022

Eine insgesamt gelungene Fortsetzung der Reihe

Was ich euch verschweige
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So hat Detective Chief Inspector Jonah Sheens sich seinen Nachmittag wahrlich nicht vorgestellt: Als er mit seiner kleinen Tochter die ungewöhnlich warme Septembersonne in einem Biergarten genießt, wird ...

So hat Detective Chief Inspector Jonah Sheens sich seinen Nachmittag wahrlich nicht vorgestellt: Als er mit seiner kleinen Tochter die ungewöhnlich warme Septembersonne in einem Biergarten genießt, wird er unvermutet zum Protagonisten einer höchst besorgniserregenden Szene: Eine junge Frau taumelt ihm entgegen, langes, leuchtend rotes Haar, blasses Gesicht, Hände, Arme und T-Shirt über und über mit Blut verschmiert. Doch irritierenderweise wirkt Keely Lennox, so stellt sie sich vor, desungeachtet ziemlich gelassen, wenn nicht sogar amüsiert. Ihre Schwester Nina sei verschwunden, teilt sie ihm mit. Sheens ist beunruhigt – und stellt sich gleichzeitig die Frage, inwieweit Keely an diesem „Verschwunden“ beteiligt sein mag. Ist sie eine Zeugin? Selbst ein Opfer? Oder gar – die Täterin?

Keely erklärt sich bereit, alle seine Fragen zu beantworten. Aber erst, nachdem sie ihre Geschichte erzählt. Nach und nach enthüllt sie Sheene immer verstörender werdende Details ihrer Vergangenheit. Doch sagt sie auch die Wahrheit? Derweil bleiben Ninas Aufenthaltsort und Zustand trotz der fieberhaften Ermittlungen seines Teams ungewiss. Und die Zeit verrinnt …

„Was ich euch verschweige“ (aus dem Englischen von Kristian Lutze) ist der nunmehr vierte Band der „Detective Chief Inspector Sheens ermittelt“-Reihe (allerdings lassen sich die Bände relativ problemlos unabhängig voneinander lesen). Wieder gelingt es Gytha Lodge, die Spannung kontinuierlich aufzubauen und die Story mit immer neuen Wendungen in eine unvermutete Richtung zu lenken. Das ist vor allem der Figur der Keely zu verdanken, deren Undurchsichtigkeit und Widersprüchlichkeit die gesamte Handlung trägt.

Mein einziger Wermutstropfen war die für mich etwas verworrene Auflösung in Verbindung mit einem letztlich doch recht banalen Ende. Nichtsdestotrotz bietet „Was ich euch verschweige“ über den Großteil der Lektüre hinweg spannende und kurzweilige Krimiunterhaltung!

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Veröffentlicht am 04.11.2022

Wie eine literarisch gelungene "Royals"-Sonderbeilage

Sisi
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Zum Frühstück eine Brühe aus Rindfleisch, Huhn, Reh und Rebhuhn – ohne einen einzigen Fetzen Fleisch, nur die klare Brühe! – und danach zwei Gläser Wein. Zum Diner, wenn es sich denn partout nicht vermeiden ...

Zum Frühstück eine Brühe aus Rindfleisch, Huhn, Reh und Rebhuhn – ohne einen einzigen Fetzen Fleisch, nur die klare Brühe! – und danach zwei Gläser Wein. Zum Diner, wenn es sich denn partout nicht vermeiden lässt, etwas kleine Blutiges, etwas knirschendes Grünes, nicht mehr, als auf zwei Gabeln passt. Wenn während der Coiffure auch nur ein einziges Haar zu viel ausgekämmt wird, setzt es Ohrfeigen. Für die Friseurmeisterin, verabreicht von Ihro Majestät höchstpersönlich. Ansonsten: reisen, Geld ausgeben, sich huldigen lassen und immer wieder jagen, jagen, jagen, je wilder, desto besser.

Nein, diese Sisi hat wahrlich nichts von der Zuckrigkeit eines Ernst-Marischka-Films und dem Liebreiz einer Romy Schneider. Stattdessen wird hier eine einzig um sich selbst kreisende, von ihrem Haar und ihrer Schönheit besessene Egomanin porträtiert, in deren Herz allenfalls ihre Lieblingstochter Valerie noch einen Platz findet. Oder …? Oder präsentiert Karen Duve einen rebellischen Freigeist, eine Libertine, die das lähmende Korsett des rigorosen spanischen Hofzeremoniells am Wiener Hof abwirft (wenngleich nicht jenes, das ihre Taille zu legendärer Schmalheit zusammenschnürt) und tut, was ihr beliebt? Eine Frau, die unbeirrt ihren Weg geht und sich nimmt, was sie will und was sie braucht?

Wie auch immer man diese Sisi nach der Lektüre betrachtet, es ist mit großer Sicherheit ein neuer Blick, den man auf dieses ätherisch anmutende Geschöpf von einer Monarchin gewinnt. Ich habe das Buch mit großem – und ein wenig schuldbewusstem – Genuss gelesen (auch wenn die zahlreichen und ausführlichen Jagdpassagen nach meinem Geschmack gerne hätten gekürzt werden dürfen): als läse man eine umfangreiche, ausführliche Sonderbeilage eines Boulevardmagazins –gleichwohl eine sprachlich elegante und penibel recherchierte. Ein literarisch überzeugendes und gleichzeitig unterhaltsames guilty pleasure.

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Veröffentlicht am 27.10.2022

Ein wahrer und wahrhaftiger Ausnahmeroman

Die Königin von Troisdorf
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„Oma Lena ist kleiner als die meisten Menschen, doch sie schafft es, selbst auf Menschen herabzusehen, die drei Köpfe größer sind als sie.“

Troisdorf in den 60ern. Die Oma: unangefochtene Herrin im Haus, ...

„Oma Lena ist kleiner als die meisten Menschen, doch sie schafft es, selbst auf Menschen herabzusehen, die drei Köpfe größer sind als sie.“

Troisdorf in den 60ern. Die Oma: unangefochtene Herrin im Haus, Matriarchin, die titelgebende „Königin von Troisdorf“. Die Mutter: stets überarbeitet, stets auf dem Sprung, aufgerieben im familieneigenen Fotoatelier, das ihr und der gesamten Familie einen stetig wachsenden Wohlstand beschert (was sich indes nicht zwangsläufig in komfortablen Lebensumständen niederschlägt). Der Vater: ein ewig Gestriger, der seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter ungesunden Mengen an Alkohol und Nikotin vergräbt. Die Tante: kinder- und anspruchslos. Der Onkel: nun ja, der ist auch noch da. Und dazwischen der kleine Andreas: einziges Kind, einziger Enkel. Doch das bedeutet keineswegs, dass ihm das in irgendeiner Weise eine Vorzugsstellung in dieser wortkargen und gefühlsarmen Familie einbrächte.

Der damaligen Devise folgend, Kinder solle man sehen, aber nicht hören, betrachtet er mit großen Augen die Erwachsenen um sich herum, beobachtet ihr bisweilen irritierendes Gebaren, versucht, möglichst nichtaufzufallen. Zuwendung, Zuspruch, Zärtlichkeit sind keine Werte, die in dieser Familie – die man zweifelsohne als exemplarisch für jene Zeit betrachten darf – gelebt würden. Dazu ist jede und jeder Einzelne zu sehr damit beschäftigt, die eigene, individuelle Versehrtheit zu leugnen. Und doch erlebt Andreas immer wieder wunderbare Augenblicke in dieser gleichgültigen Welt, Momente unverhoffter Freude, Sonnenstrahlen im Alltagsgrau, die ob ihrer Seltenheit kostbar sind – und unvergesslich.

„Die Königin von Troisdorf“ ist eines meiner diesjährigen Lesehighlights. In seinem Debütroman entfaltet Andreas Fischer nicht nur eine drei Generationen umfassende Familiengeschichte, sondern zugleich ein Gesellschaftspanorama des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Erzählstil ist nicht linear und chronologisch, sondern assoziativ: Erinnerungen eines sieben-, zwölf- oder zehnjährigen Jungen verzahnen sich mit fiktionalisierten Erzählungen über die Familie sowie Abschriften erhaltener Dokumente, Briefe, Ansichtskarten und Feldpost. Dabei gelingt es dem Autor meisterhaft, die einzelnen Passagen zu einem wirkungsvollen Gesamtbild zu montieren: einfühlsam, aber nicht sentimental, melancholisch, aber nicht larmoyant, ungeschönt, aber nicht erbarmungslos. Kurzum: ein wahrer und wahrhaftiger Ausnahmeroman!

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Veröffentlicht am 07.09.2022

Verstörend und zugleich brillant

Die Odyssee
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"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."

Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop ...

"Alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi."

Ingrid lebt und arbeitet seit fünf Jahren auf dem Kreuzfahrtschiff „WA“. Mal verkauft sie im Souvenirshop irgendwelchen Tinnef, mal hat sie die Aufsicht am Pool, mal lackiert sie den Gästen im Beautysalon die Nägel. Wenn Ingrid zwischendurch Landgang hat, endet der regelmäßig in einem kapitalen Besäufnis. Und wenn sie sich nach Geborgenheit sehnt, spielt sie mit ihren Lieblingskolleg*innen Familie. So weit, so eintönig.

Dann jedoch wird Ingrid von Keith, seines Zeichens nicht nur Kapitän des Schiffs, sondern auch eine Art selbsternannter Guru, für ein befremdliches Mentoringprogramm ausgewählt (um nicht zu sagen: ausERwählt). Seine Bedingung: Ingrid muss sich intensiv mit ihrer Vergangenheit, mit allen Ereignissen, die sie letztlich auf dieses Schiff gespült haben, auseinandersetzen. Und das ist nicht nur überaus bizarr, sondern für Ingrid auch äußerst schmerzhaft (nicht nur in seelischer Hinsicht). Je weiter das fragwürdige Programm fortschreitet, umso mehr bröckelt Ingrids eh nicht besonders stabile Fassade – und merkwürdigerweise auch die des Schiffes.

Selten hat mich ein Roman so fasziniert und zugleich verstört wie dieser, und das aus folgendem Grund:

Natürlich lässt sich „Die Odyssee“ (aus dem Englischen von Eva Bonné) als genau das lesen, was ich beschrieben habe (bzw. was auch der Klappentext in etwa wiedergibt).

Doch mich ließ während der gesamten Lektüre das Gefühl nicht los, dass es so simpel nicht ist bzw. nicht sein kann. Wird hier wirklich nur von einer einsamen, verlorenen Frau, die auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, erzählt? Ist Keith wirklich nur ein Kapitän mit abwegigen Personalentwicklungsmaßnahmen? Und ist das Kreuzfahrtschiff wirklich nur ein Kreuzfahrschiff und die Reise nur eine Reise? Oder ist all das als Parabel zu sehen, gar als symbolische Verbrämung von – ja, von was eigentlich? (Einer Therapie? Eines Traums? Einer Vision? Eines Drogentrips?)

Für mich ein absoluter Ausnahmeroman und ein Highlight; allerdings könnte ich mir vorstellen, dass das Buch nicht jedermanns Geschmack trifft.

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